Gedichte als Texte, d.h. als kommunikatives Geschehen verstehen
Warum fällt es Schülern oft schwer, Gedichte zu verstehen? Es gibt doch Einführungen in die Theorie der Lyrik, zum Beispiel die der Uni Essen (http://www.uni-essen.de/literaturwissenschaft-aktiv/Vorlesungen/lyrik/main.htm); dazu gibt es Übersichten über die rhetorischen Figuren (Basiswissen Schule: Literatur, hrsg. von Detlef Langermann. 2002, S. 139 ff., worauf man auch im Netz unter www.schuelerlexikon.de, dort unter „Literatur“, dort unter 2.3.4 „Stilmittel der Lyrik“ zugreifen kann). Ferner gibt es Anleitungen, wie man verständig mit Gedichten umgehen kann, z.B. in diesem Blog „Gedichte analysieren (Methode der Gedichtanalyse)“, wiederum mit vielen Links.
Trotz solcher Hilfen fällt es Schülern schwer, Gedichte zu verstehen. Ein Hauptgrund dafür ist meines Erachtens, dass zwar regelmäßig gefordert wird, man müsse den Aufbau beachten, dass aber nicht klar ist, was man dabei tun soll. (Man kann die Wendung „Aufbau eines Gedichts“ in die Suchmaske einer Suchmaschine eingeben oder meinen Links folgen und einmal dem Verständnis von „Aufbau eines Gedichts“ nachgehen:
http://www.schule-am-pc.de/Lyrik/Gedichtanalyse/gedichtanalyse.html
http://www.42.org/~sec/own/handout.html
www2.digitale-schule-bayern.de/dsdaten/8/511.pdf (Enzensberger)
http://www.literatur-wissen.de/Studium/Gedichtinterpretation/gedichtinterpretation.html
http://lrc-web.modlang.ohiou.edu/lrc/poetry/KATZ/Hilfen/Gedichtinterpretation/body_gedichtinterpretation.html
http://www.gallowsbird.de/gedichte.php?gedid=gedicht
http://www.muenster.org/mauritz/projekte_in/Storm_Gedicht/Storm_Gedicht.html)
Einer der Hauptgründe für die Schwierigkeiten besteht vermutlich darin, dass unter dem Aufbau eines Gedichtes nicht von allen Lehrern oder Germanisten das Gleiche verstanden wird. Untersuche selber, was man alles unter „Aufbau eines Gedichtes“ versteht, indem du die gerade genannten Links/Texte noch einmal unter dieser Fragestellung liest!
Ich möchte einen einfachen Weg zum elementaren Verständnis von Gedichten als Texten vorschlagen und den Begriff des Aufbaus von den formalen Elementen eines Gedichts trennen; wenn man diesen Weg geht, wird man viele rhetorische, literaturgeschichtliche und formale Blüten am Wegesrand zunächst nicht beachten, sondern deren Betrachtung auf später verschieben – zuerst muss man auf dem Weg zum Verständnis des Gedichtes als Text bleiben. Dieser Weg geht vom Sprecher des Gedichtes aus und folgt seinem sprachlichen Handeln bis ans Ende der Äußerung. Man könnte auch sagen: Man muss das Gedicht als kommunikatives Geschehen begreifen. Vorbereitet habe ich das Verständnis dieses Weges in den Aufsätzen „Analysieren – Vorüberlegungen zu einer Theorie“ und „Grundbegriffe sprachlichen Handelns“, alle in diesem Blog. (Vgl. auch R. Bergmann – P. Pauly – St. Stricker: Einführung in die deutsche Sprachwissenschaft, 3. A. 2001, Kap. X und XI; A. Linke – M. Nussbauer – P. Portmann: Studienbuch Linguistik, 5. A. 2004, S. 193 ff.)
Der entscheidende theoretische Begriff ist der des sprachlichen Handelns bzw. der Sprechakte [http://www-user.uni-bremen.de/~schoenke/tlgl/tlgldl2.html;
http://de.wikipedia.org/wiki/Sprechakte;
http://teachsam.de/arb/arb_targ3.htm (sehr simpel)
http://userpage.fu-berlin.de/~hagen66/01/ling-pragma.htm].
Im Gedicht sagt also der Sprecher (nicht der Dichter!) nicht nur etwas, sondern er tut etwas, indem er zu seinem fiktiven Hörer oder seinen fiktiven Hörern (nicht zum Leser!) spricht; im fiktiven Zeitraum des Sprechens trägt der Sprecher seine Äußerung vor. Die durch dieses Modell ermöglichten Leitfragen lauten:
* Wer oder was ist der Sprecher?
* Zu oder mit wem spricht der Sprecher?
* In welcher Situation ist der Sprecher (und/oder der Hörer)?
* Worüber spricht er dabei?
* Was tut er, indem er so spricht?
[Eine weitere, gerade für das Gedicht als Gedicht wichtige Frage wäre: „Wie spricht er?“ Aber damit wollen wir uns heute nicht befassen, wir beschränken uns zunächst aufs Elementare.]
In das sprachliche Handeln können auch „rhetorische Figuren“ hineinspielen; so könnte ein Sprecher durch Wiederholung etwas eindringlich darstellen oder seinen Zorn zeigen, durch ironische Bemerkungen spotten, durch rhetorische Fragen oder Übertreibungen jemanden angreifen usw. – dann gehören diese Figuren nicht zum „Schmuck“ eines Gedichtes, sondern zum Sprechakt und sollten dort berücksichtigt werden. Das gilt ebenso für Reime, soweit sie zum „Sinn“ der Äußerung beitragen und nicht bloß einen Gleichklang bilden. Auch Tempo und Lautstärke des Sprechens sowie die Melodie der Stimme (Höhe, Pathos) sind durch den Sprechakt bedingt und können nur von ihm her erschlossen und gestaltet werden.
Mit dieser Sicht auf das Gedicht als Text fängt das Verstehen an; ich übe sie ab Klasse 5 in meinem Unterricht ein. – Ich habe im Folgenden einige Gedichte, die im Netz zugänglich sind, nach drei Graden der Komplexität geordnet. Ich nenne zuerst diese Gedichte und führe dann an zwei Gedichten des zweiten und dritten Schwierigkeitsgrades vor, wie die Leitfragen beantwortet werden können.
1. Einfache Gedichte
* E. Kästner: Sachliche Romanze, z.B.: http://www.joerg-gessner.de/prv/zitate/erich_kaestner/kaestner02.html
Das ist eine Erzählung, mit Situierung in der 1. Str.
* E. Mörike: Septembermorgen, z.B. http://www.gedichte.co/moe_e08.html
Ein Sprecher beschreibt das, was er (noch) sieht, und das, was der Hörer bald sehen wird.
* St. George: Komm in den totgesagten park, z.B. http://www.deanita.de/herbst_george.htm
Das ist eine Serie von Aufforderungen, an einen Hörer gerichtet.
* W. Busch: Der volle Sack, z.B. http://meister.igl.uni-freiburg.de/gedichte/bus_w02.html
Das ist eine (indirekt) lehrhafte Erzählung vom Dialog eines eingebildeten Sacks mit den Ähren, mit einleitender Situierung.
2. Zweiteilung im Gedichtaufbau
* R. M. Rilke: Herbsttag, z.B. http://meister.igl.uni-freiburg.de/gedichte/ril_rm05.html
Der Sprecher betet zu Gott, anschließend reflektiert er die Situation der „jetzt“ Einsamen (letzte Str.).
* J. Krüss: Das Feuer, z.B. http://www.mittelschulvorbereitung.ch/content_new/ssv/TE55fFeuer.pdf
Hier fragt jemand den Zuhörer, ob er auch alles vom Feuer wahrnimmt; am Ende berichtet er vom Verlöschen des Feuers.
* E. Kästner: Herr im Herbst, z.B. hier (dort das 2. Gedicht)
Hier beschreibt einer, was er beim Gang durch eine verregnete Stadt wahrnimmt; zwischendurch reflektiert und bewertet er es.
* G. Keller: Abendlied, z.B. http://www.kreudenstein-online.de/Bestattungskultur/poesie/abendlied.htm
Es spricht jemand die eigenen Augen (und damit sich selbst) an, mit eingeschobenem Vorausblick auf den Tod.
* Th. Fontane: Die Brücke am Tay, z.B. http://meister.igl.uni-freiburg.de/gedichte/fon_t13.html
Eine Erzählung vom Zugunglück an der Brücke, mit einem rahmenden Bericht zweier Gespräche der Hexen. [In Goethes Ballade „Der Fischer“ ist es umgekehrt so, dass der Bericht über die Begegnung des Fischers mit der Meerfrau den Rahmen bildet, innerhalb dessen ihr Gespräch wörtlich berichtet wird; ebenso ist es in Goethes Ballade „Erlkönig“, wo das berichtete Geschehen wieder der Rahmen ist, in dem die Gespräche wörtlich berichtet werden.]
* Th. Storm: Im Herbste, z.B. http://meister.igl.uni-freiburg.de/gedichte/sto_t05.html
Innerer Dialog eines alternden Mannes mit seiner Frau, mit einleitender Beschreibung der Situation (schon komplexer).
* F. Nietzsche: Vereinsamt, z.B. http://meister.igl.uni-freiburg.de/gedichte/nie_f03.html
Hier wird ein „Vogel“ angesprochen, mit Beschreibung eines frühen Wintertages zu Beginn und am Ende (schwierig wegen der Bilder).
3. Komplexe Gedichte
* E. Kästner: Der Handstand auf der Loreley, z.B. http://www.weiterbildungskolleg-duisburg.de/deutsch/seite11.htm
Ortsbeschreibung, einleitender Kommentar zu Heldensagen heute, Erzählung, Schlusskommentar
* K. Tucholsky: Augen in der Großstadt, z.B. http://meister.igl.uni-freiburg.de/gedichte/tuc_k.html
Beschreibung einer alltäglichen Erfahrung, Reflexion, Belehrung des Du, mit eingeschobenem Refrain
* M. Claudius: Abendlied , z.B. http://meister.igl.uni-freiburg.de/gedichte/cla_m02.html
Beschreibung einer abendlichen Landschaft, Belehrung der Hörer, Bekenntnis (das Ich einschließend), Gebet; zum Schluss fordert der Sprecher die (Glaubens)Brüder auf, getrost zu schlafen, und bittet Gott um dessen Huld.
(Lösungen gibt es in meinen Analysen „Gedichte“ bei https://norberto42.wordpress.com, jeweils unter der Kategorie „Gedichte“.)
4. Überkomplexe Gedichte: Als Beispiel nenne ich Goethes „Marienbader Elegie“, die man ohne Analyse des Aufbaus (also rein in der „inhaltlichen“ Abfolge der Strophen) überhaupt nicht versteht.
1. Beispiel
Nietzsche: Vereinsamt
Wer oder Was ist der Sprecher? Es ist ein nicht greifbares Ich, das sich an ein Du wendet (und deshalb „ich“ sein muss). Das Du wird in der 2. bis 5. Strophe direkt angesprochen, ist aber in der 1. und 6. Strophe jeweils mit gemeint.
Was tut der Sprecher? Zunächst beschreibt das Ich eine vorwinterliche Situation außerhalb der Stadt (V. 1 f.) und äußert die Erwartung, dass es bald schneien wird (V. 3); darauf folgt eine allgemeine Seligpreisung derer, die „jetzt noch“, also in dieser kalten Zeit Heimat haben. Danach wendet das Ich sich an das unbekannte Du und beschreibt mitfühlend dessen Situation (V. 5 f.), worauf es, anknüpfend an dessen Schauen, vorwurfsvoll fragt, warum das Du denn überhaupt [aus der Stadt?] in „die Welt“ entflohen sei. Es greift dieses Stichwort auf und erklärt, was „Welt“ bedeutet (V. 9 f.); dann folgt eine Erklärung, warum das Du nirgends Halt machen kann oder darf (V. 11 f., entgegen dem, was es zu tun versucht, V. 5 f.). Mit dem folgenden „Nun“ (V. 13) knüpft das Ich in einer zweiten Beschreibung der Situation des Du an V. 5 sowie an die 1. und 3. Strophe an (V. 13 f.) und erklärt (begründet) die innere Logik des Weiterwandernmüssens mit dem Rauch-Vergleich (V. 15 f.). Gemäß dieser Logik fordert der Ich-Sprecher das als „Vogel“ (und damit Anti-Krähe) bezeichnete Du auf, zu fliegen (statt weiter zu zögern) und seinen Schmerz zu verbergen (5. Strophe). In der 6. Strophe wiederholt das Ich seine Landschaftsbeschreibung, nur mit dem Unterschied, dass jetzt sein Weherufe alle (und damit auch das Du) trifft, die keine Heimat haben.
Der Sprecher spricht also über die Situation der Welt vor Wintereinbruch und stellt dem Krähenflug zur Stadt die Notwendigkeit entgegen, dass das Du seinen Aufbruch in die Welt konsequent zu Ende führt; er fordert das Du dazu auf, wobei unklar bleibt, ob er Mitleid mit dem Du hat (V. 3 f.; 23 f.) oder dort nur allgemein erklärt, was es bedeutet, (keine) Heimat zu haben.
2. Beispiel
M. Claudius: Abendlied
Das Ergebnis kann man in meinem Aufsatz „Matthias Claudius: Abendlied – Analyse“ nachlesen.
Einschränkungen zum Schluss
1. Kann auch die pure Gedichtform (Ivo Braak: Poetik in Stichworten. 7. Aufl. 1990, S. 152 ff.) von Bedeutung sein? Das gilt meistens für Sonette
[http://de.wikipedia.org/wiki/Sonett
http://www.sonett-archiv.com/index2.html];
das gilt für alle Gedichte, die wesentlich durch ihre Form bestimmt sind, zum Beispiel
* Abc-Gedichte (James Krüss erzählt z.B. seinen Lebenslauf, orientiert sich dabei mit dem ersten Buchstaben eines jeden Verses aber auch am Alphabet:
http://www.krimi-forum.net/Datenbank/Autor/fa000762.html).
* I. Bachmann: Reklame, z.B.
http://words.piranho.com/bachmann-ingeborg_reklame.html
Hier liegt eine Montage zweier Texte vor.
* Auch die konkrete Poesie muss hier genannt werden, etwa Gomringer (http://www.brown.edu/Research/dichtung-digital/SS02/schweigen.htm).
* Andere Beispiele wären etwa Peter Handke: Die drei Lesungen eines Gesetzes (hier), oder das Bildgedicht „Die Trichter“ von Christian Morgenstern.
* Beim Akrostichon muss die Abfolge der ersten Buchstaben der Verse einen Namen oder Spruch ergeben; ich verweise auf ein Beispiel eines früheren Kollegen, Friedhelm Schmitz (http://www.keinverlag.de/texte.php?text=139747).
* Eine gute Übersicht über viele Möglichkeiten, den Aufbau eines Gedichtes primär über die Form zu gestalten, bietet das Buch „Das Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen. In 164 Spielarten vorgestellt von Andreas Thalmayr“ (von Hans Magnus Enzensberger, Nördlingen 1985).
2. Eine weitere Einschränkung muss gemacht werden: Manche Texte erschließen erschließen sich erst ganz oder teilweise über ihren Bezug zu anderen Texten; das gilt nicht nur für Parodien, sondern auch für Gedichte, die oft unter dem Titel „Replik“ oder „Widerlegung und Weiterführung“ zusammengestellt werden, zum Beispiel
* Bertolt Brecht: Fragen eines lesenden Arbeiters
(http://www.sozialistische-klassiker.org/Brecht/Brecht16.html), und
* Volker Braun: Fragen eines regierenden Arbeiters.
Dieser Aspekt wird heute unter dem Begriff der Intertextualität besprochen
(http://www.uni-essen.de/literaturwissenschaft-aktiv/Vorlesungen/epik/intertextg.htm http://www.jolifanto.de/intertext/intertextualitaet.htm u. a.). Hierhin gehört auch das Phänomen der Parodie.
3. Aus Romanen kenne ich auch eine seltsame Konstellation: Der Autor führt einen beschränkten Erzähler ein (Don Quijote, Huckleberry Finn), wobei der Leser bald merkt, dass es eher um die verrückte Perspektive des Erzählers (Don Q.) und die darin erschlossene Welt (H. Finn) als um eine Kommunkation des Erzählers mit irgendwelchen Hörern geht. Der Leser wird direkt vom Autor eingeladen, zu diesem Quark Stellung zu beziehen oder herzhaft zu lachen; bei Gedichten denke ich etwa an Morgensterns unsterbliches Gedicht „Die unmögliche Tatsache“ (http://www.wspiegel.de/kurs/morgenstern.htm).
Zusammenfassend kann man also sagen, dass viele Gedichte seit dem Sturm und Drang als kommunikatives Geschehen zwischen Sprecher und Hörer verstanden werden müssen, dass es aber auch andere Prinzipien gibt, die den Aufbau von Gedichten bestimmen können – dass es jedoch durchweg nicht ausreicht, die Anzahl der Strophen und Verse zu zählen sowie die Reimform zu bestimmen, wenn man ein Gedicht verstehen will.
* Es gibt eine Variation dieses Aufsatzes als Beitrag bei lehrer-online; ich danke Gabi Netz für ihre Arbeit: http://www.lehrer-online.de/gedichte-verstehen.php; ich habe zu einem Gedicht, das im bayerischen Abitur untersucht werden sollte, noch einen Exkurs zum Thema geschrieben.
Einen kleinen Aufsatz darüber, wie man die Klangform bzw. den Rhythmus eines Gedichts ermittelt, habe ich veröffentlicht unter https://norberto68.wordpress.com/2010/11/30/die-klangform-des-gedichts/
Links zu Texttheorie / Einheit / Struktur des Textes:
http://phil.muny.cz/data/NJII_275/Text%20und%20Satz.doc
http://www.lingue.uniba.it/dag/pagine/personale/sasse/sasse_lingua02_unit11.doc
http://www.slm.uni-hamburg.de/ifg1/Personal/Schroeder/Seminarmaterial/WS-06-07/Sem_II/II_Textlinguistik.pdf
sowie mein Aufsatz https://norberto68.wordpress.com/2011/01/12/text-koharenz-thema/
——————————————————————————————————-
Überarbeitete Fassung des theoretischen Teils des Aufsatzes:
Gedichte verstehen – eine methodische Anleitung
Grundlage des Verstehens ist die Einsicht, dass ein Gedicht ein fiktionaler Text ist. Was heißt das? Das Gedicht ist als fiktionaler Text in der Regel nicht direkt an Leser gerichtet, sondern eher ein Text für sich, meinetwegen ein Kunstwerk. Man macht sich das am besten im Bild von zwei Ebenen klar, die übereinander geschichtet sind:
Realität:
Irgendwo/wann: Dichter schreibt – Leser, lesen das Gedicht später
(Zwischen Dichter / Leser steht ein Verlag, ein Buch usw. als Vermittler: Gedicht plus Überschrift)
Fiktion:
Situation: Jemand, oft nicht als Figur greifbar, sagt etwas – zu einem Hörer
(Das ist der Text des Gedichtes, ohne Überschrift.)
Was der Dichter vielleicht, wenn überhaupt „sagen“ will und was die Leser tatsächlich lesen („Rezeption“), sind zwei verschiedene Dinge; die Leser sind zunächst auf das aus, was der Sprecher des fiktionalen Textes sagt.
Wir bewegen uns zunächst nur in der unteren Ebene, im fiktionalen Text. Ich möchte einen Weg zum elementaren Verständnis von Gedichten als Texten vorschlagen und den Begriff des Text-Aufbaus von den formalen Elementen des Gedichts trennen; wenn man diesen Weg geht, wird man viele rhetorische, literaturgeschichtliche und formale Blüten am Wegesrand zunächst nicht beachten, sondern deren Betrachtung auf später verschieben – zuerst muss man auf dem Weg zum Verständnis des Gedichtes als Text bleiben. Dieser Weg geht vom Sprecher des Gedichtes aus und folgt seinem sprachlichen Handeln bis ans Ende der Äußerung. Man könnte auch sagen: Man muss das Gedicht als kommunikatives Geschehen begreifen. Die hier verwendeten theoretischen Begriffe sind der des sprachlichen Handelns bzw. der Sprechakte und der des Gesprächs bzw. der Gesprächssituation.
Im Gedicht sagt also der Sprecher (nicht der Dichter!) nicht nur etwas, sondern er tut in einer fiktiven Situation etwas, indem er zu seinem fiktiven Hörer oder seinen fiktiven Hörern (nicht zum Leser!) spricht; im fiktiven Zeitraum des Sprechens trägt der Sprecher seine Äußerung vor. Die durch dieses Modell ermöglichten Leitfragen lauten:
* Wer oder was ist der Sprecher?
* Zu oder mit wem spricht der Sprecher?
* In welcher Situation äußert sich der Sprecher, in welche Situation hinein spricht er?
* Worüber spricht er dabei?
* Was tut er, indem er so spricht?
[Mit diesen Fragen kann man das erfassen, was man unscharf „das Thema“ nennt und was meistens als eine Umschreibung des Inhalts angeboten wird. – Eine weitere, gerade für das Gedicht wichtige Frage wäre: „Wie spricht der Sprecher?“ Aber damit wollen wir uns jetzt noch nicht ausdrücklich befassen.]
Hierbei wird vorausgesetzt, dass alle Wörter des Textes bekannt sind; unbekannte oder ungebräuchliche Wörter muss man mit dem Wörterbuch erkunden. Im Wörterbuch steht jedoch nur ein Feld von Bedeutungsmöglichkeiten, nicht die Bedeutung im vorliegenden Gedicht; mit dem Wörterbuch zu arbeiten muss man einüben.
In das sprachliche Handeln können auch „rhetorische Figuren“ hineinspielen; so könnte ein Sprecher durch Wiederholung etwas eindringlich darstellen, durch ironische Bemerkungen spotten, durch rhetorische Fragen jemanden angreifen usw. – dann gehören diese Figuren nicht zum „Schmuck“ eines Gedichtes, sondern zum Sprechakt und sollten dort berücksichtigt werden. Das gilt ebenso für Reime, soweit sie zum „Sinn“ der Äußerung beitragen und nicht bloß einen Gleichklang bilden. Auch Tempo und Lautstärke des Sprechens sowie die Melodie der Stimme (Höhe, Pathos) sind durch den Sprechakt bedingt und können nur von ihm her erschlossen und gestaltet werden. – Was hier zu den verschiedenen Stufen der Erarbeitung gesagt wird, gilt also nur begrenzt.
Zum Sprecher als der dominierenden Figur gehören die Aspekte der Situation, der Perspektive (Ich, Figur, pure Sprechfunktion), der Sprechakte (meditieren, anklagen, erzählen…), der Sprechweise (Rhythmus, Klangfarbe).
Der Aufbau des Textes wird nach zwei unterschiedlichen Aspekten bestimmt:
* der Aufbau des im Text präsenten Sprachgeschehens (vom Sprecher her); gegliedert wird eine Äußerung zum Beispiel durch Abwandlung des Themas, der Stimmung des Sprechers, des Adressaten (auf Pronomina und Anreden achten!), des Sprechaktes (manchmal Tempus- oder Moduswechsel) sowie durch chronologische oder kausale Zuordnung einzelner Sätze, Strophen, Passagen;
* die Textgestalt: Strophen-, Reimform.
Mit der Frage nach der Gedichtform eröffnen wir die eher formale Untersuchung, also den zweiten Teil unserer Analyse. Die einzige direkte Anweisung des Autors zum Verständnis ist die Überschrift des Gedichtes – aber wie die zu stehen ist, ergibt sich erst, wenn man das Gedicht verstanden hat.
Im zweiten Durchgang achtet man auf die formalen Elemente des Gedichtes, die man jedoch als eine Leistung des Sprechers begreifen muss: Nicht der Dichter gebraucht also Kontraste [auch wenn ich auf meiner Merkliste den analytischen Begriff „rhetorische Mittel“ abhake!], sondern der Sprecher stellt zwei Dinge gegenüber; nicht der Dichter verwendet ein Enjambement, sondern der Sprecher spricht fröhlich oder erregt über das Versende hinweg (Enjambement).
Das Grundelement des Gedichtes ist der Vers. Strophen sind aus Versen aufgebaut. Dementsprechend muss man den Rhythmus untersuchen: das Zusammenspiel zwischen Vers und Satz, zwischen Takt (Metrum) und tatsächlicher Betonung, zwischen Pausen und Sprechfluss sowie das Tempo. Reime binden als Element der Strukturierung Verse im Klang aneinander und erzeugen dadurch auch kleine Pausen.
Als letzte Frage kann man untersuchen, welche Bilder und Figuren der Sprecher verwendet (Einteilung nach Ivo Braak: Poetik in Stichworten, 7. Auflage):
* Bilder: Metapher; Sonderformen: Synästhesie, Personifikation;
Metonymie; Sonderform: Synekdoche (pars pro toto);
Bild: Bild, Vergleich, Symbol, Chiffre.
* Figuren: Wortfiguren: Emphase, Hyperbel, Untertreibung, Umschreibung;
Satzfiguren: Verbindung (keine – viele), Worteinsparung,
Häufung, Wortstellung (parallel, überkreuz, Inversion,
Anakoluth, falsche Folge);
Gedankenfiguren: Anruf, Frage, Entgegenstellung (Antithese),
Widersprüchlichkeit;
Klangfiguren: Wiederholung, Wortspiel, Lautmalerei.
Es kann nicht darum gehen, in Sachen formaler Analyse Vollständigkeit zu erreichen; das ist etwas für Spezialisten, meine ich; die meines Erachtens wichtigsten Bilder und Figuren habe ich oben unterstrichen. Übersicht im Internet: mein Aufsatz zum Thema (mit Verweis auf einen Beitrag bei lehrer-oline) oder http://www.kerber-net.de/tqschnel.htm (dort: -> Lyrik -> Rhetorische Figuren)
Im dritten Durchgang kann man dann weitere Beziehungen herstellen oder aufzeigen, teils zur literarischen, teils zur realen Welt:
– zu anderen Gedichten des Autors,
– zu anderen Werken des Autors,
– eventuell zum Leben des Autors (diese Beziehung wird oft überschätzt!),
– zu thematisch verwandten Gedichten der Zeitgenossen,
– zur historischen Lage der Entstehungszeit,
– zu einer literarischen Schule oder Epoche,
– zu verwandten Gedichten der Vergangenheit;
– man kann auch untersuchen, wo das Gedicht veröffentlicht wurde, wie und von wem es gelesen wurde/wird (Rezeption), wie verbreitet es ist oder in welche Sammlungen es aufgenommen wurde.
Dieser dritte Durchgang erfordert viel Zeit und ist in seiner Gesamtheit eher etwas für belesene Lehrer und Professoren. Schüler werden sich mit der Aufgabenstellung begnügen, die ihnen mitsamt dem Material inklusive Erläuterungen vorgelegt wird, wenn sie es nicht aus dem Unterricht kennen.
In Auseinandersetzung mit anderen Lesern kann man sein Verständnis überprüfen; das eine richtige Verständnis gibt es vielleicht nicht – man kann nur versuchen, nicht gegen den Text zu lesen, und darf nicht das, was einem zu einzelnen Wörtern einfällt, für ein Verständnis des Gedichtes halten.
Letztlich muss sich das Verständnis im Sprechen bewähren. Ein Gedicht ist ein Klanggebilde (es gibt jedoch auch Gedichte als optische Gebilde!), man muss es hören und damit auch sprechen: im eigenen Sprechen das Verständnis erproben, eventuell mit dem Vortrag anderer vergleichen.
Bisher war noch nicht von „analysieren/interpretieren“ die Rede; ich persönlich würde das, was im vorhin beschriebenen dritten Durchgang geleistet wird, „interpretieren“ nennen. In der Beschreibung der Operatoren für das Zentralabitur 2008 NRW werden die beiden Verben als übergeordnete Operatoren verstanden und gleichbedeutend gebraucht.
Wenn die beiden Verben übergeordnete Operatoren bezeichnen, heißt das, dass die Aufgabenstellung in einer Klausur enger gefasst sein muss: Interpretieren Sie das Gedicht, indem sie dies und das untersuchen… (24.11.08)
Noch ein Versuch, den Begriff Aufbau des Gedichts zu klären: https://norberto68.wordpress.com/2012/03/06/was-heist-den-aufbau-des-gedichts-beschreiben/ (März 2012)