Den Handlungsverlauf beschreiben?

In der von QUA-Lis NRW entwickelten Deutschklausur, die 2016 zentral für die Qualifikationsphase in NRW vorgeschrieben war, lautete die erste Aufgabe: für den Anfang von Kehlmanns Roman „F“ den Handlungsverlauf strukturiert beschreiben.

Man muss diese Aufgabenstellung sehr genau lesen: Strukturiert soll demnach die eigene Beschreibung sein; nun ist jede chronologische Beschreibung eines Handlungsverlaufs strukturiert: chronologisch strukturiert, das zu leisten ist kein Kunststück. Ich vermute allerdings, dass gemeint war: die Struktur des Handlungsverlaufs beschreiben. Das ist aber beim Anfang des Romans „F“ eher unmöglich; denn wir haben nicht einen Handlungsverlauf, sondern die Erzählung eines Handlungsverlaufs vor uns; also müsste die Struktur der Erzählung untersucht werden.

Nun kommt die Pointe: Die Erzählung ist nicht durch eine zeitliche Abfolge von Handlungen, sondern durch den Blick des Erzählers strukturiert:

  • Zuerst wird das Geschehen aus dem Jahr 1984 zeitlich situiert, indem es als Vorgeschichte eines (noch unbekannten) späteren Geschehens qualifiziert wird.
  • Dann wendet der Erzähler sich einem Ereignis des Jahres 1984 zu, einer Begegnung Martins mit seinem Vater und dessen beiden Söhnen aus einer zweiten Ehe, wobei es beinahe zu einem Unfall gekommen wäre.
  • Dabei blickt der Erzähler abwechselnd auf den Vater bzw. das Geschehen insgesamt oder auf Martin (zuerst sind es zwei Erzählstränge, die dann zusammengeführt werden); der Blick wechselt mehrfach, einmal wird in einer Martin-Passage auch der Blick kurz auf dessen Mutter gerichtet.
  • Zum Schluss blickt der Erzähler (nach einer Auslassung) in die Zukunft und deutet an, wie sich die drei Jungen weiterentwickeln.

Das alles ist aber kein „Handlungsverlauf“, sondern erzähltes Geschehen, das durch den Blick des Erzählers strukturiert wird. Deshalb kann man, um diese Struktur zu erfassen, nicht die Struktur des Handlungsverlaufs beschreiben und erst recht nicht den Handlungsverlauf strukturiert beschreiben!

Warum können die Produzenten dieser zentral gestellten Aufgabe nicht sagen, was die Schüler tun sollen?

  • Haben sie die Struktur des Textes nicht verstanden?
  • Wissen sie vielleicht nicht einmal, dass ein Erzähltext nicht durch Handlungen, sondern durch den Erzähler strukturiert wird?
  • Oder können sie nicht ausdrücken, was sie verstanden haben, vielleicht weil die didaktische Tradition respektive die Deutschlehrer nicht klar genug zwischen Autor – Text – Geschehen – Erzähler unterscheiden (und die sprachlichen Handlungen des Erzählers nicht benennen können)?
  • Haben sie sich vielleicht auf einen Kollegen verlassen, der eine fertige Klausur aus seinem Vorrat hervorkramte und damit allen die Arbeit abnahm, selber eine Klausur zu erarbeiten?

Ich finde es traurig, dass zentral gestellte Aufgaben derart schlampig formuliert sind. Sprachliche Gestaltung der Aufgabenstellung: mangelhaft.

Stierle: Geschichte als Exemplum – Referat

Karlheinz Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte. Zur Pragmatik und Poetik narrativer Texte. In: Geschichte – Ereignis und Erzählung (Poetik und Hermeneutik V), München 1973, S. 347 ff.

Kurzreferat (im Indikativ, also in Stierles Perspektive)

I

Texte sind dem Verstehen zugänglich als Sprache und als Handlung; Bedeutung des Begriffs Sprachhandlung. Austin: act of saying und act by saying. Zur Semiotik und Pragmatik kommt eine Textpoetik hinzu: Freisetzung von Sprachhandlungen aus dem pragmatischen Kontext.

Es gibt verschiedene Arten von Erzählungen, denen jedoch das gleiche dreistufe narrative Schema (nach A. C. Danto) zugrunde liegt: Dem Subjekt X kommt zuerst das Prädikat F, am Ende das Prädikat G zu; dabei sind F und G Oppositionen. Zwischen ihnen vermittelt die Geschichte H im Zeitverlauf des Geschehens. Paradigmatische Oppositionen werden so syntagmatisch entfaltet; es gibt dabei elementare Oppositionen, deren Richtungssinn festgelegt ist (z. B. jung -> alt).

Erst durch Besetzung des narrativen Schemas auf verschiedenen Ebenen wird die Geschichte konstituiert.

II

Lessings „Abhandlungen über die Fabel“ zeigen, wie sich aus einem systematischen ein narrativer Text gewinnen lässt: durch Transformation des Allgemeinen ins Besondere. Indem die Geschichte dann als vergangene erscheint, kann sie als ganze erscheinen.

Das Allgemeine erscheint in der Fabel als Besonderes, im Exemplum im Besonderen. Das Geschehen gewinnt exemplarischen Charakter, weil Geschichte sich wiederholt und Belehrung ermöglicht. Seit Ende des 18. Jh. schwindet das Exemplum, weil Geschichte nicht mehr als magistra vitae erscheint.

III

Boccaccio hat das Exemplum problematisiert und in die Novelle umgewandelt: Das Exemplum wird zum Kasus, der nicht (mehr) zur Nachahmung aufruft, sondern zur Beurteilung. Die Novelle lädt zur Reflexion ein, zur unabschließbaren Suche nach Begriffen; an die Stelle des Typischen ist der Einzelfall getreten, der wegen seiner Einmaligkeit problematisch sein kann. Bei Boccaccio stehen die Novellen eines Tages allerdings noch in einem paradigmatischen Rahmen.

Die Hörer/Erzähler dieser Novellen sind mündig. Der reale Leser kann sich mit diesen Hörern identifizieren und so an der idealen Versöhnung von Natur und Vernunft teilhaben.

IV

Montaigne ist skeptisch, auch gegenüber seinen Beispielen, und gewinnt so einen Spielraum des Reflektierens. Die Relation von Exemplum und Sentenz wird bei ihm zum Verhältnis von problematisiertem Exemplum und problematisierter Sentenz (d.h. zur Reflexion). Die Unmöglichkeit von Exempla impliziert die Unmöglichkeit von Geschichten und damit auch der eigenen Lebensgeschichte; sie ermöglicht den Essay. Ihm entspricht die Widersprüchlichkeit der eigenen Existenz in verschiedenen Momenten des Lebens. Man kann nur der Vielfalt dieser Momente inne werden – sie zu bereuen ist nicht möglich, weil es keinen privilegierten Moment des Erkennens des Ganzen gibt.

Erst der moderne Roman hat sich die poetische Sprachhandlung „unmögliche Geschichte“ als Aufgabe gesetzt.

Was sind Sinnabschnitte eines Textes?

„Ein inhaltlich abgeschlossener Teil eines Textes bildet einen Sinnabschnitt. Meistens besteht er aus einem oder mehreren Absätzen. In Sachtexten enthalten Sinnabschnitte jeweils einen neuen Sachverhalt. In erzählenden Texten beginnt ein neuer Sinnabschnitt dann, wenn eine neue Person eingeführt wird, der Ort wechselt oder sich die Handlung ändert. Das Bilden von Sinnabschnitten hilft dir beim Verstehen, Zusammenfassen und Wiedergeben von Texten.“ (Klar|text 9, Westermann, S. 285)

Ich teile diese Erklärung von „Sinnabschnitt“ in Sinnabschnitte und diskutiere sie einzeln:

1. „Ein inhaltlich abgeschlossener Teil eines Textes bildet einen Sinnabschnitt. Meistens besteht er aus einem oder mehreren Absätzen.“ Inhaltlich abgeschlossen ist vermutlich erst der ganze Text. Zweitens ist es problematisch, einen Text von seinem „Inhalt“ statt vom Thema oder vom Sprecher her verstehen zu wollen: Was besagt schon „Inhalt“? Die Unterscheidung von Abschnitt und Absatz ist immerhin lobenswert.

2. „In Sachtexten enthalten Sinnabschnitte jeweils einen neuen Sachverhalt.“ Erstens weiß kein Schüler exakt, was ein Sachverhalt ist; zweitens enthält vermutlich jeder Satz einen Sachverhalt; drittens ist das offenkundig Unsinn – in einem Lexikonartikel „Frankreich“ bilden zum Beispiel die Darstellung des Klimas, der Geschichte, der Musik Frankreichs Sinnabschnitte, aber sie werden doch nicht in jeweils bloß einem Satz dargestellt (und umfassen auch mehr als einen Sachverhalt!). Man könnte eher die Behandlung eines Aspekts des Themas einen Sinnabschnitt nennen: bei einem Lexikonartikel zum Beispiel – aber auch bei einem Beschwerdebrief?

3. „In erzählenden Texten beginnt ein neuer Sinnabschnitt dann, wenn eine neue Person eingeführt wird, der Ort wechselt oder sich die Handlung ändert.“ Über diese drei Angaben könnte man streiten, wenn sie sachlich oder für einen Schüler klar wären: „alle meine Bekannten und Kameraden“ in Eichendorffs „Aus dem Leben eines Taugenichts“ (RUB 2354, S. 5. Z. 25 f.), sind das neue Personen? Ist die Kammerjungfer dort (S. 8, Z. 7) oder der Gärtner (S. 8, Z. 21) eine neue Person neben dem Jemand in Staatskleidern? Wechselt der Ort, als der Taugenichts aus dem Dorf hinausschlendert (S. 5, Z. 25 f.)?  Oder als er ins freie Feld kommt (S. 5, Z. 34)? Die Handlung ändert sich sicher, als der Reisewagen kommt (S. 6, Z. 17 f.); aber ändert sie sich auch mit der Ankunft im Schloss (S. 7, Z. 23)? Ein neuer Sinnabschnitt beginnt sicher mit dem Satz: „In dem Garten war schön leben …“ (S. 8, Z. 34) – aber da ändert sich nicht „die Handlung“, sondern der Erzähler beschreibt jetzt allgemein, wie der Taugenichts im Schloss lebt – und dies ist der Fakt: „allgemein beschreiben“ ist eine sprachliche Handlung des Erzählers, die man mit den Kategorien des Sprach-Lesebuchs nicht in den Griff bekommt. Ohne den Begriff des Sprechaktes kann man Texte nicht angemessen erfassen! (Vgl. https://norberto68.wordpress.com/2011/02/14/sprechakte-sprachliches-handeln/ und „sprachliches Handeln“ bei den Schlagwörtern, oben rechts!)

4. „Das Bilden von Sinnabschnitten hilft dir beim Verstehen, Zusammenfassen und Wiedergeben von Texten.“ Erstens bildet der Schüler nicht die Sinnabschnitte, sondern er erkennt höchstens vorhandene Sinnabschnitte. Zweitens kann man „Zusammenfassen und Wiedergeben“ nicht gleichberechtigt neben Verstehen stellen. Und drittens darf man bezweifeln, ob derart unklar bestimmte Sinnabschnitte wirklich einem Schüler helfen. Ich zitiere eine Stimme aus dem Internet:

Hallo.

wir haben als Hausaufgaben auf, einen Text in Sinn abschnitte zu teilen & für jeden Abschnitt eine Überschrift zu finden. Mein Problem ist, – ich weiß nicht wann ein Sinn abschnitt anfängt, bzw. er zu Ende ist. Wo ran kann ich Sinn abschnitte erkennen? (http://www.gutefrage.net/frage/sinnabschnitte-wie)

Wenn man sieht, wie schwer selbst teachsam sich mit den Sinnabschnitten tut, könnte man auch auf die Idee kommen, das Problem läge beim Konzept der Sinnabschnitte, nicht bei teachsam oder dem armen Schüler mit seiner guten Frage: http://www.teachsam.de/arb/arb_tinh_auf_0.htm (vgl. http://www.teachsam.de/arb/arb_tinh_auf_1.htm): „Sinnabschnitte beziehen sich stets hauptsächlich auf den Inhalt eines Textes. Es geht also dabei im Allgemeinen nicht darum aufzuzeigen, wie sich die Aussagen eines Textes zu einer Argumentation fügen. In diesem Sinne will man bei der Einteilung des Textes in Sinnabschnitte also den Gedankengang eines Textes nicht darstellen. Sinnabschnitte geben also nur das Nacheinander und das Zueinandergehören von inhaltlichen Gesichtspunkten in einem Text wieder.“ Ja – aber was macht denn einen Text aus? Besteht ein Text wirklich aus dem Nacheinander von inhaltlichen Gesichtspunkten, ist „Sinn“ = Summe der Inhalte? Nein! Das geht auch direkt aus der restriktiven Einschätzung bei teachsam („nur das Nacheinander und das Zueinandergehören von inhaltlichen Gesichtspunkten“) hervor. Vgl. auch https://norberto68.wordpress.com/2011/01/12/text-koharenz-thema/

Es drängt sich mir der Verdacht auf, dass Sinnabschnitte erfunden wurden, um von Schülern eine „Zusammenfassung des Textes“ verlangen zu können und den nicht direkt greifbaren Sinn aus einer Addition von Inhaltsbruchstücken zu konstruieren. Von den Sinnabschnitten selber gelten dann anscheinend drei Gesetze: 1. Ein Sinnabschnitt (wie kann man vom Sinn ein Viertel abschneiden?) ist ein Abschnitt im Text. 2. Wo ein Sinnabschnitt beginnt oder endet, bestimmt der Lehrer. 3. Ob man die richtige Überschrift findet, ist Glückssache. – Zumindest bei Sachtexten sollte man eigentlich erwarten, dass ein Absatz den Beginn eines neuen Sinnabschnitts markiert; wenn dem nicht so ist, zeigt das m.E. vor allem, dass der Begriff des Sinnabschnitts problematisch ist (oder dass der Verfasser des Textes nicht klar gedacht hat).

Zur Korrektur des Sprach-Lesebuchs Klar|text 9 hier die Liste der Fachschaft Deutsch eines Gymnasiums:

Um einen Text zusammenzufassen, müsst ihr den Aufbau des Textes herausarbeiten und ihn in so genannte Sinnabschnitte gliedern. Den Beginn eines solchen Sinnabschnittes erkennt man häufig an folgenden Merkmalen:

* Eine neue Handlung setzt ein

* Ein Gespräch beginnt oder endet

* Der Ort der Handlung wechselt

* Figuren kommen hinzu oder entfernen sich

* Ein Zeitsprung wird gemacht

Das ist so klar an der Aufgabenstellung einer „Zusammenfassung“ von Erzähltexten und Dramen orientiert, dass die unterrichtspraktische Herkunft der „Sinnabschnitte“ [bei Dramen würde man einfach sagen: Es beginnt eine neue Szene!] offenliegt – in fachwissenschaftlichen Wörterbüchern sucht man das Stichwort vergebens. Denn was tut man mit Texten, in denen keine neue Handlung einsetzt, kein Gespräch beginnt oder endet, der Ort der Handlung nicht wechselt (weil es ihn z.B. nicht gibt) und auch keine Figuren hinzukommen oder sich entfernen? (Ich würde mich stark machen, auch die hilflose Anleitung der digitalen Schule Bayern zu zerpflücken.) Erfunden wurden die Sinnabschnitte, um den Schülern beim Verstehen zu helfen, aber praktisch dienen sie dazu, die Schüler zu verwirren und dem Lehrer einen Maßstab zur Punkteverteilung zu liefern („fünf von sieben Sinnabschnitten richtig erkannt“). Das ganze Konzept der Sinnabschnitte ist fragwürdig (weil Sinn nicht abschnittweise inhaltlich linear hergestellt wird, sondern sich aus der Bewegung des Denkens und Sprechens insgesamt ergibt), wie man Erzählungen ja auch nicht mit der simplen Konstruktion von Handlungsschritten erfassen kann – das merkt man aber erst, wenn man sich darauf einlässt, selber sein eigenes Konzept kritisch zu erproben.

Richtig am Verfahren, Sinnabschnitte zu  bilden, ist jedoch die Idee, dass man sich Rechenschaft von dem, was man liest, geben soll; dass man seine eigene Einteilung eines Textes in Sinnabschnitte mit der anderer Leser vergleichen und unterschiedliche Lösungen diskutieren sollte; dass man sich bemühen muss, die Struktur des Textes oder den Sinn hinter der Abfolge von Wörtern und Sätzen zu finden. Wie das gehen kann, ist nach wie vor eine offene Frage und bei der Vielfalt von Texten vermutlich nicht durch ein einziges Verfahren zu leisten. Hier muss man auf das zurückgreifen, was man zur Textanalyse wissen kann (siehe die Tags oben rechts!) und was ich exemplarisch u.a. an der Untersuchung des Aufbaus von Gedichten durchgespielt habe.

Beispiel/Übung: Lies die folgende Fabel zweimal und schreibe sie dann ab; teile sie dabei in Sinnabschnitte ein, bei denen du jeweils einen neuen Absatz beginnst!

Der Löwe und die Maus

Eines Tages, als ein Löwe in der Savanne im Gras schlief, lief eine kleine Maus auf dem Kopf des Löwen herum. Der Löwe erwachte mit lautem Gebrüll und schnappte die winzige Maus mit seiner Pfote. Das große Tier wollte gerade seinen Rachen öffnen, um sie zu verschlucken, als diese voller Angst piepste: „Entschuldige bitte, mein König, ich wollte Euch nicht stören. Ich bitte Euch, Majestät, mir nur dieses eine Mal zu vergeben. Wenn Ihr mein Leben verschont, werde ich Euch eines Tages auch einmal helfen.“ Der Löwe begann zu lachen und lachte und lachte. „Wie kann eine winzige Maus jemals irgendetwas tun, um mir zu helfen? Na gut“, meinte er dann achselzuckend und betrachtete die ängstliche Maus, „du bist sowieso nur eine halbe Portion“, und ließ die Maus frei, die schnell davonlief. Nach einiger Zeit geschah es, dass Jäger im Grasland Fallen aufstellten. Der Löwe, der auf der Suche nach Futter war, geriet in das Netz. Er brüllte laut und versuchte, sich zu befreien. Die kleine Maus hörte das Brüllen des Löwen und erinnerte sich an ihr Versprechen. So schnell sie konnte, lief sie hin, um zu sehen, was sie tun könne. Als sie den Löwen entdeckte, rief sie ihm zu: „Warte, ich werde dich aus dieser Falle befreien!“ Mit ihren scharfen kleinen Zähnen nagte sie an den Maschen des Netzes, so dass ein großes Loch entstand. Als der Löwe herausgekrabbelt und frei war, sagte er glücklich: „Danke, liebe kleine Maus. Du hast mir geholfen, auch wenn du nur sehr klein bist.“ (nach https://media.sodis.de/open/melt/ab2_fabelloeweundmaus_sw.pdf, leicht überarbeitet)

Zur Lösung: In der Vorlage gibt es sechs Sinnabschnitte; ich habe nur vier Sinnabschnitte gefunden bzw. gemacht (habe die letzten drei der Vorlage als einen einzigen zusammengefasst). Es gibt also durchaus sinnvolle Lösungen (die ersten drei Abschnitte), aber auch problematische Lösungen (die letzten drei Absätze in der Vorlage). Gib dir Rechenschaft darüber, warum du einen neuen Absatz anfängst bzw. warum der Erzähler einen neuen Absatz gemacht hat! (Meine Lösung: https://norberto42.wordpress.com/2015/03/11/der-lowe-und-die-maus-fabel/) In Hans Lammersen: Lernzirkel Deutsch: Inhaltsangabe, AOL Verlag 2016, ist dieser Text übernommen und wieder in sechs Sinnabschnitte eingeteilt worden (S. 36), aber anders als in meiner Vorlage. Was ergibt sich aus der Tatsache, dass drei Autoren drei verschiedene Lösungen bei der Einteilung dieser Fabel in Sinnabschnitte anbieten?

Kleines P.S.: In der Vorlage gerät der Löwe im Urwald in die Falle – das ist natürlich Quatsch, weil Löwen nicht im Urwald leben.

2. Beispiel/Übung: Lasse dir von jemandem das Märchen vom Wolf und den sieben jungen Geißlein diktieren (in meiner überarbeiteten Fassung), zuerst einmal zum Hören, beim zweiten Mal zum Schreiben (Satz für Satz); beginne an den Stellen, wo ein neuer Sinnabschnitt anfängt, einen neuen Absatz. Vergleiche dann deine Lösung mit meiner und gib dir Rechenschaft, warum wir jeweils einen neuen Absatz begonnen haben; wenn du ähnliche Übungen öfter machst, wirst du sprachliche Signale kennenlernen, mit denen solche Übergänge markiert sind. – Meinen zweiten Absatz könnte man noch unterteilen, d.h. man könnte aus ihm drei kleine Absätze machen; daran siehst du, wie man über Sinnabschnitte streiten kann.

3. Beispiel/Übung: Lasse dir von jemandem das Märchen von Strohhalm, Kohle und Bohne diktieren, zuerst einmal zum Hören, beim zweiten Mal zum Schreiben (Satz für Satz); beginne an den Stellen, wo ein neuer Sinnabschnitt anfängt, einen neuen Absatz. Vergleiche dann deine Lösung mit meiner und gib dir Rechenschaft, warum wir jeweils einen neuen Absatz begonnen haben. – Zur Lösung: Man kann durchaus auch nur vier Sinnabschnitte bilden, und zwar (in meiner Lösung) die Absätze 1, 2-4, 5-6 und 7-8 (oder z.B. 1, 2-4, 5, 6, 7, 8). Auch hier sieht man, wie problematisch der Begriff des Sinnabschnittes ist – offenbar gibt es stärkere und schwächere Einschnitte (Staustufen) im Fluss des Erzählens; weniger als vier Absätze/Sinnabschnitte zu bilden halte ich aber nicht für angemessen.

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Am 22. Mai 2016, dem Fest der heiligen Renata, eingeschobener Nachtrag :

„Spätestens seit Ende der Sechziger ist der Begriff der Emanzipation die Monstranz in der Prozession aller rechtgläubigen Pädagogen und Soziologen. In schulischen Richtlinien findet er sich bei der Formulierung von Erziehungszielen unangefochten auf den oberen Rängen. Daß er mit der Heilsbringermentalität eines pädagogischen Gesalbten unvereinbar ist, wird dabei regelmäßig übersehen. Von höherer Weisheit getrieben und ausgestattet mit den Werkzeugen ausgeklügelter Didaktik und Methodik, sind wir Lehrer nämlich eher geneigt, zu konditionieren als loszulassen, zu bearbeiten als arbeiten zu lassen, zu belehren als lernen zu lassen. Dazu zwei Beispiele.“ (http://www.zeit.de/1997/13/Die_Dressur_stolzer_Horden) Das ist der Anfang eines Aufsatzes unter der Überschrift „Die Dressur stolzer Horden. Laßt doch den Flegeln ihren Lauf! Zwischenruf eines genervten Schulleiters“, der 1997 in der ZEIT erschienen ist. An diesem Absatz kann man vielleicht zeigen, was die Rede vom Sinnabschnitt ausdrücken soll.

Zuerst habe ich nach Jahren – ich kenne den Text seit langem und habe ihn öfter in Kl. 10/11 zum Erörtern freigegeben – den Text folgendermaßen ‚gegliedert’: „Spätestens seit Ende der Sechziger ist der Begriff der Emanzipation die Monstranz in der Prozession aller rechtgläubigen Pädagogen und Soziologen. In schulischen Richtlinien findet er sich bei der Formulierung von Erziehungszielen unangefochten auf den oberen Rängen. Daß er mit der Heilsbringermentalität eines pädagogischen Gesalbten unvereinbar ist, wird dabei regelmäßig übersehen. / Von höherer Weisheit getrieben und ausgestattet mit den Werkzeugen ausgeklügelter Didaktik und Methodik, sind wir Lehrer nämlich eher geneigt, zu konditionieren als loszulassen, zu bearbeiten als arbeiten zu lassen, zu belehren als lernen zu lassen. / Dazu zwei Beispiele.“ Den Schlusssatz abzutrennen halte ich für unproblematisch; denn er leitet zum folgendem Text über („Erste Szene…“). Die ersten drei Sätze habe ich dabei unter dem Aspekt „religiöse Metaphern zur Abwertung pädagogischer Ziele“ zusammengefasst. Das scheitert jedoch daran, dass dann unklar ist, wer der pädagogische Gesalbte sein soll. Zweitens scheitert diese Einteilung am Adverb „nämlich“ im vorletzten Satz; denn dieser Satz hat bei meinem ersten Verständnis keine begründende Funktion: Wieso machen die Lehrer denn etwas falsch (belehren statt lernen lassen usw.)?

Die Lösung der Rätsel ergibt sich bei folgender Einteilung: „Spätestens seit Ende der Sechziger ist der Begriff der Emanzipation die Monstranz in der Prozession aller rechtgläubigen Pädagogen und Soziologen. In schulischen Richtlinien findet er sich bei der Formulierung von Erziehungszielen unangefochten auf den oberen Rängen. / Daß er mit der Heilsbringermentalität eines pädagogischen Gesalbten unvereinbar ist, wird dabei regelmäßig übersehen. Von höherer Weisheit getrieben und ausgestattet mit den Werkzeugen ausgeklügelter Didaktik und Methodik, sind wir Lehrer nämlich eher geneigt, zu konditionieren als loszulassen, zu bearbeiten als arbeiten zu lassen, zu belehren als lernen zu lassen. / Dazu zwei Beispiele.“ Dann zeichnet die „Heilsbringermentalität eines pädagogischen Gesalbten“ den normalen („guten“) Lehrer aus, der eben das Wesentliche falsch macht; dessen Mentalität ist jedoch mit der von den „fortschrittlichen“ Lehrern propagierten „Emanzipation“ der Schüler nicht vereinbar. – Diese Gliederung war wegen des Wechsels vom Singular (des pädagogischen Gesalbten) zum Plural „wir Lehrer“ nicht leicht zu erkennen; sie ist jedoch die einzig mögliche, die einen Gedankengang ergibt – den Widerspruch zwischen der allüberall gelobten Emanzipation und dem Selbstbewusstsein der pädagogisch (belehrend) agierenden Lehrer.

So, und jetzt kommt die Preisfrage: Soll man sagen, dieser Absatz bestehe aus drei Sinnabschnitten? Ich meine, man sagte besser, er bestehe aus drei Gedankenschritten oder zwei Gedanken und einer überleitenden Floskel: „Dazu zwei Beispiele“ möchte ich als isolierte Floskel keinen Sinnabschnitt nennen; anderseits gehört sie nicht mehr zum vorhergehenden Gedanken.

P.S. Die Analyse des Hauptarguments Mahlmanns dafür, dass Schüler nach Beendigung der Schulpflicht, also in der Sek. II frei über ihren Schulbesuch entscheiden sollen, findet man in dem Aufsatz https://norberto68.wordpress.com/2011/02/13/aufsatzunterricht-gliedern-erklaren-bewerten-erortern-kl-8-10-im-g9/, dort unter „Erörtern“ (also gegen Ende).

Im 2., 3. und 5. Absatz seines Aufsatzes führt Mahlmann Begriffe aus der Ökonomie ein (Angebot, Nachfrage, Kunden, Dienstleistungen, anbieten, kostet), ebenso im 8. Absatz (-angebot, Service, Bedürfnisse); im 6. und 9. Absatz werden juristisch-politische Begriffe verwendet: Recht, Pflicht, Aufgabe des Staates, Würde und Rechte des Individuums. Mit den ökonomischen Begriffen will er den Schulbesuch für die Zeit regeln, wenn der Schulpflicht Genüge getan ist. Solange der Schulbesuch Pflicht ist, müsse er kontrolliert werden; wenn er nicht mehr Pflicht ist, solle man ihn nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage regeln.

[Das ist übrigens nur in Grenzen möglich oder richtig: Schüler müssten sich dann ihre Lehrer auswählen (und unliebsame oder Flaschen abwählen) können; gute Lehrer müssten ihr Können über den Preis des Schulbesuchs vermarkten können, wenn die bei ihnen erzielten Leistungen auch einen Marktwert hätten und eine Flaschen-Zwei nicht gleich der ehrlich erzielten Zwei wäre!]

P.S. Noch ein Beispiel, wie problematisch eine Einteilung in Sinnabschnitte ist, liegt bei der Analyse von Schillers Gedicht „Der Spaziergang“ vor, wo verschiedene hochkarätige Fachleute zu unterschiedlichen Lösungen kommen: Einige gehen rein inhaltlich vor, Ziolkowski und ich beachten auch formale Aspekte des Sprechens (Sprechakte).

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Wenn man zusammenfasst, was sich zum Thema Sinnabschnitt bisher ergeben hat, könnte man sagen: Ein Sinnabschnitt ist ein Erzählschritt (in Erzähltexten) oder ein Gedankenschritt (in argumentierenden Texten), wobei beide Begriffe Metaphern aus dem Bildbereich des Weges bzw. des Gehens, also nicht exakt bestimmt sind.

Offen bleibt jedoch, ob man die Größe Sinnabschnitt oberhalb (wie bei den Erzählungen) oder unterhalb der Ebene der Absätze (wie hier bei Mahlmanns Aufsatz) ansetzen soll; erst wenn das geklärt = entschieden wäre, könnte man versuchen, den Begriff Sinnabschnitt weiter zu präzisieren.

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Großes P.S. Wer sich tiefer mit dem Problem der Sinnabschnitte befasst, erkennt, dass dahinter die Frage steht, wie ein Text strukturiert ist bzw. wie das Thema entfaltet wird. Der Begriff der Sinnabschnitte unterstellt (fälschlich), dass man mit dem Begriff Sinn aus der Umgangssprache die Einheit des Textes i.W. inhaltlich oder formal-schematisch erfassen könnte – ein Irrtum: Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie ein Thema entfaltet werden kann. Ich verweise auf einige kleine Aufsätze von mir, wo man das nachlesen kann:

https://norberto68.wordpress.com/2011/02/13/textbegriff-textlinguistik-gedichte-als-texte-verstehen/ (Textbegriff…)

https://norberto68.wordpress.com/2011/01/12/text-koharenz-thema/ (Text, Kohärenz, Thema) – bereits oben verlinkt

https://norberto68.wordpress.com/2011/02/13/text-thema-koharenz-textanalyse-3/ (Text – Thema – Kohärenz)

Sprachliches Handeln / Sprechakte

Sprachliches Handeln – eine kurze Einführung (zugleich Skizze eines planmäßigen Unterrichtens im Analysieren und Verfassen von Sachtexten, früher „Aufsatzunterricht“ genannt)

Was sich kompliziert anhört, ist in Wirklichkeit einfach – und wir kennen es alle: Wenn der Lehrer zu Anja sagt: „Anja, du bist eine tüchtige Rechnerin.“, dann hat er Anja gelobt. Dass er mit seiner Äußerung Anja lobt, ist sein sprachliches Handeln (Sprechakt) in diesem Moment. Solche sprachlichen Handlungen durchziehen den ganzen Tag unser Leben: Wir begrüßen einander, erzählen Witze zur Unterhaltung, beschweren uns, fragen und antworten, vertrösten Bittsteller und trösten die traurige Freundin …

Es gibt nun einige Akte sprachlichen Handelns, die wir nicht immer genau bezeichnen, die aber im Leben wie im Deutschunterricht eine so große Rolle spielen, dass wir die Begriffe ganz exakt fassen müssen (s. rechte Spalte):

Was steht an?          Was will (soll) der Hörer?        Was tut der Sprecher?

1. Daten                               etwas wissen                            mitteilen

2. eine Abfolge                   etwas wissen                            berichten

zusammenhängender

Ereignisse                        unterhalten werden                       erzählen

3. eine Menge

von Phänomenen;                sich vorstellen                         beschreiben

ein Einzelding

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4. Problem, un-                     verstehen                                   erklären

bekannte Zusammenhänge

5. Stellungnahme             bejahen / ablehnen                        bewerten

6. eine Handlung              etwas leisten, tun               [auf]fordern (bitten, werben)

7. eine Maßnahme                  mitmachen                             vorschlagen

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8. „Streit“, Unklarheit         überzeugt werden                  argumentieren, erörtern

Widersprüche

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Es werden hier einzelne Handlungen des Sprechers identifiziert – nur grundsätzlich, versteht sich: Man kann auch durch Drohungen jemanden zum Mitmachen bewegen. – Aus dem Hörer wird der Sprecher, wenn die Gesprächsrollen wechseln.

Es geht darum, verschiedene sprachliche Handlungen (des „Sprechers“) als solche zu begreifen; dazu wird aufgeführt, worauf diese Handlung beim Hörer hinauslaufen soll, was ihr Ziel ist. Und zu Beginn wird gesagt, was ansteht, worum es „inhaltlich“ geht.

Die Handlungen des Berichtens, Erzählens und Beschreibens sollten bis Klasse 7 richtig eingeübt sein, die anderen teilweise; um das Training des Erklärens, Bewertens usw. geht es in den folgenden Jahren; ferner muss das Vergleichen und das Sortieren (gliedern) geübt werden, und den krönenden Abschluss bilden das Argumentieren und Erörtern.

Christa Heilmann hat (in dem Sammmelband „Einführung in die Sprechwissenschaft“, hrgs. von Heinz Finkowski u.a., Leipzig 3. Auflage 1982, S. 158 ff.) unter der Überschrift „Denk-Sprech-Vorgang“ folgende Sprachverwendungarten in der Äußerung unterschieden:

  • Erzählen (mündliche Wiedergabe eines einmaligen Ereignisses, Vorfalls oder Geschehens)
  • Berichten (über einen einmaligen, selbstbeobachteten Vorgang; wahr, konkret und geordnet)
  • Beschreiben (auf wiederholbare Vorgänge, Gegenstände und Zustände gerichtet; deren wichtigste Eigenschaften und Merkmale herausarbeiten)
  • Beurteilen (bewertende Einschätzung eines Sachverhalts oder einer Leistung nach wesentlichen Merkmalen)
  • Definieren (alle wesnetlichen Merkmale und seiten eines Begriffs sprachlich dicht und dennoch eindeutig erfassen)
  • Referieren (vermittelnde Informierung von dem Hörer/Leser nicht zugänglichen Dokumenten oder Texten)
  • Kommentieren (Ursachen, Beziehungen und historische Zusammenhänge von Ereignissen oder Sachverhalten präsentieren)

P. S. Eine interessante Seite zur Gesprächsanalyse ist übrigens https://www.tu-chemnitz.de/phil/ifgk/germanistik/gf/; man kann sich als Gast anmelden und dann im Programm arbeiten.

Bildhafte Sprache in Gedichten – 2. Fassung

Zum Verständnis bildhaften Sprechens –
eine Auseinandersetzung mit Eberhard Hermes: Abiturwissen. Grundbegriffe der Literatur von A-Z, 1999 (2. A.); 2004 ist eine weitere Auflage des Buches erschienen, das Buch wird bei Klett immer noch angeboten – das rechtfertigt wohl, das Verständnis bildhaften Sprechens in Auseinandersetzung mit diesem Buch zu klären.

Man sollte zwei Fragen zum bildhaften Sprechen unterscheiden:
1. Welche Sorten sprachlicher Bilder gibt es?
2. Wie kann man methodisch [einigermaßen] gesichert bildhafte Äußerungen verstehen?
Zur 1. Frage:
Hermes nennt im Artikel „Bild/Bildlichkeit“ fünf Arten sprachlicher Bilder: Vergleich, Allegorie, Metapher, Symbol, Personifikation. Als Kriterium der Unterscheidung gilt ihm die besondere Art der jeweiligen Beziehung von Bild und Sache; dieses Kriterium reicht m.E. nicht für eine Unterscheidung aus. Ich fühle mich in dieser Frage nicht kompetent genug, um hier Lösungen vorschlagen zu können; ich verweise auf die Darstellung in Ivo Braak: Poetik in Stichworten, 7. A. 1990, S. 42 ff., wo Metapher, Metonymie und Bild die jeweils weiter differenzierten Oberbegriffe sind.
Zur 2. Frage:
Im Artikel „Bild/Bildlichkeit“ wird von den verschiedenen Formen sprachlicher Bildlichkeit gesagt: „Ihre gemeinsame Funktion ist die Veranschaulichung abstrakter Sachverhalte.“ Mit dieser These bewegt Hermes sich auf dem Niveau der Äußerungen, mit denen Schüler einem Verständnis bildhafter Äußerungen ausweichen.

Dass es nicht allein oder hauptsächlich um abstrakte Sachverhalte geht, die in Bildern erfasst würden, zeigt Hermes‘ Beispiel für einen Vergleich: „Diese Stirn, die Art, wie sie zur Nase steht, die aus ihr herausfährt wie ein Schiff aus dem Hafen“ (Rilke, an seine Frau Clara über den Bildhauer Rodin). In einem 13er-Kurs haben wir versucht zu verstehen, was Rilke überhaupt meint: Wie sieht die Nase Rodins aus, eher wie eine Stupsnase oder wie ein gewaltiger Riechkolben? Wertet Rilke mit dieser Äußerung die Nase Rodins als imposant auf, oder macht er sich über sie lustig? Wir konnten uns rein aufgrund des Textes nicht einigen; man müsste den Kontext und die dort erscheinende Bewertung Rodins (oder Rilkes Verhältnis zu Rodin oder Rilkes Einschätzung von Nasen) kennen, um die im Kurs diskutierten Fragen sicher beantworten zu können. „Bild und Sache werden vergleichend in Beziehung zueinander gesetzt (Vergleichspartikel).“ Diese Formel unseres Gewährsmanns Hermes hilft nicht beim Verständnis. Eine Bemerkung zur Klärung, was „die Sache“ ist: nicht die Nase Rodins, sondern die Art, wie dessen Stirn zur Nase steht, wie diese aus der Stirn „herausfährt“ (bereits der Ansatz des Bildes!).
Das zweite Beispiel ist klarer: „Den Palmen gleich, der christliche Heldenmut sich schwinget hoch empor.“ (Catharina von Greiffenberg) Hier sieht man, dass der Sprecher natürlich nichts veranschaulichen, sondern besagten Heldenmut aufwerten will, loben will, zur Nachahmung empfiehlt – der Vergleich erhält seine Bedeutung aus der (positiven!) Metapher „sich hoch empor schwingen“: so hoch wie Palmen. – Methodisch haben wir hier bewusst gemacht, dass der Sprecher die handelnde Größe ist, die mit ihrer Äußerung etwas tut (präzisere Erfassung dessen, was früher unscharf „die Intention“ genannt wurde). „Der Sprecher“, das gilt hier umfassend – egal, ob es sich um eine reale Äußerung der Greiffenberg oder um eine fiktionale Äußerung einer von ihr erfundenen Figur handelt. Wenn man die Situation und den Adressaten der Äußerung wüsste und berücksichtigte, könnte man die sprachliche Handlung (Sprechakt) noch genauer bestimmen.

Der zweite methodische Grundsatz, den Hermes in seiner Theorie völlig außer Acht lässt, lässt sich an seinem Beispiel einer Metapher ausweisen (G. Kellers Abendlied). Hermes zitiert:
„Trinkt, o Augen, was die Wimper hält,
Von dem goldnen Überfluß der Welt!“
Unterstrichen sind bei ihm die beiden Wörter „trinkt“ und „Augen“, die Erklärung lautet: „Aus der Verbindung zweier verschiedener Bedeutungsbereiche (Sinnliche Wahrnehmung + Nahrungsaufnahme) ergibt sich die Sache (Erfahrung sammeln).“ Das ist nicht falsch, aber trivial und kaum geeignet, das Gedicht Kellers zu verstehen:
a) Die beiden Wörter stehen in einem Satz; der Sprecher wendet sich an die Augen (an die eigenen, wie sich aus dem Kontext ergibt) und fordert sie auf (Imperativ!), vom goldenen Überfluss der Welt zu trinken, ihn zu genießen. Das ist mehr als „Erfahrung sammeln“.
b) Wozu spricht er so zu seinen Augen? Wozu sollen sie so viel („was die Wimper hält“) trinken? Das wird verständlich, wenn man den Kontext kennt, also das ganze Gedicht, von dem ich hier nur die relevanten Strophen zitiere:

„Augen, meine lieben Fensterlein,
Gebt mir schon so lange holden Schein,
Lasset freundlich Bild um Bild herein:
Einmal werdet ihr verdunkelt sein!
[…]
Doch noch wandl’ ich auf dem Abendfeld,
Nur dem sinkenden Gestirn gesellt;
Trinkt, o Augen, was die Wimper hält,
Von dem goldnen Überfluß der Welt!“

Hier sieht man, warum der Sprecher sich seine Augen wendet, wie er auf ihre lebenslange Leistung zurückblickt, auf seinen nahen Tod vorausschaut („Abendfeld“ usw.), doch „noch“ Gelegenheit sieht, von der Süße des Lebens zu kosten – weshalb er (stellvertretend) seine Augen auffordert, den goldnen Überfluss der Welt zu genießen. – Nur im Kontext wird die Situation des Sprechers und der Augen-Zuhörer klar, wird damit das Bild im Zusammenhang einer Äußerung verständlich – wahrlich mehr als die platte Formel „Erfahrung sammeln“!

Was bringt die gängige Unterscheidung von Bild- und Sachebene, die auch Hermes vornimmt [und die ich lieber durch die Reflexion der Fähigkeit, in dem Einen ein Anderes zu sehen, ersetzen möchte: in Helmut Kohls Kopf eine Birne, in Birke und Eiche den Baum, in vollen Brüsten Äpfel – op dem maat ston die buere… dicke eier, dicke prumme, dicke muere], für das Verständnis sprachlicher Bilder. Dass der Leser „das sprachliche Bild (…) auf die gemeinte Sache beziehen“ muss, ist eine lobenswerte Formel – aber wie man das macht, sagt Hermes nicht; das hat sich erst in unserer Kritik ergeben. Die Unterscheidung „Bild- und Sachebene“ mit dem Begriffspaar „Konnotation – Denotation“ gleichzusetzen ist einfach falsch; was Denotation und Konnotation ist, kann man in jedem sprachwissenschaftlichen Wörterbuch nachlesen. Vielleicht sollte man auch in Betracht ziehen, dass man in Bildern „durch die Blume sprechen“ kann, also etwas gerade „verschleiert“ sagen will – schlecht ist das Bild dann, wenn es schleierhaft wird.

Noch einige kritische Fragen zum Abschluss: Woran erkennt die Allegorie als solche? Und woher weiß man, auf welche „Sache“ sie verweist? Da gibt es kultur- und epochentypische Sprechweisen (Löwe: Herrscher usw.). Wieso ist der Rauch in Brechts Gedicht „Der Rauch“ ein Symbol? Und wieso ein Symbol für Frieden? Das ist sehr fragwürdig – Jan Knopfs Analyse im Brecht-Handbuch zeigt das hinreichend deutlich. Und dann das wunderbare Gedicht „Um Mitternacht“ von E. Mörike (z.B. unter http://www.maraba.de/Dichter/moerike2.htm):
„Gelassen stieg die Nacht ans Land,
Lehnt träumend an der Berge Wand,
Ihr Auge sieht die goldne Waage nun
Der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn;“
dazu fällt Hermes nur ein: „Verdeutlichung der Sache (Mitternachtsstimmung) durch Intensivierung des Bildes: Eine Naturerscheinung (Nacht) wird mit menschlichen Eigenschaften und Handlungsweisen ausgestattet.“ Gut, damit ist die Personifikation als Art bildhaften Sprechens erfasst, aber doch nicht dieses Bild im Gedicht Mörikes verstanden – als ob es die eine Mitternachtsstimmung gäbe, die verdeutlicht werden müsste! Abgesehen davon fehlt wieder der Kontext, wo kontrapunktisch die keck rauschenden Quellen mit ihrem Lied vom Tage der Nacht gegenübergestellt werden.

Besser ist das, was Hermes im gleichen Buch in den Artikeln „Hermetische Lyrik“ und „Chiffre“ sagt; doch ist die Erklärung aus einem Lebensgefühl des einsamen Dichters ein Unding. „Lebensgefühl“ als Quelle chiffrierten Sprechens, dem stimme ich zu; doch ist es das Lebensgefühl einer Epoche oder einer sozialen Schicht einer Epoche – andernfalls wäre kein Chiffrengedicht verständlich!
Das zeigt Hermes selber in seinem Buch „Abiturwissen Lyrik“ (9. A. 2000) in seinen Ausführungen über die Moderne, die Ausführungen zum Sprachzerfall im Expressionismus sind (S. 135 ff.); wenn man den in zeitlicher Nähe gemalten „Schrei“ E. Munchs kennt, wenn man den in zeitlicher Nähe vollzogenen Zerfall der Bilder in der abstrakten Malerei heranzieht, versteht man etwas von dem Lebensgefühl der Epoche. Auch in Hermes‘ Analyse von Bachmanns „Anrufung des Großen Bären“ wird das Lebensgefühl einer apokalyptischen Angst benannt – damit stand die Bachmann wirklich nicht allein!

Ich möchte noch ein weiteres methodisches Prinzip vorstellen, das gerade für das Verständnis bildhafter Äußerungen in Gedichten gilt. An G. Brittings Gedicht „Hinterm Zaun“ kann man zeigen, wie auch Reim und Betonung zusammen mit dem bildhaften Sprechens beachtet werden müssen:

Britting: HINTERM ZAUN

„Die mageren Frühlingsbäume
Schütteln sich schnaubend im Wind,
Wie Esel ohne Zügel und Zäume,
Die kaum mehr zu halten sind.
[…]
Die weißlichen Nüstern erhoben
Und die schlagenden Hufe pechbraun
Sie wären davongestoben,
Wär nicht der Gartenzaun.“

Was wäre das Gedicht ohne den Kreuzreim, ohne die Enjambements, ohne die unregelmäßige Betonung? Sie gehören dazu, wenn die im Wind bewegten Bäume im Bild einer aufgeregten Eselschar gesehen werden! Allgemeiner: Die gesamte Sprechweise muss beachtet, also zuvor erfasst oder gefunden werden, wenn man bildhafte Äußerungen in Gedichten verstehen will.

Theoretischer Nachtrag in Form zweier Thesen:

Prämisse: Dass ein Bild der „Veranschaulichung“ diene, ist eine Tautologie; es heißt nicht mehr, als dass ein Bild ein Bild ist. Die Frage ist jedoch, was das Bild zeigt und wozu jemand es gebraucht hat; diese zweite, entscheidende Frage beantworten, dazu habe ich oben anleiten wollen.

1. Die Unterscheidung von Bild- und Sachebene in dem Sinn, dass das Bild die Sache deutlich zeige, ist problematisch. Das möchte ich am zweiten Beispiel von Hermes zeigen: „Den Palmen gleich, der christliche Heldenmut sich schwinget hoch empor.“ (Catharina von Greiffenberg) Ich behaupte: Den Palmen eignet nicht die wesentliche Eigenschaft, sich hoch empor zu schwingen, sodass sie die Größe des christlichen Heldenmutes zeigten; sie kommt ihnen in diesem Vergleich erst von der Sache zu, während die Größe oder Höhe des christlichen Heldenmutes ohnehin Metapher (!) ist. Man könnte ebenso gut folgenden Vergleich bilden: „Den Palmen gleich, standen mehrere Gräfinnen im Park und warteten darauf, bestiegen zu werden.“ Zu Deutsch: Die Palmen haben von sich aus keinen Bildwert für uns; erst im Vergleich bekommen sie von der „Sache“ einen bestimmten Bildwert; hätten sie ihn scheinbar von sich aus, so hätten sie ihn in der Kultur von den Menschen zugesprochen bekommen – die Späteren hätten allenfalls vergessen, dass die Vorfahren diesen Bildwert erfunden haben.
Das zeigt sich an dem dritten Beispiel bei Hermes, Lessings Fabel „Der Esel mit dem Löwen“. Bei Lessing geht der Esel „mit dem Löwen des Aesopus“ (Hermes unterschlägt das bedeutsame Attribut „des Aesopus“!); Lessing zeigt damit, dass besagtem Löwen in einer literarischen Tradition bestimmte Bildqualitäten zukommen. Dass der Löwe zur Jagd geht und ein Jagdhorn braucht, ist dem Bild von der Sache her (Adel hat Jagdrecht) zugewachsen; so kann dann das doppelt (durch Tradition plus „Sache“) fixierte Bild auf den Fürsten und seine bürgerlichen Angestellten verweisen – von sich aus verweisen Löwen und Esel auf nichts.
In einem kleinen Aufsatz „Im einen das andere sehen“ (https://also42.wordpress.com/2015/07/23/im-einen-ein-anderes-sehen/) habe ich zu zeigen versucht, was es mit der Möglichkeit und Notwendigkeit bildhaften Sprechens und Sehens auf sich hat.

2. In einem größeren Bildbereich ist nicht immer klar, was überhaupt zum „Bild“ gehört. Dafür möchte ich Brechts Gedicht „Der Rauch“ anführen; Hermes findet darin den Rauch als Symbol – die Situation wäre dann nicht Bild: „Das kleine Haus unter Bäumen am See.“ Meinem Verständnis nach ist der Rauch aber nur ein Teil des Gesamtbildes vom Haus am See; er wird durch den Betrachter als Element herausgehoben, aber als Element des Ganzen, welchem innerhalb des Ganzen für diesen Betrachter eine bestimmte Bedeutung zukommt. Von sich aus verweist der Rauch auf nichts, von sich aus ist er kein Symbol – vermutlich ist er hier überhaupt nicht Symbol, sondern Teil des größeren „Bildes“.
Was gemeint ist, sieht man auch an Lessings Fabel „Der Löwe mit dem Esel“; dort agieren des Aesopus Löwe, der Esel und eine sprechende Krähe, die den Löwen zu seinem entlarvenden Ausspruch nötigt. Dass der Esel und der Löwe in ihrem Verhältnis (!) bedeutsam sind, die Krähe aber nicht, ergibt sich wiederum nur aus der Tradition. Oder gehört die Krähe auch zum Bildbereich? Nein, denn erstens kommt sie in des Löwen Antwort nicht vor und zweitens ist sie nur „eine Krähe“, die auf den bestimmten Löwen mit „dem Esel“ trifft; dass die Krähe also nicht zum Bildbereich gehört, ist nicht am Bild zu sehen, sondern grammatisch und semantisch erschlossen.

P.S. Es gibt in diesem Blog mehrere Aufsätze über bildhaftes Sprechen und Gedichtanalyse; vgl. auch den Artikel „Bildfeld“ in Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie!

Damit wir nicht nur im eigenen Saft braten, hier noch drei Hinweise:
Semantikportal der Ruhr-Uni: http://www.metaphorik.de/Semantikportal/index.htm
http://www.zum.de/Faecher/D/BW/gym/dautel/analyse/lyrik/lyrik5.htm
Eva Schoenke: http://www-user.uni-bremen.de/~schoenke/metagloss/mgl.html#Argumentation

(September 2006)

Fortsetzung 2011:

Jan-Oliver Decker hat in seiner „Einführung in die Literaturwissenschaft“ sehr klar ausgeführt (S. 16 ff.), woher die Schwierigkeit stammt, bildhaftes Sprechen (uneigentliches Sprechen, Verwendung von „Tropen“ mit den Worten der klassischen Rhetorik) zu verstehen, stammt:

Die allen Tropen zugrunde liegende Operation ist die Substitution (=Ersetzung, Austauschen):

Ein im gegebenen Kontext eigentlicher Ausgangsterm ‚a‘, der sprachlich nicht vorhanden ist, wird durch einen Zielterm ‚z‘ ersetzt, der in diesem sprachlichen Kontext uneigentlich ist. Es entsteht eine Spannung, eine semantische Differenz zwischen ‚z‘ und dem sprachlichen Kontext, in dem ‚z‘ steht. Durch den im Verhältnis zu ‚z‘ normalsprachlichen Kontext wird ‚z‘ als uneigentlich markiert. Durch die semantische Differenz zwischen ‚z‘ und dem ihn umgebenden sprachlichen Kontext und die Markierung von ‚z‘ als uneigentlich wird eine Rekonstruktion des eigentlich gemeinten Ausgangsterms ‚a‘ ermöglicht.

Er führt dann an mehreren Beispielen aus, wie man diese Einsicht nutzt, um sachgemäß den bildhaften Ausdruck zu verstehen (hier ein Beispiel):

C.F. Meyer: „Alpenlüfte wälzen Steine mir vom bangen Busen sacht“

Zielterm ‚z‘ = Steine: [konkret], [nicht-menschlich], [physisch], [schwer]

Ausgangsterm ‚a‘ = Angst: [nicht-konkret], [menschlich], [psychisch], [Belastung]

Gemeinsames semantisches Merkmal ‚tertium comparationis‘: [Schwere/Belastung] -> „Steine wegwälzen“ bedeutet also: von etwas Belastendem befreien.

Decker leitet dazu an, die Bedeutung des Zielterms (= die Benennung des Ausgangsterms) methodisch sauber mit einer Ersatzprobe im Hinblick auf den Kontext zu ermitteln.

Diese Arbeit Deckers habe ich entdeckt, als ich im Sommer 2011 im Internet Material zur Antwort auf die Frage suchte, wie man bildhaftes Sprechen verstehen kann. Was ich dazu gefunden habe, habe ich in einem kleinen Aufsatz dargestellt: www.lehrer-online.de/rhetorik-im-netz.php. Im zweiten Teil dieses Aufsatzes wird Büntings Vorlesung „Praktische Semantik“ gewürdigt, in der dieser die Formen bildhaften Sprechens untersucht, wozu er auch die Phraseologismen zählt. Parallel zu Büntings Vorlesung in dieser Hinsicht sei noch Wilhelm Schmidt: Deutsche Sprachkunde, IFB Verlag 2008 (8. Aufl.) genannt; im IX. Kapitel steht „Der Bildgehalt der Sprache“ zur Diskussion, wozu dann auch Sprichwörter usw. gehören; vgl. auch das wunderbare Büchlein von K.-D. Bünting: Stilsicheres Deutsch, vor allem S. 252 ff. (gibt es nur noch antiquarisch).

Eine ontologische Erklärung der Möglichkeit, „bildhaft“ zu sprechen, finde ich nachträglich in Karl Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, 1928 = 1969, S. 33 ff. (Der Grund der „Übertragbarkeit“ von Charakteren der natürlichen Außenwelt auf die menschliche Innenwelt und umgekehrt).

Sprechakte – sprachliches Handeln

„Oft ist schon viel geholfen, wenn ihr freundliche Worte findet, denn Worte können verletzen – oder helfen.“ (Max von der Grün) Natürlich weiß das jeder, weshalb ich auch auf das Zitieren eines Autors verzichten könnte – aber es zu denken ist schon etwas schwieriger. Was zu denken? Dass man mit Worten etwas tun kann; denn genau genommen verletzen nicht die Worte, sondern der Sprecher verletzt einen anderen mit seinen Worten. Damit sind wir beim Begriff des sprachlichen Handelns bzw. des Sprechaktes.
Wenn es ins Begriffliche geht (hier nach Searle), also theoretisch wird, klingt das (komplizierter) so: Der Sprechakt sei die elementare Einheit sprachlicher Kommunikation; man bezeichne damit eine sprachliche Äußerung, mittels derer in einer Situation sozial etwas getan wird, indem zwischen den Kommunkationspartnern zweiseitige Beziehungen hergestellt werden.
Einfacher gesagt und noch einmal am Beispiel (1) demonstriert:
(1) Astrid steht mit Benno am Straßenrand und sagt zu ihm, als sie gerade die Straße überqueren wollen: „Da kommt ein Auto!“
* Erklärung: Damit warnt Astrid ihren Benno vor einer Gefahr; sie hält ihn davon ab, ohne Überlegung loszugehen.
* Analyse:
– Situation ist: ‚Astrid steht mit Benno am Straßenrand und sagt zu ihm, als sie gerade die Straße überqueren wollen‘
– Astrid macht den Mund auf und sagt einen deutschen Satz (Äußerung): Dies ist ein Akt des Sprechens, ein lokutiver Akt.
– Rein inhaltlich spricht Astrid die Tatsache aus, dass sich ein Auto nähert: Dies ist der propositionale Akt [oder der propositionale Aspekt des Sprechaktes].
– Astrid möchte den Benno warnen, also auf ihn kommunkativ einwirken: Dies ist der illokutionäre Akt; dies kann sprachlich glücken (oder nicht – aber da Astrid gut Deutsch kann, glückt ihr dieses Warnen).
– Benno lässt sich von Astrid warnen. Dies ist der perlokutive Akt; Astrid hat mit ihrer Äußerung ihr Ziel erreicht, die Warnung ist bei Benno „richtig“ angekommen, also gelungen.
– Man kann also bei dem einen Sprechakt vier Aspekte oder Akte unterscheiden.
Am Beispiel (2) kannst du die Theorie noch einmal durchspielen:
(2) Chris sitzt mit Daniela auf einer Parkbank und hält zum ersten Mal ihr Händchen; dabei sagt er: „Du hast mir schon immer gefallen.“ [Wahlweise kannst du hier auch andere Äußerungen einsetzen.] Frage: Werden sie sich gleich küssen?
Weitere Hinweise:
* Mit den Pronomina der 1. und 2. Person (ich, wir, du, ihr, mein, unser, dein, euer) und Hinweisen auf die Situation der Gesprächspartner (hier, jetzt, gestern, dort usw), also den deiktischen Elemente (von griech. deiknymi: ich zeige auf etwas) wird direkt auf außersprachliche Sachverhalte der Situation Bezug genommen oder auf diese verwiesen; sie sind für die pragmatische Untersuchung einer Äußerung oft wichtig.
* Man unterscheidet verschiedene Möglichkeiten, eine Äußerung bzw. ihre Elemente zu untersuchen:
– syntaktisch: Ich interessiere mich für die Regeln, nach denen die Zeichen (Wörter) miteinander kombiniert werden.
– semantisch: Ich achte vor allem auf die Beziehungen zwischen den Zeichen und den Gegebenheiten der Welt, auf die sie verweisen (‚Bedeutung der Zeichen‘).
– pragmatisch: Ich untersuche, was der Sprecher mit seiner Äußerung tut (oder tun will).
* Verben, mit denen man Sprechakte bezeichnet, heißen performative Verben (drohen, versprechen usw.); mit ihnen kann man den Sprechakt selbst unter bestimmten Bedingungen vollziehen („Ich verspreche dir…“; nicht aber: „Er versprach mir…“, das ist nur ein Bericht.).
* Achte also immer, wenn du Sprechakte verstehen willst, darauf, wer die sprachlich handelnde Größe ist; das ist bei Gedichten und Dramen nicht der Autor, sondern der jeweilige „Sprecher“! Bei Aufsätzen und Sachbüchern ist es dagegen der Autor, bei Erzählungen und Romanen wiederum der Erzähler; man darf also bei fiktionalen Texten den Erzähler, das lyrische Ich oder eine Dramenfigur nicht mit dem Autor verwechseln!
* Beachte auch den Unterschied zwischen dem illokutiven und dem perlokutiven Akt: Ein bestimmte Wirkungsabsicht muss nicht erfolgreich sein, wie du aus eigener Erfahrung weißt – du beachtest oft genug die Mahnungen deiner Eltern nicht! Ob also ein sprachliches Handeln erfolgreich ist, ob der Sprecher sein Ziel erreicht hat, muss man empirisch feststellen. Überspiele deshalb auch in deinen literarischen Analysen diese Einsicht nicht!
* Es dürfte jetzt auch klar sein, dass ein bloße Reproduktion oder Umschreibung des „Inhalts“ (propositionaler Akt) niemals als Analyse genügt und auch nicht bezeugt, dass du als Leser etwas verstanden hast! Du kannst Verständnis nur durch Analyse der illokutiven Akte (bei Dramen zusätzlich: der perlokutiven Akte) nachweisen.

Noch ein Versuch zu erklären, was sprachliches Handeln ist:
In Brechts „Leben des Galilei“ sagt der sehr alte Kardinal zu Galilei: „So, sind Sie das? Wissen Sie, ich sehe nicht mehr allzu gut, aber das sehe ich doch, daß Sie diesem Menschen, den wir seinerzeit verbrannt haben – wie hieß er doch? – auffallend gleichen.“ (es 1, S. 61 f.)
Ich frage jetzt nicht: Was sagt der Kardinal? Das kann jeder Schüler des vierten Schuljahrs mehr oder weniger fehlerfrei lesen und auch „inhaltlich“ verstehen. Ich frage vielmehr: Was tut der Kardinal, indem er dies zu Galilei sagt? Er droht ihm mit dem Verbrennen. Woher weiß ich das? Der Kardinal sagt, dass Galilei dem einst verbrannten Giordano Bruno auffallend gleiche; damit will er jedoch nicht ausdrücken, dass er ihm den Frisör oder Schneider Giordanos empfehle – er sagt ja ausdrücklich, dass er nicht mehr gut sehen könne. Das Gleichen wird damit von der körperlichen Statur auf die Person selbst und ihr Agieren verlagert: Galilei ist ein Ketzer, darin gleicht er ihm, deshalb droht ihm dann auch das gleiche Schicksal wie Giordano; resp. der Kardinal droht es ihm an.
Man kann diese Überlegung schon auf der Grundlage des Bühlerschen Organon-Modells verstehen: Neben dem Inhaltsaspekt gibt es den Aspekt, dass man dem anderen etwas von sich (Ausdruck) signalisieren will und etwas für ihn (missverständlich Appell genannt): Von sich signalisiert der Kardinal, dass er Macht hat oder zu einer Organisation gehört, die Macht über Leben und Tod besitzt; den Galilei betreffend deutet er an, dass ihn das gleiche Schicksal wie den Giordano treffen kann, weil er diesem ja gleicht. Die beiden letzten Aspekte der Äußerung (ich habe Macht – mein lieber Freund, du gleichst Giordano, d.h. dich erwartet dessen Schicksal) nennt man zusammen: drohen.
Das Drohen geschieht auf der Beziehungsebene, indem inhaltlich (Inhaltsebene) in dieser Situation vom Kardinal gegenüber Galilei diese Äußerung getan wird; man muss also die Situation (Streit um das richtige Weltbild, Kampf mit allen Mitteln) und die Position der Figuren (Kardinal als Machthaber – Galilei als eigensinniger Forscher) kennen und beachten, um zu verstehen, was in der Äußerung geschieht; durch die Reproduktion des Inhalts erfasst man sie jedenfalls nicht.

Sprechakte – eine kurze Gliederung
1) nach Grammatik der deutschen Sprache Bd. 1 (von Gisela Zifonun u.a.), 1997, S. 98 ff:

A Transfer von Wissen
fragen – aussagen
aussagen: behaupten und begründen
aussagende Textarten: erzählen, berichten, beschreiben

B Koordination von Handlungen
auffordern – zusichern
zusichern: versprechen, Vertrag schließen, ankündigen

C Ausdruck von Empfindungen
ausrufen – wünschen
[Hier fehlen die Empfindungen für andere – alle Formen des Teilnehmens!]
[Für die Grammatik der dt. Sprache, 1997, sind natürlich schlauere Wörter erfunden worden; ich habe sie vereinfachend rückübersetzt.]

2) nach Ulrich Engel: Deutsche Grammatik – Neubearbeitung. 2, durchgesehene Auflage 2009, S. 35 ff.:

A] Auf den Partner bezogene Sprechakte:
1. Akte des Mitteilens:
* etwas mitteilen [im engeren Sinn]
* jemandem zustimmen
* etwas ablehnen
– eine Forderung zurückweisen
– einer Behauptung widersprechen
– eine Äußerung korrigieren
* eine Äußerung intensivieren
* eine Aussage ausweiten (verallgemeinern)
* eine Aussage einschränken
* eine Äußerung kommentieren
* eine Aussage paraphrasieren
* Kontakt zum Hörer herstellen oder überprüfen
2. Akte zum Ausgleich sozialer Spannungen:
* jemandem danken
* sich bei jemand entschuldigen
* den gerade geäußerten Dank (bzw. die Entschuldigung) aufheben
* eine Äußerung billigen
* jemandem gratulieren
* jemandem kondolieren
3. Personen festlegende Sprechakte:
a) den Sprecher festlegend:
* etwas versprechen
b) den Partner festlegend:
* jemanden zu etwas auffordern
* jemanden zu etwas autorisieren
* jemandem zu etwas raten
* jemandem etwas vorwerfen
* jemanden beschimpfen
* jemanden vor etwas warnen
* jemand etwas fragen (viele Arten)
c) Sprecher und Partner festlegend:
* jemandem etwas anbieten
* jemand mit etwas drohen
* den Kontakt zu jemand umgrenzen
– grüßen
– anreden
– vorstellen
– Adresse angeben
– Absender nennen
d) beliebige Personen festlegend:
* etwas wünschen
* etwas vorschlagen
* etwas ankündigen

B] Auf den Sprecher bezogene Sprechakte:
* Unlust oder Unmut äußern (schimpfen)
* Überraschung äußern
* resignieren

Um ein anderes Beispiel zu nennen: In der Grammatik der deutschen Sprache (von Lutz Götze und E.W.B. Hess-Lüttich, Bertelsmann, S. 540) werden allein für das Auffordern folgende Möglichkeiten, dies zu tun, aufgeführt:
fragen, bitten, drohen, feststellen, ausrufen, ironisch kommentieren, Vorwürfe machen, raten, empfehlen, sich wundern, sich etwas wünschen…
Man beachte, dass die Liste mit drei Pünktchen endet!

Vgl. http://www-user.uni-bremen.de/~schoenke/lg-edu/tlgv4.html
http://de.wikipedia.org/wiki/Sprechakttheorie
http://www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/fileadmin/Redaktion/Institute/Germanistik/AbteilungI/Busse/Texte/Busse-UP-1991-01.pdf (umfangreicher) oder http://www.germanistik-kommprojekt.uni-oldenburg.de/sites/1/1_03_3.htm (knapp, Teil eines Programms)
http://www.glottopedia.de/index.php/Sprachliches_Handeln sowie https://norberto68.wordpress.com/2011/05/31/heringer-ohlschlager-strecker-wimmer-einfuhrung-in-die-praktische-semantik-1977/

Grundformen sprachlichen Handelns

in Sachtexten oder theoretischen Texten:

Was steht an?               Was will (soll) der Hörer?           Was tut der Sprecher?

1. Daten                                   wissen                                    mitteilen

2. Eine Abfolge                      wissen                                    berichten
zusammenhängender
Ereignisse                       unterhalten werden                         erzählen

3. eine Menge
von Phänomenen;           kennen; sich vorstellen                   beschreiben
ein Einzelding

4. Problem, un-                      verstehen                                 erklären
bekannte Zusammenhäne

5. Stellungnahme             bejahen / ablehnen                         bewerten

6. meine Handlung            etwas leisten, tun               [auf]fordern, bitten, werben

7. eine Maßnahme                mitmachen                                vorschlagen

8. Streit, Unklarheit,         überzeugt werden                   argumentieren, erörtern
Widersprüche

Das alles sind einzelne Handlungen des Sprechers im „Dialog“ mit dem Hörer; wenn die Gesprächsrollen wechseln, wird aus einem Hörer der Sprecher.

Wir können mindestens zwei weitere Aspekte unterscheiden: Der Sprecher (Autor) gibt Hilfen für den Überblick über das, was er insgesamt sagt, will also dem Hörer (Leser) das Verständnis erleichtern. Hierhin gehören Handlungen wie: einleiten, einen Überblick geben, vorausdeuten, zusammenfassen, rückverweisen, etwas wiederholen. Vielleicht sollte man hierzu auch die Handlungen zählen, mit denen der Sprecher (Autor) die Aufmerksamkeit des Hörers (Lesers) gewinnen und erhalten will (direkte Anrede, auf ein aktuelles Ereignis anspielen, einen Scherz machen usw.).

Zweitens kann man (innerhalb der argumentativen Konstruktion des Gedankengangs) „das Gespräch“ des Autors mit anderen Teilnehmern am großen Gespräch der Fachleute beachten. Hierhin gehört alles, was mit dem Zitieren, Verweisen, Zustimmen zu und Ablehnen von fremden Auffassungen zusammenhängt; hierhin gehört auch wieder die ganze Palette des Argumentierens.

Anmerkung: Die hier beschriebenen Typen sprachlichen Handelns greifen auf die Theorie der Textfunktionen vor, wie es früher in der Duden-Grammatik hieß, oder auf Vertextungsstrategien, wie es jetzt heißt – man sieht, wie die Theorie im Fluss ist. (2009/10)

Vgl. den vorhergehenden Aufsatz: Formen schriftlicher Darstellung!