Psychisch oder psychologisch, Technik oder Technologie?

Am 29.04.2024 hatte Sebastian Herrmann, den ich sehr schätze, auf S. 1 der SZ den Artikel „Mit frisch gesäuberter Seele“. Darin berichtet er über Untersuchungen, wie rituelle Waschungen und Bäder auf die Menschen, auf ihre Psyche wirken, nämlich befreiend. Er beschreibt das „aus psychologischer Perspektive“; das ist korrekt. Nur spricht er dann auch von „den psychologischen Effekten des Waschens“ – und das ist Unsinn; er meint die psychischen Effekte: die Wirkungen auf die Psyche, nicht auf die Psychologie und ihre Theoriebildung.

Zum Vergleich: Wenn er über die Wirkungen des Gebetes auf die Psyche des gläubigen Beters spräche, würde er ja auch nicht von theologischen, sondern von religiösen oder psychischen Wirkungen sprechen (hoffentlich nicht von psychologischen!).

Den gleichen aufgeblähten Sprachunsinn haben wir in der Art, wie heute von neuen Technologien gesprochen wird, wenn neue Techniken gemeint sind. Technologie, das sollte die Theorie der Technik sein; das leuchtet jedem ein, der auch nur minimale Ahnung von der griechischen Sprache hat. Aber das neumodische Gerede von Technologien klingt halt pompöser, als wenn man wie üblich von Techniken spräche. – Ein sauberer Sprachgebrauch fördert psychisch und logisch (aber nicht psychologisch) das saubere Denken.

Die Zeit in der deutschen Sprache

wie sie sich in Daniel Sanders’ „Deutscher Sprachschatz geordnet nach Begriffen“ (1873, S. 107 ff.) darbietet:

Zeit allgemein

Das Immersein, Ewigkeit / Das Nimmersein

Das lange Sein, Dauer, Bestand / das kurze Sein, Vergänglichkeit; Vergang, Flucht der Zeit

Zeit(be)rechnung, Zeit-Messung, -Maß etc. / Verstoss wider – oder Nichtbeachtung von – Zeit-(Be)rechnung, -Maß etc.

Daseins-, Lebens-, Jahres-, Tages-Zeiten etc.

Rechtzeitigkeit; freie Zeit; Benutzung der Zeit / Unzeitigkeit; Zeitmangel; Nichtbenutzung der Zeit

Das Frühsein / Das Spätsein

Priorität / Posteriorität

Gleichzeitigkeit

Zwischenzeit

Gegenwart

Vergangenheit / Zukunft

Häufigkeit / Seltenheit

Periodicität / Unregelmäßigkeit

Diesen Gesichtspunkten sind jeweils Substantive, Zeitwörter, Adjektiva und Adverbia zugeordnet, diese meist in Wörter/Gegenwörter unterteilt. Das ist ein schönes Gerüst, um Wortschatzübungen zu machen.

Zivilist:innen – idiotische Genderei

Die Genderei treibt seltsame Blüten. Eine neue Sumpfblüte ist „Zivilist:innen“, wie ich gestern in der Rundmail des Tagesspiegels las. Zivilisten sind Menschen, die nicht zum Militär gehören, also Männer, Frauen und Kinder jeden Alters. „Die Zivilisten“ heißt es (den Singular gibt es kaum im Sprachgebrauch), und der Artikel „die“ ist einfach ein Pluralartikel, weder masc. noch fem. noch neutr. Wenn Bomben Zivilisten treffen, treffen sie unterschiedslos alle. Wenn man nun aber von Zivilist:innen spricht, wird so getan, als seien die Zivilisten ausschließlich Männer, was eindeutig falsch ist. Hier wird um des Feminisierens will ein masc. Plural erfunden, den es eigentlich nicht gibt. Scheiß Genderei!

Es genügt, dass wir Zivilisten sind – Zivilist:innen und Zivilist:außen brauchen wir nicht.

Hätte, hätte, Fahrradkette – zur Qualität einer Redensart

„Hätte, hätte, Fahrradkette.“ Dieser Spruch, 2013 durch Peer Steinbrück bekannt geworden, ist umwerfend gut, besser als zum Beispiel: „Hätte der Hund nicht geschissen, hätte er den Hasen gekriegt.“ Wieso ist er besser? Der Hunde-Spruch entfaltet den Gedanken vollständig – das ist zu umständlich, allerdings an einem unsinnigen Beispiel – das ist gut am Hunde-Spruch; denn dass ein Hund sich erst zum Scheißen niederhockt, wenn es gilt, einen Hasen zu fangen, macht ihn zum Bruder der Butterblume, die auch nie einen Hasen fangen könnte.

Der Spruch von der Fahrradkette ist gut, weil er extrem kurz ist, dabei sich reimt, je zweimal einen Trochäus aufweist (strenge Parallelität der beiden Zeilen), durch die Wiederholung „Hätte, hätte“ das ganze Feld des nachträglichen Besserwissens oder Wünschens einschließt und es völlig sinnlos durch „Fahrradkette“ abschließt, wodurch das „Hätte, hätte“ beendet (vollendet) und damit entlarvt wird.

Ich kenne einen ähnlichen Spruch aus dem Niederrheinischen: „WENN legg op dr Denn, hät lang Uere on vrett Heu.“ (WENN liegt in der Tenne, hat lange Ohren und frisst Heu.) Dieser Spruch ist natürlich viel besser als „Wenn das Wörtchen ‚wenn‘ nicht wär‘, wär‘ mein Vater Millionär“, der einmal ziemlich lang ist, dann aber den Gedanken an einem Beispiel exakt durchspielt und damit ziemlich fade ist. Für den ersten Wenn-Spruch gibt es zwei mögliche Deutungen: Die erste ist die, dass die Kombination des Wenn-Gedankens mit der Tenne und dem Heufressen völlig sinnlos ist, siehe oben. Die zweite nimmt das Liegen und Heufressen wörtlich und macht dann aus dem WENN bzw. aus dem Wenn-Sager einen Esel.

Zwei Regeln lassen sich aus diesen Beispielen für die Qualität von Redensarten ableiten: 1. Je kürzer, desto besser. 2. Je mehr der Gedanke demonstriert (resp. ad absurdum geführt) statt ausgesprochen wird, desto besser. Aber auch der Reim und die Parallelität in Bau und Rhythmus zeichnen einen guten Spruch aus.

https://www.wortbedeutung.info/h%C3%A4tte,_h%C3%A4tte,_Fahrradkette/ (Erklärung, Hinweis auf Sprüche in anderen Sprachen)

Literarisch wird der in den Redensarten glossierte Gedanke etwa in folgenden Texten entfaltet: Parabel von den drei Lehren https://also42.wordpress.com/2021/02/25/drei-lehren/; Chamissos Gedicht „Pech“ https://norberto42.wordpress.com/2021/03/15/bemerkungen-zu-a-von-chamisso-pech-und-tragische-geschichte/

„Gendern ist eine sexistische Praxis“

Im Berliner Tagesspiegel ist ein ungewöhnlicher kluger Aufsatz zum Gendern erschienen: Hier ist er (Quellenangabe unten):

Deutschland ist besessen von Genitalien (30.08.2020, 18:22 Uhr)

Gendern macht die Diskriminierung nur noch schlimmer

Wer will, dass Männer und Frauen gleich behandelt werden, der muss sie gleich benennen. Ein Gastbeitrag von Nele Pollatschek.

Vor einigen Wochen unterhielt ich mich mit einem Journalistenkollegen und sagte „Ich, als Schriftsteller …“ Der Journalist unterbrach mich – „SchriftstellerIN“. Da fiel es mir wieder ein. Ich bin ja kein Schriftsteller, ich bin ja eine Frau. So ist es vielleicht nicht gemeint, aber so fühlt es sich an. Einige Zeit davor war ich zu Gast in einem „Star Trek“-Podcast und wurde als „Gästin“ angekündigt.

Plötzlich fragte ich mich, ob ich eingeladen wurde, weil ich mehr Star Trek geschaut habe als jeder andere Mensch, der nicht im Keller seiner Mutter wohnt, oder weil ich aussehe wie jemand, der eine Vagina hat (habe ich, dazu später mehr). Auch das ist gut gemeint, aber es fühlt sich nicht gut an. Ich fühle mich in solchen Situationen auf mein Geschlecht reduziert. Ich fühle mich so, weil es de facto so ist.

Ich würde diesen Artikel übrigens gerne anfangen, ohne mehrmals auf mein Geschlecht zu verweisen, das geht keinen etwas an. Ich würde ihn gerne mit rationalen Argumenten gegen das Gendern anfangen. Täte ich das aber, würde ich sofort als Anti-Feminist gelesen werden und diejenigen, für die ich das schreibe, die guten, aufgeklärten Gerechtigkeitsliebenden, würden aufhören zu lesen.

Weiterlesen würden nur diejenigen, die sowieso gegen das Gendern sind, das bedeutet in Deutschland in der Regel: piefige Konservative von Welt. Die lautstarken Argumente gegen das Gendern kommen meistens von den berüchtigten alten, weißen Männern, die sich die Erfahrung von marginalisierten Menschen nicht mal vorstellen können. Solche Argumente werden von den Verteidigern des Genderns schon deswegen nicht ernstgenommen, weil den Machern solcher Argumente die entscheidenden Erfahrungen des Marginalisiertwerdens fehlen.

Falsche Argumente gegen das Gendern

Zu dieser Gruppe gehöre ich nicht. Für ein diskriminierungsfreies Leben habe ich ein paar falsche Entscheidungen getroffen, Frau und jüdisch sein hätte ich zum Beispiel einfach lassen sollen. Ich gendere nicht, ich möchte nicht gegendert werden, gerade weil ich weiß, wie Diskriminierung sich anfühlt.

Und ich weiß, dass die allermeisten Argumente gegen das Gendern falsch sind. Falsch ist es zum Beispiel, zu behaupten, dass sich Wörter wie Student*innen nicht aussprechen ließen. Wer „Theater“ korrekt aussprechen kann, mit einem glottalen Verschlusslaut, also „The-kurze Pause-ater“ und nicht von „Thejater“ spricht, kann auch „Student-kurze Pause -innen“ aussprechen. Auch ist falsch, dass das Gendern nicht schön sei.

Wer denkt, dass bei der zwischenmenschlichen Kommunikation Schönheit wichtiger sei als Gerechtigkeit, der rettet auch einen Ertrinkenden nicht, weil das ganz hässliche Wasserflecken auf dem Jachtdeck gibt. Am falschesten, dass die deutsche Sprache irgendwie vor Wandel geschützt werden müsse. Alle Argumente dieser Art bitte nur auf Althochdeutsch verfassen.

Im Grunde gibt es nur ein einzig wirklich gutes Argument gegen das Gendern: Es ist leider sexistisch. Ich sage leider, denn Menschen, die Gendern sind grundsympathisch. Wer gendert, tut das in der Regel, um auf sprachliche und gesellschaftliche Ungerechtigkeiten hinzuweisen. Gendern ist eine sexistische Praxis, deren Ziel es ist, Sexismus zu bekämpfen.

Vize-Europameister im Frauen-schlechter-bezahlen

Ich habe mich mit dem deutschen Gendern noch nie wohl gefühlt, dass es sich dabei aber um ein logisches Problem des Genderns handelt, wurde mir erst klar, als ich in England promovierte und dort einen anderen Feminismus kennenlernte. Das erste Mal fiel es mir auf, als ein Professor mich fragte, ob wir in Deutschland Angela Merkel wirklich als „BundeskanzlerIN“ bezeichnen und ob denn die deutschen Feministen nichts dagegen täten.

Wer wie ich in Deutschland und mit dem deutschen Feminismus sozialisiert wurde, der muss diese Feststellung befremdlich finden. Das Durchsetzen „geschlechtergerechter“ Sprache scheint hierzulande manchmal als die eigentliche Kernaufgabe des Feminismus. Zumindest verzeichnet der moderne deutsche Feminismus hier seine größten Erfolge: Mag sein, dass die Gender-Pay-Gap seit 25 Jahren ziemlich konstant bei rund 20 Prozent liegt – Deutschland ist Europavizemeister im Frauen-schlechter-bezahlen, nur Estland ist schlimmer. Immerhin wird im sächsischen Justizministerium jetzt gegendert.

Was der Professor meinte, war schlichtweg dies: Tun die deutschen Feministen denn nichts dagegen, dass es unterschiedliche Wortformen für Männer und Frauen gibt, dass also Männer und Frauen sprachlich unterschiedlich behandelt werden? Damals erklärte ich dem Professor, dass es um Sichtbarmachung geht. Dass viele Menschen, wenn sie Berufsbezeichnungen hören, das Bild eines Mannes im Kopf haben und dass wir in Deutschland weibliche Wortformen verwenden – gerade auch in Stellenausschreibungen oder offiziellen Texten – um zu verdeutlichen, dass der Beruf auch von Frauen ausgeübt wird.

Es gibt bei dieser Erklärung nur ein Problem: Die Standardvorstellung der meisten Berufsbezeichnungen ist nicht nur die eines Mannes, sondern die eines weißen, christlichen, heterosexuellen Mannes. Wenn es also eine Wortform für weibliche Berufsausübende braucht, bedarf es dann nicht genauso einer Wortform für jüdische oder schwarze oder schwule Berufsausübende mit Behinderung? Wenn es wichtig ist, ein Wort zu verwenden, das die beiden Informationen „Bundeskanzler“ und „Frau“ oder „Schriftsteller“ und „Frau“ enthält, wäre es dann nicht genauso richtig, auch die Information „jüdisch“ in das Wort aufzunehmen?

Nicht alle Identitätskategorien sind gleichwichtig

Warum fühlt sich Schriftstellerjude oder Schwarzgast so verdammt falsch an, wenn Schriftstellerin und Gästin im öffentlichen Diskurs nicht nur in Ordnung, sondern auch noch anti-diskriminierend sein sollen. Der englische Professor sah im deutschen Gendern das, was wir nur erkennen können, wenn wir die Analogie mit einer anderen Identitätsbeschreibung bilden: Diskriminierung.

Wenn wir im Deutschen gendern, dann sagen wir damit: Diese Information ist so wichtig, dass sie immer mitgesagt werden muss. Und wir sagen: Nur diese Information muss immer mitgesagt werden. Es ist richtig, auf alle anderen Identitätskategorien nur dann zu verweisen, wenn sie relevant sind, nur das Geschlecht wird immer angezeigt, damit machen wir es zur wichtigsten Identitätskategorie.

Es ist (heute) selbstverständlich, dass beim Wort Lehrerzimmer oder Schriftstellerverband auch jüdische Lehrer und schwule Schriftsteller gemeint sind, ohne dass wir vom Schriftsteller*schwulen-Verband oder vom Lehrer*juden-Zimmer sprechen, nur weibliche Lehrer und Schriftsteller sollen extra genannt werden. Wenn wir gendern, sagen wir damit, diese Information darf niemals nicht gesagt werden.

Ein türkischer, ein behinderter, ein schwuler Autor, Lehrer oder Immobilienmakler kann manchmal auch einfach nur ein Mensch sein, der Bücher schreibt, Kinder ausbildet oder schimmeligen Baumarktstuck als Liebhaberstück verkauft. Nur eine Frau wird das Frausein niemals los. Und wenn sie sich doch mal als Schriftsteller bezeichnet, erinnert sie ein Kollege. Er erinnert sie daran, dass sie aufgrund ihres Geschlechts niemals Schriftsteller sein kann, sondern immer nur Schriftstellerin, eine Ableitung, eine Form, die eine Grundform braucht, um überhaupt existieren zu können

Wenn es mich nicht gerade traurig macht, kann ich einen gewissen Humor darin entdecken, wie besessen Deutschland von Genitalien ist. Denn mit wenigen Ausnahmen geht es beim Gendern um Genitalien, nicht notwendigerweise um die, die wir sehen, aber um die, von denen wir denken, dass sie da sind. Ginge es um Geschlechteridentitäten jenseits physischer Merkmale, könnten wir nicht einfach drauf losgendern, sondern müssten erst mal ein Geschlecht erfragen. Wer aber nicht explizit als trans Person gelesen wird, der wird nicht gefragt, sondern gegendert.

Bei Telefoninterviews, bei denen mich der andere nicht sieht, werde ich gegendert, nicht weil meine Stimme performativ weiblich ist, sondern weil sie sich biologisch weiblich anhört. Auch im Anzug, auch ungeschminkt, auch mit Glatze wurde ich gegendert, denn es geht primär um das imaginierte Geschlecht im biologischen Sinne, also um Geschlechtsteile.

Wer aus meinem „Schriftsteller“ ein „Schriftstellerin“ macht, kann auch gleich „Vagina“!“ rufen. Das hat den gleichen Informationswert, wäre aber komischer und aufrichtiger und mir deutlich lieber. Dass das deutsche Gendern britische Feministen befremdet, ist nicht überraschend. Denn während britische Nachrichten von Theresa May oder Margaret Thatcher einfach nur als ungeschlechtlichen Prime Minister sprachen, sind die Deutschen gezwungen, immer wenn wir von Dr. Merkel sprechen, auch auf die Form der regierenden Genitalien hinzuweisen.

Der einzige Weg heraus aus dem sprachlichen Dauerfrausein ist das Ausland, für mich war es Großbritannien. Denn der britische Feminismus hat auf das Problem der weiblichen Berufsbezeichnung das Gegenextrem gewählt. Der englische Gedanke ist schlichtweg dieser: Der Weg zu Gleichheit ist Gleichheit. Wer will, dass Männer und Frauen gleich behandelt werden, der muss sie gleich behandeln und das heißt, sie gleich zu benennen.

Im „Guardian“ ist das generische Maskulinum progressiv

Zu dem Zeitpunkt, als deutsche Zeitschriften, vor allem die eher links-progressiven, anfingen, anstatt von „Schauspielern“ von „Schauspielern und Schauspielerinnen“, Schauspielenden, SchauspielerInnen, Schauspieler_innen und Schauspieler*innen zu schreiben, beschloss der „Guardian“ – die englische Zeitung der feministischen Linken – nur noch das Wort „Actor“ zuzulassen und „Actress“ zu streichen.

In ihren Stilrichtlinien erklären sie bis heute, sowie es viele andere Publikationen tun, dass „actress“ genau wie authoress, comedienne, manageress, lady doctor, male nurse und ähnliche Termini aus einer Zeit kommen, in der Berufe größtenteils einem einzigen Geschlecht offenstanden (meistens dem männlichen). Und dass diese gegenderten Berufsbezeichnungen heute, wo die Berufe allen Geschlechtern offenstehen, nicht mehr verwendet werden sollten.

Um es anders zu sagen: Während die Deutschen sich für das permanente Benennen von Geschlechterunterschieden entschieden haben, haben die Briten sich entschieden, das Anzeigen von Geschlechtlichkeit so weit wie möglich zu vermeiden. Dafür haben sie mit typisch britischer Pragmatik, die Form gewählt, die ihre Sprache sowieso als generisch hergibt. Diese Form ist im Englischen, genau wie im Deutschen, identisch mit der männlichen Form, im Deutschen wird sie durchaus kritisch als „generisches Maskulinum“ bezeichnet.

Die scheinbare sprachliche Maskulinität von generischen Berufsbezeichnungen wirft ein Henne-Ei-Problem auf: Sind die Berufsbezeichnungen inhärent männlich und brauchen daher eine parallele weibliche Form, oder sind sie inhärent generisch und wirken nur deswegen männlich, weil sie historisch nur von Männern ausgeführt werden durften?

Viele junge Menschen kennen nur eine Kanzlerin

Aus englischer Perspektive ist Letzteres der Fall. Das Wort „Prime Minister“ bezeichnet de facto für den Großteil der englischen Geschichte einen Mann, einfach schon deshalb, weil Frauen weder wählen noch gewählt werden durften. Das Wort war nicht deshalb männlich, weil es sprachlich männlich ist, sondern weil es in der Realität männlich war.

Die englische Lösung für dieses Problem ist es nicht, eine weibliche Form einzuführen, obwohl „Prime Ministress“ durchaus ginge, sondern eine Frau zu wählen. Mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts 1928 und spätestens ab 1979, als Margaret Thatcher Premier wurde, wurde das Wort „Prime Minister“ faktisch generisch, konnte Männer und Frauen bezeichnen und wird mit jedem weiblichen PM immer generischer, wobei zur vollen Gleichheit noch einige Dutzend weibliche „Prime Ministers“ fehlen.

Genauso wie das Wort „US-President“ für die ersten Jahrhunderte der amerikanischen Geschichte per Gesetz nur Weiße bezeichnen konnte und faktisch bis 2008 nur weiße Männer bezeichnet hat. Die Realität, also Barack Obama, hat die Sprache verändert.

Obama hat die Bedeutung des Wortes „US-President“ um seine eigene Identität erweitert. Konkret bedeutet Obamas Präsidentschaft, dass es Jugendliche gibt, die beim Wort Präsident zuerst an einen schwarzen Mann denken, weil der Präsident, mit dem sie aufwuchsen, eben schwarz war. Genau wie es bis heute Menschen gibt, deren erste Assoziation, wenn sie „Prime Minister“ hören, eine Frau ist, einfach weil diese Frau, Margaret Thatcher, sich während ihrer elf Jahre als Premier in das kollektive Gedächtnis einbrannte wie kein anderer Premier der Nachkriegszeit.

Diskriminiert das Wort „Frau“ etwa Unverheiratete?

Hätte Deutschland den angelsächsischen Weg der Geschlechtergerechtigkeit eingeschlagen, dann gäbe es im Jahr 2020 sechsjährige Kinder, für die das Wort Bundeskanzler in erster Assoziation ein weibliches ist, weil sie es noch niemals erlebt haben, dass ein Mann Bundeskanzler ist. Durch die Verwendung der beiden unterschiedlichen Wörter „Bundeskanzler“ und „Bundeskanzlerin“ haben wir uns um diesen Sprachwandel gebracht.

Und das, obwohl wir durchaus an die Möglichkeit solchen Wandels glauben, weil wir sie an anderer Stelle mit dem Ziel der größeren Gerechtigkeit bereits erfolgreich eingesetzt haben. Als die Engländer aufhörten, einen sprachlichen Unterschied zwischen actor und actress zu machen, hörten die Deutschen auf, zwischen „Frau“ und „Fräulein“ zu unterscheiden.

Anstatt unverheiratete weibliche Menschen als „Fräulein“ und nur verheiratete weibliche Menschen als „Frau“ zu bezeichnen, wurde es üblich, alle weiblichen Menschen als „Frau“ zu bezeichnen. Auch hier hätte man argumentieren können, dass dies die verheiratete Frau zum Standard macht und die unverheiratete diskriminiert.

Aus Frauen können noch immer Menschen werden

Knapp fünfzig Jahre später wissen wir, dass das Gegenteil passiert ist: Indem wir das Wort Frau unabhängig vom Ehestatus einsetzen, haben wir es ziemlich erfolgreich von der Bedeutungsebene „verheiratet“ getrennt. Unverheiratete Frauen gibt es trotzdem, und die werden meistens überhaupt nicht gerne als Fräulein bezeichnet. Natürlich gibt es Argumente gegen das generische Maskulinum. Das generische Maskulinum ist historisch männlich, diese Geschichte der Sprache kann man nicht ändern. Genauso, wie man nicht ändern kann, dass Frauen, bis 1918 nicht wählen durften. Aber man kann Bedeutungen verschieben.

In einer Welt, in der innerhalb weniger Jahrzehnten aus „Fräuleins“ „Frauen“ wurden, können aus Frauen noch immer Menschen werden. Menschen, die Bücher schreiben, wir nennen sie dann Schriftsteller, Menschen die regieren, wir nennen sie dann Bundeskanzler, Menschen, die zu Gast sind, wir nennen sie dann Gäste. In dieser Welt würde ich sehr gerne leben.

Dr. Nele Pollatschek lebt als Schriftsteller in Berlin. Zuletzt erschien von ihr bei Galiani „Dear Oxbridge: Liebesbrief an England“. Dieser Text basiert auf dem Kapitel „They: Gendern auf Englisch“.

https://www.tagesspiegel.de/kultur/deutschland-ist-besessen-von-genitalien-gendern-macht-die-diskriminierung-nur-noch-schlimmer/26140402.html?utm_campaign=Morgenlage_politik&utm_medium=Email&utm_source=Tagesspiegel_Newsletter 1. September 2020

P.S. Nele Pollatschek hat in der SZ vom 27. Januar 2021 eine größere Glosse mit dem Titel „Das Recht auf Unsichtbarkeit“ geschrieben; sie befasst sich mit der Tatsache, dass der Duden sei neuestem das generische Maskulinum aufgibt und die weiblichen Formen eines Wortes gleichberechtigt neben die männlichen setzt. Damit verstoße er gegen seine Aufgabe, die Schriftsprache gebildeter Sprachbenutzer abzubilden.

Wichtiger sei jedoch, dass damit „das Recht auf Unsichtbarkeit“ verletzt werde. „Wenn wir das generische Maskulinum abschaffen, verengen wir den Raum der geschlechtlichen Unsichtbarkeit.“ Viele Menschen wollten eben nicht permanent geschlechtlich identifiziert werden. Es gebe zwar wichtigere Dinge als die Frage des generischen Maskulinums, aber dieses sei eben doch auch ein Schutz der persönlichen Unsichtbarkeit. Und deshalb nennt Frau Pollatschek sich Schriftsteller und nicht Schriftstellerin.

Deutscher Wortschatz – systematisch geordnet

Wir kennen alle die normalen Wörterbücher, wo die Wörter in alphabetischer Ordnung aufgeführt sind. Es gibt aber auch Wörterbücher, wo die Wörter nach Sachgebieten systematisch geordnet sind. Klassisch ist für die deutsche Sprache der Dornseiff (Der deutsche Wortschatz nach Sachgruppen) oder Wehrle-Eggers: Deutscher Wortschatz. Ein Wegweiser zum treffenden Ausdruck (Klett).

Vorgänger dieser Bücher ist der bei archive.org greifbare Sanders: Deutscher Sprachschatz geordnet nach Begriffen zur leichten Auffindung und Auswahl des passenden Ausdrucks, 1873, aber immer noch hilfreich:

https://archive.org/details/deutschersprachs01sanduoft/page/n7/mode/2up Bd. 1

https://archive.org/details/deutschersprachs02sanduoft/page/n7/mode/2up Bd. 2

Ferner: Schlessing https://archive.org/stream/deutscherwortsc00unkngoog#page/n7/mode/2up 

Ich habe die Links in die Kategorie „Wörterbücher“ übernommen. Auch der Dornseiff ist im Internet greifbar (und ebenfalls verlinkt): https://archive.org/details/DORNSEIFFDerDeutscheWortschatzNachSachgruppen/page/n175/mode/2up Die Übersicht über die Sachgruppen steht auf S. 168.

Wörterbücher der Synonyme im Netz

Dass „Bildung des Verstandes durch die Sprache“(Eberhard) geschieht, ist die grundlegende Annahme. In der Einleitung der ersten Auflage von Eberhards synonymischem Handwörterbuch der deutschen Sprache (1837) werden folgende Leistungen der Synonymik genannt:

1. Die Synonymik befördert die Richtigkeit im Denken.

2. Die Synonymik bildet den Verstand und übt den Scharfsinn.

3. Sie gewährt Vergnügen.

  • Die Synonymik, ein Teil des Elementarunterrichtes.
  • Zu einem guten mündlichen und schriftlichen Vortrage.
  • Geistreiches Spiel mit sinnverwandten Wörtern.
  • Gebrauch bei dem Unterricht der Fremden in der deutschen Sprache.

Ich habe deshalb eine neue Link-Kategorie „Synonyme“ eingerichtet, worin verschiedene gute Wörterbücher aufgelistet sind; man muss einmal hineinschauen, um die Unterschiede zwischen ihnen zu erkennen. Das dort genannte Eberhard/Lyon ist die 16. und letzte Auflage von Eberhards Wörterbuch (man muss im oberen ABC suchen!), es umfasst 1600 Artikel. Eberhard 15. ist zwar nur die 15. Auflage mit gut 100 Artikeln weniger, hat dafür aber eine ausführliche Darstellung aller deutschen Vor- und Nachsilben (S. XIX ff.) sowie ein Register aller behandelten Wörter (S. 880 ff.), was insofern von Vorteil ist, als unter einem Stichwort auch mehrere verwandte Wörter behandelt werden (z.B. Brennen, Lodern, Glühen, Glimmen), die dann keinen eigenen Eintrag mehr erhalten.

Es geht bei der Suche nach Synonymen nicht darum, nur den Ausdruck zu wechseln, damit es schöner klingt und Wiederholungen vermieden werden (wie man gelegentlich in der Grundschule lernt), sondern darum, das wirklich treffende Wort zu finden.

Eberhards Wörterbuch ist großartig, aber natürlich über 100 Jahre alt – so findet man dort „demungeachtet“, aber nicht „nichtsdestotrotz“ – ein modisches Unwort, das aus „nichtsdestoweniger“ und „trotzdem“ zusammengeschustert worden ist und, so vermute ich, zunächst nur als Witz gemeint war, was viele nicht verstanden haben, wodurch es ein richtiges Wort geworden ist.

Die Kategorie „Wörterbücher, problematisch“ lösche ich: Wozu soll man problematische Wörterbücher eigens nennen? Es sind dies Wörterbücher, die nur im Netz existieren und wo jeder eintragen kann, was ihm an Bedeutungen einfällt – danach sind sie dann auch.

Die Bedeutung des Wortes

Das ist der Titel eines klugen Buches von Karl Otto Erdmann (Leipzig 1900), das leicht verständlich erklärt, was es mit der Bedeutung der Wörter auf sich hat (https://archive.org/details/diebedeutungdesw00erdm/page/114); leider muss man die Frakturschrift lesen können, um sich das Buch einzuverleiben – aber vielleicht wäre hier auch ein Anlass, die Fraktur lesen zu lernen? So schwer ist es nicht, nach drei, vier Seiten Buchstabieren sollte man es eigentlich können. Auf der verlinkten Seite beginnt Erdmann, die Problematik des Gebrauchs von Fremdwörtern zu diskutieren.