Wie ungenau man von „genau“ spricht

Heute fiel mir in der SZ wieder auf, wie nachlässig mit der Partikel „genau“ umgegangen wird, die es laut Duden dekliniert nur in der Form „wir wissen nichts Genaues“ gibt.

Inzwischen hat man sich angewöhnt, davon zu sprechen, dass die genaue Zahl der Toten nicht bekannt ist – dabei gibt es keine genaue Zahl, sondern nur eine Anzahl, die man entweder kennt oder nicht genau weiß. Ebenso gibt es keine genaue Ursache eines Unglücks, sondern nur eine (oder mehrere) Ursachen, die man entweder kennt oder nicht genau benennen kann. Daraus ergibt sich, dass „genau“ mit einem Wissen verbunden ist oder im Verhältnis zu einer Vorschrift o.Ä. steht, die man genau (also wörtlich) befolgen kann oder eben nicht genau.

Inzwischen (10/23) hat sich herausgestellt, dass Hanna Zimmermann im heute-journal um 21.45 oft mit der Floskel „genau“ oder „ja, ganz genau“ ihren Beitrag einleitet, wenn sie vom Hauptredakteur angekündigt wird; das ist, mit Verlaub gesagt, völlig sinnfrei und von mir auch schon mehrfach moniert worden. Die SZ hatte kürzlich einen Artikel zu diesem jugendsprachlichen Unsinn, ebenso wie die ZEIT (2021-7). Ich denke, in den Nachrichten sollte richtig gesprochen werden, genau!

Tore oder Toren?

Paul Munzinger hat mit seinem Beitrag „Goethedämmerung“ (SZ 5. 8. 2022, S. 1) ein prächtiges Stück deutscher Journalistik abgeliefert: Wenn ich den Tenor des Artikels richtig höre, beklagt Munzinger, dass der „Faust“ vom bayerischen Lehrplan gestrichen wird. Munzinger kennt natürlich selber den „Faust“, er zitiert den Eingangsmonolog Fausts – aber wie! Er spricht nämlich vom Ziel der Schule, dass die Schüler „am Ende der Schulzeit nicht wie arme Tore dastehen, so klug als wie zuvor“. Richtig müsste er von armen Toren sprechen; denn arme Tore sind etwas anderes als arme Toren. Und wenn selbst ein für Bildungsfragen zuständiger Redakteur diesen Unterschied nicht kennt, dann kann man ruhig auf die Lektüre des „Faust“ verzichten und stattdessen den Umgang mit einer Grammatik (das Tor – der Tor: Was sind Homonyme?) und einem soliden Wörterbuch (Pluralbildung, Unterschied zwischen „Tore“ und „Toren“) üben.

Fritz Mauthners Sprachkritik

In seinen Erinnerungen (1918) berichtet Mauthner, wie die Idee der Sprachkritik ihn 1873 überfallen, sich seiner bemächtigt habe, so dass er wochenlang schriftlich ausarbeiten musste, „was in mir denken wollte“.

Die drei Bände seiner Sprachkritik erschienen dann 1901/02, in einer überarbeiteten zweiten Auflage 1906-1913. Dass diese Ideen in der Luft lagen, sieht man zum Beispiel am Chandos-Brief Hofmannsthals und an Musils Roman „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“. 1904 wurde (in der „Zukunft“) ein Brief Mauthners an Harden veröffentlicht, in dem er berichtete, welche Momente bei der „Entbindung“ seiner sprachkritischen Gedanken geholfen haben; diesen Brief findet man in Mauthners Erinnerungen wieder abgedruckt (S. 210 ff.). Mauthner nennt drei Anstöße:

  1. Otto Ludwig: Shakespeare-Studien (1871). Ludwig vergleicht den Dramatiker Schiller mit Shakespeare, wobei die Sprache des damals gefeierten Schiller als „schöne“ Sprache kritisiert wird; eine solche Sprache könne nicht Kunstmittel sein. Daraus ergab sich für Mauthner die Frage, ob Sprache ein Erkenntnismittel sein kann; dabei beruft er sich auf Goethe: Das Wort müsse sich ablösen, sich vereinzeln, um etwas sagen, etwas bedeuten zu können: Es ist so, „daß die Begriffe oder Worte keinen starren Umfang und keinen definierten Inhalt haben, daß vielmehr ein zitteriger Umfang, ein nebelhafter Inhalt die Worte der lebendigen Sprache mindert oder erhöht, wie man’s nimmt. Dieses Schweben und Weben in den einzelnen Worten kann keine Anschauung geben, nur Assoziationen kann es wecken, Assoziationen und Erinnerungen.“ Darum „ist das Schwebende in den Begriffen, der Gefühlswert in den Worten ein so ausgezeichnetes Mittel der Wortkunst“, aber taugt nicht zur Erkenntnis der Wirklichkeit. Deshalb könnten die Wissenschaften nur die Welt beschreiben, aber nicht erklären. In „Die Worte des Glaubens“ habe Schiller noch an Worte geglaubt, zwei Jahre später in „Die Worte des Wahns“ schon nicht mehr. [Diese Deutung halte ich für sehr problematisch, N.T.]
  2. Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874). Nietzsche habe sich gegen den Glauben gewandt, die Geschichte werde von Gesetzen bestimmt; daraus folgerte Mauthner, es gebe auch keine Sprach- und keine Denkgesetze. Sprache sei nur die Summe der menschheitlichen Erinnerungen.
  3. Als mächtiger Faktor wird Bismarck genannt, auf den die deutschen Prager Studenten in ihrem Kampf mit den tschechischen Kommilitonen mit großer Begeisterung blickten, weil er die deutsche Einheit hergestellt hatte. Die Bewunderung für den Realpolitiker habe sie allerdings in ihrem erkenntnistheoretischen Idealismus in Bedrängnis gebracht: „Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden, sondern durch Eisen und Blut.“

Nachträglich habe Mauthner ähnliche Gedanken bei Vico, Bacon, Hobbes, Locke, Hume, Kant, Hamann und Goethe gefunden, aber diese hätten den sprachkritischen Gedanken nicht Ende gedacht.

https://www.textlog.de/mauthner.html (Mauthners Sprachkritik, vgl. die Zusammenfassung in https://de.wikipedia.org/wiki/Fritz_Mauthner )

https://archive.org/details/erinnerungenipra00mautuoft/page/210/mode/2up?view=theater (Mauthners Brief an Harden, 1904, über die Quellen seiner Sprachkritik)

https://philosophierer.blogspot.com/2015/10/wittgenstein-und-mauthner.html (Wittgenstein und Mauthner)

https://www.gleichsatz.de/b-u-t/221149/schleich1.html (Hubert Schleichert, kritisch über Mauthners Sprachkritik)

https://also42.wordpress.com/2021/08/18/sprachkritik-in-der-philosophie-o-f-gruppe/ (Otto F. Gruppes Sprachkritik, Mauthner scheint sie nicht zu kennen)

https://norberto42.wordpress.com/2013/04/11/hofmannsthal-ein-brief-des-lord-chandos-inhalt-links-zum-verstandnis/ (zum Chandos-Brief, 1902 verfasst; vgl. Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“, 1906)

Sprachliche Schluderei im NDR

Am 6.9. wurde in einer Sendung des NDR (22.00 Uhr) jemand als „Digitaler Wahlkampfexperte“ vorgestellt. Das ist Schluderei im Quadrat: Kann denn jemand ein digitaler Experte sein? Richtig wäre: Experte für digitalen Wahlkampf.

Solche sprachliche Schlamperei ist aber beileibe nicht auf den NDR beschränkt, und von den Politikern einschließlich der Politikerinnen kann kaum noch jemand einen richtigen Weil-Satz bilden (als Nebensatz).

Semantik und Konstruktion von „warnen“

In der „Morgenlage“ des Tagesspiegels steht heute (4.3.2020): „Zuvor hatte der Geschäftsführer der Unionsfraktion, Michael Grosse-Brömer, davor gewarnt, keine falschen Hoffnungen zu wecken.“ Gemeint ist, dass Herr Grosse-Brömer davor warnte, falsche Hoffnungen zu wecken (er sagte also, man solle sie nicht wecken). – Ähnlich in der Weihnachtsausgabe der SZ 2021, Untertitel zu einem Artikel über die neue Covid-Variante (S. 8): „Es sieht so aus, als müssten Patienten mit Omikron seltener ins Krankenhaus. Trotzdem warnen Experten, keine falschen Hoffnungen zu wecken. Die Virusvariante bleibt gefährlich.“  Also: Die Experten sagen, man solle keine falschen Hoffnungen wecken; sie warnen davor, falsche Hoffnungen zu wecken.

Im Verb „warnen“ ist die Negation („nicht tun“!) impliziert, wie im „empfehlen“ die Negation fehlt („tun“!); dabei hat schon Gustav Wustmann vor über 100 Jahren auf diesen Fehler hingewiesen. Auch im Rundfunk hört man den gleichen Fehler oft – vom Fehlen des Konjunktivs, dem falschen Gebrauch von „weil“ oder dem falschen Gebrauch des Partizips Präsens („schuld sei das fehlende Vertrauen“ – nein, schuld sei das Fehlen des Vertrauens; das fehlende Vertrauen gibt es nicht, deshalb kann es auch nicht schuld sein) gar nicht zu sprechen!

Sachverhalte und Dinge – ein Unterschied

Die Sprache selbst guter Medien verroht. Beispiel: „Opposition kritisiert externe Berater der Bundesregierung“ (Nachrichten der Tagesschau, 11. Dezember 2018).

Was steht da? Dass die Opposition „externe Berater“, also eine Gruppe von Menschen (allgemeiner gesprochen: Dinge, Gegenstände unserer Welt) kritisiert. Was ist dagegen gemeint? Gemeint ist, dass durch die Opposition kritisiert wird, dass externe Berater von der Bundesregierung beschäftigt werden bzw. worden sind. Kritisiert wird also die Regierung (nicht die Berater!) dafür, dass sie zusätzlich zum eigenen Personal auch noch externe Berater beschäftigt (= bezahlt, aber ihnen so auch Einfluss gewährt). Kann die Pressestelle der Tagesschau das nicht sagen? Offensichtlich kann sie es nicht – um der Kürze willen wird in Kauf genommen, dass Falsches oder zumindest Missverständliches in die Welt gesetzt wird.

Gegenstände kann man mit einem Nomen bezeichnen, Sachverhalte werden in einem (dass-)Satz ausgedrückt. Das Personal der Pressestelle der Tagesschau hat nicht mit Erfolg am Unterricht der 6. Klasse teilgenommen.

Niklas Luhmann: Das Deutsch der Geschlechter

Das Problem hat schon manche Glosse auf sich gezogen, aber es ist zu ernst, als dass man es den Linguisten überlassen könnte. Die Sprache bevorzugt, haben Frauen entdeckt, auf hintergründige Weise den Mann. Das sollte, wird dann gefordert, sprachpolitisch korrigiert werden. Und wie immer bei Politik ist die Bürokratie das Instrument, mit dem das Desiderat zur Ausführung – und zum Entgleisen gebracht werden kann.
Auf rein sprachlicher Ebene sieht die Sache zunächst recht einfach aus. Das Deutsch gehört mit einigen anderen, aber keineswegs allen Sprachen zu denjenigen, die eine Geschlechtszuweisung an Hauptwörter erzwingen. Sie erfolgt automatisch und bedarf keiner Spezifikation. Diese Automatik führt jedoch zu Ungerechtigkeiten, gerade in der Behandlung der Geschlechter. Bedürfte es der Spezifikation, könnte man sie vollziehen – oder auch weglassen. Man könnte nicht nur geschlechtsneutral (sächlich), man könnte ohne jeden Bezug auf das Geschlecht formulieren. Wenn das nicht möglich ist, muss man sich mit Korrekturen der Automatik, mit Gegenspezifikationen behelfen, wenn man besondere Aufmerksamkeit erzeugen will, und damit sind wir beim Problem.
Ein Sonderfall ist besonders illustrativ: der Mensch (homme, hombre, uomo usw., alles männlich). Das lässt unklar, ob, wenn vom Menschen die Rede ist, Frauen mit gemeint oder, meinen die Frauen, heimlich ausgeschlossen sind. Und noch schlimmer: wenn Worte wie homme zugleich Mann bedeuten. Im lateinischen Mittelalter konnte man Frauen noch als mas (oder masculus) occasionatus (oder imperfectus) bezeichnen – ein unvollständiger Mann, nun ja! Im Französischen wurde dann homme manqué daraus.

Wer beschreibt wen?
Wie immer im Sprachlichen kann man sich mit anderen Formulierungen aushelfen. Die Auffassung, dass die Sprache Weltsichten determiniere (die sogenannte Whorf-Sapir-Hypothese), wird heute kaum noch ernst genommen. Warum dann die Aufregung?

Zum Thema
Verständlich wird dies, wenn man die Angelegenheit in der Sichtweise der Kybernetik zweiter Ordnung betrachtet, also als Problem des Beobachtens von Beobachtungen und des Beschreibens von Beschreibungen. Die Frauen haben, das ist der Punkt, herausgefunden, dass sie in der bisherigen Geschichte von Männern beschrieben worden sind. Durch umfangreiche historische und vor allem literaturgeschichtliche Untersuchungen ist das inzwischen hinreichend dokumentiert. Aber erst wenn man überhaupt fragt „Wer beschreibt wen?“ und erst wenn man diese Frage mit Hilfe der Unterscheidung von Mann und Frau konkretisiert, ergibt sich unser Problem, ergibt sich die neue Empfindlichkeit in Bezug auf Sprachpolitik.

Die Bedeutungsebene
Im Anschluss an Linguistik und Kybernetik kann schließlich auch die Soziologie etwas dazu sagen. Ihre Analysen können zeigen, dass es kein Zufall ist, wenn sich in der modernen Gesellschaft Bedeutungen nur noch auf der Ebene des Beobachtens von Beobachtungen und des Beschreibens von Beschreibungen festsetzen können. Die moderne Gesellschaft hat alle natürlichen Vorrechte, alle privilegierten Positionen für richtige Beschreibungen der Welt aufgelöst. Entsprechend florieren Ideologien und Ideologiekritik, konstruktivistische Erkenntnistheorien, historischer und kultureller Relativismus; und die zusammenfassende Formel dafür ist eben, dass Stabilität nur gewonnen werden kann, wenn und soweit sie sich auf dieser Ebene des durchschauenden Beschreibens von Beschreibungen halten lässt.
Kein Wunder also, dass schließlich auch die Frauen (sei es von Männern, sei es von Frauen) beschrieben werden müssen als Wesen, die beobachten, wie sie beobachtet, und dann beschreiben, wie sie beschrieben werden. Und wenn es zutrifft, dass die Frauenbeschreibungen historisch vorwiegend von Männern angefertigt worden sind, lässt sich geradezu erwarten, dass diese Affektion mit Kybernetik zweiter Ordnung zuerst bei Frauen – beobachtet werden kann.

Die Frauen können nichts dafür
Geradezu zwanghaft erscheint dann auch die Epidemie sprachpolitischer Empfindlichkeiten. Sie ist, wie die neue, sozusagen postgrammatikalische Aufmerksamkeit für Sprache überhaupt, eine Konsequenz der Strukturen moderner Gesellschaft. Die Frauen können nichts dafür. Sie selbst sind das Opfer. Man muss ihnen helfen.
Frauen neigen nämlich zur Übertreibung, wie man in einer alten Tradition männlicher Beschreibungen sagen könnte. Wenn sie fromm sind, sind sie zu fromm. Wenn sie grausam sind, sind sie zu grausam. Wenn sie in Geschäften hart und rigide führen, gehen sie auch darin zu weit. Und wenn sie Sprachpolitik treiben, dann ohne hinreichende Rücksicht auf Sprache.
Fast muss man befürchten, dass sie demnächst die Unsinnin auf die Gipfelin treiben. Aber auch, wenn man derartige Vorahnungen beiseitelässt, gibt es genügend Missgriffe zu kritisieren. Am deutlichsten erscheint das Problem aus Gründen, die nur eine statistische Analyse klären könnte, an Worten, die mit Mi anfangen. „Ministerin“ ist zum Beispiel ein solcher Fehlgriff. Es handelt sich um ein lateinisches Wort, und Ministra steht als gut etablierte Fassung zur Verfügung. Aber auch „Mitgliederinnen“ (was man es zuweilen in Anreden wie „liebe Mitglieder und Mitgliederinnen“ schon hören kann) ist unerträglich. Was wäre der Singular? Und überhaupt: Mitglied ist, wie übrigens das Glied auch, sächlich. Es besteht also gar kein Anlass, eine Überschätzung des Männlichen abzuwehren. Wenn es dann doch geschieht, müssten die Männer schließlich verlangen, als Mitgliederer angesprochen zu werden.
[„Postgrammatikalische Aufmerksamkeit“: Ein bislang unveröffentlichter Text aus dem Nachlass des 1998 verstorbenen Bielefelder Soziologen Niklas Luhmann zur Logik politischer Korrektheit und ihrer sprachlichen Gleichstellungsversuche.]
FAZ 30.09.09

Hier sieht man einmal mehr, zu welchem Unsinn sich die feministische Gesinnung verführen lässt bzw. welchen sie produziert. 

Deutsche Vorsilben und Nachsilben

Eine vollständige Übersicht über die deutschen Vor- und Nachsilben findet man in:

Johann August Eberhards synonymisches Handwörterbuch der deutschen Sprache. 16. Auflage, bearbeitet von Otto Lyon. Leipzig 1904, S. XX ff. (bzw. S. XI ff.: Vergleichende Darstellung der deutschen Vor- und Nachsilben):

A. Die Vorsilben oder Präfixe

Ab

Aber

After

Allenfalls

Aller

An

Ant

Auf

Aus

Auseinander

Außer

Be

Bei

Dar

Durch

Ein

Ent

Emp

Er

Erz

Fort

Ge

Gegen

Her

Herab

Heran

Herauf

Heraus

Herbei

Herein

Hernieder

Herum

Herunter

Hervor

Herzu

Hin

Hinter

Los

Miß (= Miss)

Mit

Nach

Neben

Nieder

Nicht

Ober

Ohn und Ohne

Über

Um

Un

Unter

Ur

Ver

Voll

Vor

Vorüber

Weg

Wider

Wieder

Wohl

Zer

Zu

Zusammen

B. Die Nachsilben oder Suffixe

Bar

Chen, Lein

D (s. -end)

De

E

Ei

El

Eln

En

End

Er

Ern

Fach und -faltig, -fältig

Ft

Haft

Halb

Hand

Heit

Ich

Icht

Ig

In

Ing

Ieren

Isch

Ist

Keit (s. -heit)

Lei

Lein (s. -chen)

Lich

Los

Mal

Nis

Sal

Sel

Selig

Sam

Schaft

Ste

T (te)

Te

Tel

Tum

Ung

Wärts

Zehn

Zig

Also dann: Auf ins Studieren der Vor- und Nachsilben!

Über den Nutzen von Hilfsverben – in „Tristam Shandy“

In „Leben und Ansichten von Tristam Shandy, Gentleman“ habe ich (allerdings in der modernen Walter-Übersetzung) eine köstliche Passage über den Nutzen der Hilfsverben gefunden. Tristams Vater hat sich Gedanken über die Erziehung seines Sohnes gemacht, hält sie in einem Buch fest und trägt sie hier seinen staunenden Zuhörern vor. Ich gebe sie leicht gekürzt wieder:

Ich bin überzeugt davon, Yorick, fuhr mein Vater fort, indem er halb las, halb frei sprach, daß es auch in der intellektuellen Welt eine nordwestliche Durchfahrt giebt, und daß die Seele des Menschen einen kürzeren Weg einschlagen kann, um zum Wissen und zum Erkennen zu gelangen, als den gewöhnlichen. – Aber ach! nicht neben jedem Acker läuft ein Fluß, oder ein Bach – nicht jedes Kind, Yorick, hat einen Vater, der ihm diesen Weg zeigen könnte.

Das Ganze beruht – dies sagte mein Vater mit leiserer Stimme – auf den Hülfszeitwörtern.

Hätte Yorick auf Virgils Natter getreten, er hätte nicht erschrockener aussehen können. – Ich erstaune selbst darüber, rief mein Vater, der es bemerkte, und halte es für einen der beklagenswerthesten Uebelstände unseres Bildungsganges, daß die, welchen die Erziehung unserer Kinder anvertraut ist, deren Geschäft es sein sollte, ihren Geist zu entwickeln und ihn mit Ideen zu befruchten, damit die Einbildungskraft sich frei bewege, bis jetzt so wenig Nutzen von den Hülfszeitwörtern gezogen haben, wie es der Fall ist, mit Ausnahme etwa von Raymond Lullius und dem ältern Pellegrini, welcher Letztere sich in dem Gebrauche derselben bei seinen Gesprächen eine solche Fertigkeit erworben hatte, daß er einen jungen Mann in wenigen Lehrstunden dahin bringen konnte, über jeden beliebigen Gegenstand ganz plausibel pro und contra zu reden und Alles, was darüber gesagt oder geschrieben werden konnte, zu sagen oder zu schreiben, ohne sich in einem Worte verbessern zu müssen, worüber Alle, die es sahen, erstaunt waren.

Ich möchte das gern ganz begreifen, unterbrach Yorick meinen Vater. – Sie sollen es, erwiederte dieser. – Die höchste Anwendung, deren ein Wort fähig ist, ist als bildlicher Ausdruck, – wodurch meiner Ansicht nach die Vorstellung gemeiniglich eher abgeschwächt, als verstärkt wird – doch lassen wir das; hat nun der Geist diese Anwendung davon gemacht, so ist die Sache zu Ende; – Geist und Vorstellung sind mit einander fertig, bis eine zweite Vorstellung auftritt u.s.w.

Nun sind es aber die Hülfsverben, welche die Seele in den Stand setzen, das ihr zugeführte Material selbstständig zu behandeln, und durch die Beweglichkeit der großen Maschine, um die es läuft, neue Wege der Untersuchung zu eröffnen und jede einzelne Vorstellung millionenfach zu vervielfältigen.

Sie erregen meine Neugierde im höchsten Grade, sagte Yorick. […]

Die Hülfsverben, von denen hier die Rede ist, fuhr mein Vater fort, sind sein, haben, werden, mögen, sollen, wollen, lassen, dürfen, können, müssen und pflegen in den verschiedenen Zeiten der Gegenwart, Zukunft oder Vergangenheit und in Verbindung mit dem Verbumsehen angewandt. Als positive Frage: Ist es? Was ist es? Kann es sein? Konnte es sein? Mag es sein? Mochte es sein? – Als negative Frage: Ist es nicht? War es nicht? Soll es nicht sein? – Oder affirmativ: es ist – es war – es muß sein, – oder chronologisch: Ist es je gewesen? Kürzlich? Wie lange ist es her? – oder hypothetisch: Wenn es war? Wenn es nicht war? Was würde daraus folgen? Wenn die Franzosen die Engländer schlagen sollten? Wenn die Sonne aus dem Thierkreis treten würde?

Würde nun eines Kindes Gedächtniß durch den rechten Gebrauch und die rechte Anwendung dieser Formen geübt, fuhr mein Vater fort, so könnte keine Vorstellung in sein Gehirn eintreten, und wäre es auch noch so unfruchtbar, ohne eine unendliche Menge von Begriffen und Folgerungen daraus zu ziehen. – Habt Ihr schon einmal einen weißen Bären gesehen? rief mein Vater und kehrte sich rasch nach Trim um, der hinter seinem Stuhle stand. – Nein, Ew. Gnaden, erwiederte der Korporal. – Aber Ihr könntet darüber reden, Trim, sagte mein Vater, wenn es sein müßte? – Wie wäre denn das möglich, Bruder, sagte mein Onkel Toby, wenn er nie einen gesehen hat. – Das brauch‘ ich gerade, erwiederte mein Vater, Du sollst sehen, daß es möglich ist:

Ein weißer Bär! Sehr wohl, habe ich je einen gesehen? Könnte ich jemals einen sehen? Werde ich jemals einen sehen? Dürfte ich jemals einen sehen? oder – sollte ich jemals einen sehen?

Ich wollte, ich hätte einen weißen Bären gesehen! (wie könnte ich mir sonst einen vorstellen?)

Sollte ich einen weißen Bären sehen, was würde ich dazu sagen? Wenn ich nie einen weißen Bären sehen sollte, was dann?

Wenn ich nie einen weißen Bären habe sehen können, sollen, dürfen, – habe ich vielleicht ein Fell von ihm gesehen? Habe ich einen abgebildet, geschildert gesehen? Habe ich je von einem geträumt?

Haben mein Vater, meine Mutter, mein Onkel, meine Tante, mein Bruder oder meine Schwestern je einen weißen Bären gesehen? Was würden sie darum geben? Wie würden sie sich dabei betragen? Wie würde der weiße Bär sich dabei betragen? Ist er wild? zahm? schrecklich? struppig? glatt?

Ist es der Mühe werth, einen weißen Bären zu sehen?

Oder eine weiße Bärin?

Ist es keine Sünde?

Ist es besser, als eine schwarze?

(5. Buch, Kap. 42 und 43, bzw. in der hier benutzen Ausgabe http://www.zeno.org/Literatur/M/Sterne,+Laurence/Roman/Tristram+Shandy: Zweiter Band, Kap. 42 und 43)

Neben dem satirischen Seitenhieb auf mehr oder weniger sinnvolle grammatische Übungen und leeres rhetorisches Stroh erkenne ich hier eine Parodie auf die Fragen des Beichtspiegels.

Die indirekte Rede im Deutschen

Die indirekte Rede

Überall, wo etwas berichtet wird (Zeitung usw.), wird die indirekte Rede gebraucht. Wenn man die Äußerung eines anderen Menschen (A) wiedergibt, kann man das (als Sprecher S) wörtlich oder eben indirekt tun. Der Unterschied ist folgender:

  • Wenn man die Äußerung des A wörtlich (also buchstäblich genau, mit Anführungs- und Schlusszeichen) wiedergibt, ist man für deren Wahrheit nicht verantwortlich: (1) Hans sagte vorgestern: „Ich fahre heute noch nach Berlin.“
  • Wenn man die Äußerung des A indirekt, also ohne Anführungszeichen wiedergibt, distanziert man sich davon im Konjunktiv I, und man bezieht den Inhalt der Äußerung perspektivisch auf den eigenen Standpunkt: (1)‘ Hans sagte vorgestern, er fahre noch am gleichen Tag nach Berlin.
  • Das gilt nicht nur für Personen und Zeit, sondern auch für den Ort: (2) Hans sagte gestern bei seiner Oma: „Hier bin ich richtig zu Hause.“(2)‘ Hans sagte gestern bei seiner Oma, dort sei er richtig zu Hause.
  • Frage- und Befehlssätze werden bei der Wiedergabe umgeformt: (3) Anna sagte: „Gebt Tanja bitte Bescheid!“(3)‘ Anna sagte, sie sollten Tanja [bitte] Bescheid geben.(4) Ben fragte: „Kommt Tanja auch mit?“

    (4)‘ Ben fragte, ob Tanja auch mitkomme.

Aus dem Ich-Hier-Jetzt des A wird bei der indirekten Rede des S also Er-Dort-Damals; wie man das jeweils sprachlich ausdrücken kann, muss man im Einzelfall prüfen.

S verändert die Äußerung des A, wenn er sie indirekt wiedergibt; das muss er fairerweise kenntlich machen, indem er die Äußerung A.s in den Konjunktiv setzt. (Wenn aber im Bericht des S nach einem Verb des Sagens klar ist, dass es sich um eine Äußerung A.s handelt, kann S auch auf den Konjunktiv verzichten; der Übung halber soll das jetzt nicht geschehen.) Wenn eindeutige Formen des Konjunktivs I zur Verfügung stehen, sind diese vorzuziehen; andernfalls weicht man auf den Konjunktiv II aus.

Für die indirekte Wiedergabe einer Äußerung A.s kann S auch einen dass-Satz nehmen:

(2)‘‘ Hans sagte gestern bei seiner Oma, dass er dort richtig zu Hause sei.

(3)‘‘ Anna sagte, dass sie Tanja Bescheid geben sollten.

Fragesätze kann man nicht in dass-Sätze umwandeln.

Wie die Konjunktivformen gebildet werden: https://www.schule-bw.de/faecher-und-schularten/sprachen-und-literatur/deutsch/sprache/grammatik/konjunktiv/konjunktivbildung_neu.pdf