In meinem Philosophieunterricht habe ich selber dreimal pro Halbjahr eine Zusammenfassung gemacht – einmal für mich selber, damit ich später bei der Formulierung der Abituraufgaben wusste, was wir „gemacht“ hatten, dann für die Schüler, damit diese beim Abitur nicht nur eine Loseblatt-Sammlung von Arbeitsblättern vor sich hatten, sondern auch eine Übersicht über den Gedankengang, den wir gemeinsam absolviert hatten. Ich stelle als Beispiel eine solche Zusammenfassung aus dem Schuljahr 1994/95 vor; ich denke, dass das Zusammenfassen eine gute Idee und Praxis war.
1. Zusammenfassung Pl 12.1, 1994/95: Ethik
Die Ethik ist mit der Frage befasst, was wir tun sollen. – Zur ersten Unterscheidung des moralisch Guten (was man tun soll) haben wir auf das gesetzlich Vorgeschriebene und das von der Sitte Geforderte zurückgegriffen. Es folgten einige Versuche, den Begriff des sittlich Guten zu demontieren:
1. Wilhelm E. Mühlmann: Überprägnante Modelle (aus dem Aufsatz: Der Mensch als Kulturwesen. In: Homo Creator, Wiesbaden 1962), begreift die moralischen Normen als Sonderfall der überprägnanten Symbole; diesem Charakter entspräche es, dass sie nicht ganz wörtlich zu nehmen wären, sondern eigentlich nur eine Tendenz des geforderten Handelns bezeichneten. Wir haben am Verbot des Lügens (am Gebot, wahrhaftig zu sprechen) diskutiert, ob Mühlmann recht hat.
2. David Hume: Über die Prinzipien der Moral (Nr. 11), sieht das Moment des öffentlichen Nutzens als Kern der moralischen Forderungen. Hume argumentiert unscharf. Wir haben versucht zu präzisieren, was Hume sagt und was überhaupt Gegenstand der moralischen Beurteilung ist: das Ziel eines handelnden Menschen – die einzelne Handlung – die Handlungsweise (das Prinzip des Handelns: einem Bettler helfen z.B.) – Folgen der Handlung? oder der Mensch selbst in seinem „Kern“ (Herzen)?
3. Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral (Nr. 13). Nietzsche fragt, woher überhaupt die Unterscheidung „gut – böse“ stammt, welchen Wert sie hat. Er lehnt jede moralische Beurteilung des Handelns ab, da es keinen Täter „hinter“ dem Tun gebe, da der Starke nur stark sein könne…
In der Erörterung haben wir v.a. die Wahl des Beispiels (Lämmer – Adler) und die These vom täterlosen Tun diskutiert.
— Es wurden AB zur Textanalyse und zur Erörterung besprochen und der Aufsatz „Die Strategie der Kopfarbeit“ von V. Ladenthin verteilt – zum Lesen.
— Aufgrund unserer Gespräche ist der folgende Unterricht so geplant, dass jetzt die Konzeption des moralisch Guten als des für alle, des an sich Guten besprochen werden soll nebst Kants Versuch, ein oberstes Kriterium für alle moralisch richtigen Sätze (Forderungen, Grundsätze) zu finden; danach steht Georg Simmels Versuch, ein individuelles Gesetz zu denken, zur Diskussion.
Spaemann, Robert: Moralische Grundbegriffe. München 1982, unterscheidet das moralisch Gute von dem für mich oder zu etwas Guten und sagt, dass der moralische Gesichtspunkt „die richtige, die wirklichkeitsgemäße Ordnung der Sachgesichtspunkte“ ist (S. 89), also nicht irgendwie zu den sachlichen Überlegungen hinzukommt (unser Beispiel: der gute Lehrer), und dass letztlich der Mensch, nicht eine Handlung o.ä. gut ist. (Ähnlich R. Ginters: Werte und Normen, 1982, Kap. V: Der moralische Standpunkt ist der der Unparteilichkeit. Moralische Urteile müssen universal sein, können also nie für den Einzelfall gelten. Moral beginnt bei der Feindesliebe. Sittlich sein hängt nur vom eigenen guten Willen ab, so unparteiisch zu lieben.) 17.09.94
2. Zusammenfassung Pl 12.1 – 94/95 (Ethik)
Einführung in Kants Schrift: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
Voraussetzung: Nach Kant ist nur ein guter Wille ohne Einschränkung gut. Daher untersucht er verschiedene Grundsätze und Imperative des Willens. Moral könne es nur für vernünftige Wesen (bzw. für uns insofern, als wir vernünftig sind) geben.
Tabelle: Übersicht über die drei möglichen Arten von Imperativen. Analyse des Textes BA 48-52. Fragen zu Kant:
– Woher kommen (stammen) die Gebote?
– Was leisten Kants weitere Formeln des kategorischen Imperativs?
– Was ergibt sich aus den Beispielen, in denen er den kategorischen Imperativ als Kriterium der Moralität vorführt?
1. Klausur: Über das Vergeben und das Versprechen (H. Arendt); Arendt geht im Gegensatz zu Kant davon aus, dass fehlbare Menschen mit einem unruhigen Herzen Hinweise brauchen, wie sie handeln sollen.
Wir haben dann noch die dritte Formel des kategorischen Imperativs und Kants zweites Beispiel (Darf ich mir Geld borgen…) diskutiert.
Thema: L i e b e
Peter Weiss: Fluchtpunkt (es 125), S. 180-186, vorgelesen; gegen die Skepsis, man könne nicht allgemein über Liebe sprechen, habe ich die potentiell befreiende Leistung begrifflichen Denkens verteidigt: Es löst mich aus letzter Gefühlichkeit (und damit Verantwortung/Schuld für alles Gescheiterte) heraus und zeigt, was daran Fall, fallhaft, gesetzmäßig ablaufendes Geschehen ist.
Rede des Aristophanes aus Platons „Symposion“ (Gastmahl); Begriff des Mythos; Auszüge aus Felix Schottlaender: Des Lebens schöne Mitte (1953), S. 18-51: Arten der Liebe; Bedeutung der Übertragung; Ich-Ideal; Verzicht auf die Projektion des Seelenbildes… Im Anschluss an Schottlaender haben wir besprochen, ob Jugendliche in diese „späten“ Stadien der Liebe kommen können, ob die Erwachsenen ihnen zu viel reinreden (und ihnen eigene Erfahrungen präsentieren), ob die allgemeinen Lebenserfahrungen den Einzelfall treffen können.
Der Aufsatz von H. Schlodder sollte zeigen, wie die begriffliche Sprache (über „Beziehungen“) missbraucht werden kann, wenn sie entweder mit zu hohen Idealen (Ansprüchen an andere und sich) verbunden ist, das Ich mit seinem Gefühl und seiner Verantwortung ausschaltet oder als Waffe verwendet wird.
J.W. Goethe: Warum gabst du uns die tiefen Blicke… (1776).
Der Bericht von C.B. Sucher über Castro (SZ 28.10.94) sollte zeigen, wie die Versuche, Identität in totaler (total „authentischer“) Sexualität zu finden oder zu gründen, scheitern.
Literaturhinweise auf Tobias Brocher (1975), H.J. Gamm, Dieter Wyss, Hubert Fichte (Wolli Indienfahrer, 1978, als Fischer 5425 in 1983 erschienen). – Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe (1984, auch als TB), ist vermutlich zu anspruchsvoll.
Den Schluss bildeten Überlegungen, wie „eros“ unser ganzes Leben bestimmt, nicht nur das primär erotisch-sexuelle Geschehen.
a) Rede des Sokrates in Platons „Symposion“ (199 c ff.): Eros ist eine Beziehung (bzw. Relationsbegriff): Streben nach dem Schönen, nach dem Guten. Eros ist ein „Dämon“ oder ein Dämonisches: die vermittelnde Kraft, jedes Verlangen nach dem Guten, dessen (uns zugängliche) Form das Schaffen und „Zeugen“ ist; Philosophen sind Erotiker des Wissens. – Britta weist auf den verwandten libido-Begriff Sigmund Freuds hin.
b) „Dr. Pausers Werbebewusstsein: Die Brust als Geldsack“ (DIE ZEIT, 1994): In diesem Artikel wird gezeigt, welche Bedeutung das Geld (und die es vermittelnden Versicherungen – ergänze: und Banken) als vermittelndes (erotisches!) Medium heute hat (haben): Brust als Geldsack als Brust…
Schlussgedicht von Theodor Storm: Im Herbste. 19.11.94
3. Zusammenfassung Pl 12.1 – 94/95 (Ethik)
Das letzte Thema des 1. Halbjahrs (1994/95) war V e r a n t w o r t u n g .
Z. Baumann: Wir sind wie Landstreicher (AB): Versuch einer Analyse des modernen Bewusstseins; gedacht als Folie, vor der man fragen kann: Wofür sind wir bzw. bin ich verantwortlich? Darauf haben wir „für Schwächere und für sich selbst“ geantwortet; haben gesehen, dass Verantwortung an Fähigkeiten gebunden ist; haben gefragt, woher denn Verantwortung uns zukommt.
M. Riedel: Freiheit und Verantwortung (AB), untersucht,
– wofür wir verantwortlich sind,
– dass Verantwortung in den Institutionen des Zusammenlebens gründet,
– dass ihr „letzter“ Grund in der (Notwendigkeit der) Kommunikation liegt,
– dass Verantwortung zu haben bedeutet: frei zu sein.
H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung (AB), unterscheidet Verantwortung: für das, was man getan hat – für das, was man tun muss;
hier: rechtlich: für die Folgen des Handelns – moralisch: für die Tat.
Wir haben dann über die Verantwortung des Schülers für seine Leistungen aufgrund der Finanzierung seiner Arbeit durch die Bürger (den Staat) gesprochen; über den Sinn, für den Besuch der Sek. II Schulgeld einzuführen…
Während eine kleine revolutionäre Minderheit sich in der 2. Klausur mit dem Verständnis von Treue auseinandersetzte (E.H. Erikson vs. Schottlaender), untersuchte die Mehrheit den Unterschied zwischen Liebespaar(-Beziehung) und Ehe anhand zweier AB von R. König.
Diese Gegenüberstellung sollte zum einen unsere Überlegungen zur Liebe abrunden, zum anderen in dieser Unterscheidung die Frage nach der Verantwortung verdeutlichen. Verantwortung gibt es nach König in der G r u p p e ; Gemeinschaft sei (als Ausdruck innerer Verbundenheit) kein hinreichendes Medium sozialer Bindungen.
Max Weber: Politik als Beruf (Text VI.2.4 in „Gewalt-Recht-Freiheit“ = GRF) bietet mit einer Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik den Abschluss des Themas und die Überleitung zur Politischen Philosophie (12.2).
Weber unterscheidet das geplante Ziel des Handelns von seinen tatsächlichen Folgen; den Zweck von den Mitteln des Handelns (und bestimmt als Mittel des politischen Handelns die Macht, die sich auf Gewaltandrohung und –anwendung stützt); den Führer mit seinen Zielen vom Gefolge mit seinen eigenen Absichten; die reine Absicht und die faktisch notwendigen Kompromisse beim Handeln, was er gerade anhand von Beispielen aus der Religionsgeschichte als notwendig zu erklären sucht. – Dazu gab es einen Test.
Wir haben uns gefragt, ob der Zweck die Mittel heiligt, und was mit dieser Frage gemeint ist, wenn man den Satz nicht zur zynischen Rechtfertigung jeder Missetat missbrauchen will. – Erst dann, wenn man das bloße momentane Handeln überschreitet (nach vorheriger Absicht – späterem Erfolg) und mit dem Begriff der Mittel auch „die Kosten“ diskutabel macht, ist eine sinnvolle Erörterung (Politik: alternative Wege für gleiche Ziele suchen und über primäre Ziele streiten) und moralische Bewertung von Handlungen möglich.
Das G e f a n g e n e n d i l e m m a (AB Sainsbury) war das letzte Thema dieses Halbjahrs. Nach der Diskussion, was der isolierte Gefangene denn tun sollte im Sinn einer vernünftigen Entscheidung, haben wir die Vernunft-Konzeption des Dilemmas untersucht und kritisiert (im Sinn einer menschlichen Solidarität: Kategorischer Imperativ) und dann gefragt, wie man diese richtige, wenn auch stets gefährdete humane Vernunft in ihrem Wirken sichern kann: Verfassung des Zusammenlebens. – Mir ist übrigens aufgefallen, wie Ihr bei der Diskussion Solidarität immer wieder mit der Frage verbunden habt, ob die beiden sich kennen.
Vielen Dank für die Zusammenarbeit! Tn