Storm: Der eine fragt… Kleiner Lesekurs für Alphabeter

In der von Theodor Hertel besorgten Ausgabe von Storms Werken findet man unter „Sprüche“i zwei kurze Gedichte, die nach der Datierung durch den Herausgeber im Juli 1858 verfasst worden sind. Deren erstes lautet:

Der eine fragt: Was kommt danach?

Der andere fragt nur: Ist es recht?

Und also unterscheidet sich

der Freie von dem Knecht.

Das Verständnis des Sinnspruchs ist umstritten (vgl. die Anmerkung 291 bei Christian Demandt); deshalb wollen wir ihn methodisch exakt lesen, um seinen Sinn jenseits bloßer Vermutungen zu ermitteln. Zugleich sind diese Überlegungen eine Anleitung, einen Text bewusst zu lesen, statt sich auf bloße Assoziationen zu einzelnen Wörtern zu verlassen.

Es ist von zwei Fragen bzw. Fragenden die Rede. Unbestimmt ist zunächst, wann sie wen fragen. Aufgrund ihrer Fragen füllen wir diese erste Leerstelle so: Sie fragen sich selbst, ehe sie etwas tun, was jenseits alltäglicher Routine liegt, weshalb man nachdenkt, wie man handeln soll.

Die Frage „Was kommt danach?“ zielt auf die Folgen der Handlung; sie weist eine weitere Leerstelle auf: Was kommt danach [für mich, oder: überhaupt]? Wie man diese Leerstelle füllt, entscheidet über das Verständnis des Spruchs; wählt man „für mich“, hat man die Frage eines Opportunisten vor sich, der nur auf seinen Vorteil bedacht ist; wählt man „überhaupt“, hört man die Frage eines Menschen, den man im Sinn Max Webers als Verantwortungsethiker bezeichnen könnte, weil er die Folgen seines Handelns für andere bedenkt. Welches die richtige Wahl ist, kann man bis jetzt noch nicht entscheiden.

Die zweite Frage „Ist es recht?“ wird oft missverstanden, weil Leser nicht zwischen dem Substantiv „Recht“ und dem Adjektiv „recht“ unterscheiden. Das Adjektiv „recht“ bedeutet „gerade; richtig; angemessen“ii. Etwas differenzierter steht in Hermann Pauls Wörterbuch: 1) Grundbedeutung „gerade“; 2) richtig (Gegensatz: unrecht und falsch); 3) speziell ist recht, was dem Gesetzen oder Geboten der Sittlichkeit entspricht (Gegensatz „unrecht“, nicht „falsch“); es folgen vier weitere Bedeutungen.iii Wir haben auf Wörterbücher zurückgegriffen, die den Sprachgebrauch Theodor Storms erfassen, da sie wenige Jahrzehnte nach 1858 erschienen sind; gerade die dritte bei Paul genannte Bedeutung von „recht“ kommt hier in Frage – Maßstab des Handelns sind dem Fragenden die Gebote der Sittlichkeit (und nicht die Gesetze des Staates, also das Recht).

Um die Leerstelle in der ersten Frage zu füllen, müssen wir den Kontext dieser Frage beachten, d.h. die Sätze als Text lesen; sie stellt nämlich das Gegenteil der zweiten Frage dar, was sich einmal aus der einschränkenden Partikel „nur“ ergibt, vor allem aber aus dem Gegensatz „der Freie / der Knecht“, denen die beiden Fragen zugeordnet werden – welche die des Freien ist, werden wir später untersuchen. Wenn wir also die beiden Fragen als Gegensätze auffassen müssen, können wir sie so umschreiben: „Egal, was recht ist – was kommt danach“ und „Was ist recht – egal, was danach kommt?“ Weil im Gedicht nur von zwei einzelnen Menschen die Rede ist, wird man die erste Frage so verstehen dürfen: „Was kommt für mich danach, was kommt für mich dabei heraus – egal, was recht ist?“

Auch der erweiterte Kontext des Gedichtes spricht für dieses Verständnis. Ich berufe mich auf ein anderes Gedicht Storms, das er im Oktober 1854 verfasst hat, „Für meine Söhne“. Dort heißt es in der ersten Strophe:

Hehle nimmer mit der Wahrheit!

Bringt sie Leid, nicht bringt sie Reue;

das ist, auf einen besonderen Fall angewandt, die Mahnung, recht zu handeln, ohne auf die Folgen zu achten. Dass der eigene Vorteil nicht der richtige Maßstab des Handelns ist, sagt Storm auch in den beiden letzten Strophen des gleichen Gedichts:

hüte deine Seele

vor dem Karrieremachen und

Halte fest: du hast vom Leben

Doch am Ende nur dich selber.

Das alles sind Lebensregeln im Sinn des Sprichwortes „Tue recht und scheue niemand.“ Dieses Sprichwort gehört zum noch einmal erweiterten Kontext des Gedichts, das zu einem breiten Strom europäischer Ethik und Lebensweisheit gehört, aus dem Sokratesiv, Jesus und andere herausragen.

So bleibt als letzte Frage die, wer von den beiden der Freie und wer der Knecht ist. „Knecht:“ bedeutetv ursprünglich Knabe, Knappe; später steht es im Gegensatz zu „Herr“, wird dann durch „Diener“ verdrängt, ist aber in der Landwirtschaft noch üblich. Anderseits bedeutet „Knecht“ seit alters auch „Unfreier“, leibeigener Knecht, bildlich etwa „der Sünde Knecht“ und dergleichen. Das Wörterbuch und der Gegensatz zu „Freier“ legen nahe, hier ebenfalls die negative metaphorische Bedeutung anzunehmen.

Wir haben also einen doppelten Gegensatz vor uns, dessen Paare durch „also“ (= „so“) einander als gleichartig zugeordnet werden:

der eine: danach? – der andere: recht?

der Freie                  – der Knecht

Rhetorisch könnte man die Zuordnung als Parallelismus lesen, dann wäre der eine der Freie und der andere der Knecht; man kann das Verhältnis der Paare aber auch als Chiasmusvi ansehen, dann ist der eine der Knecht und der andere der Freie.

Die Rhetorik lässt also beide Lesarten zu, so dass man vom Sinn her entscheiden muss, wer der Freie ist: Ist es derjenige, der nach den Maßstäben des Sittengesetzes handelt, oder ist es derjenige, der die Folgen seines Handelns kalkuliert? Kein Zweifel, der andere ist der Freie; der eine ist ein Knecht seines Gewinnstrebens, dem ethische Maßstäbe gleichgültig sind. Wessen Knecht wäre auch derjenige, der sich am Sittengesetz orientiert und dabei Nachteile, vielleicht sogar den Verlust des Lebens wie Sokrates riskiert?

Zweifellos stellt das Gedicht eine Mahnung dar, wie ein Freier statt als Knecht zu leben. Diese Mahnung steht in der großen Tradition europäischer Lebensweisheit: Sie besagt, dass man als Mensch erst frei wird, wenn man sich von der animalischen Sorge um den eigenen Vorteil (Was ist gut für mich?) befreit, den Blick weitet und sich fragt: Was ist richtig? Was ist gut für alle Menschen?

Diese Lesart kann nicht ernsthaft bezweifelt werden, wenn man die methodischen Schritte bedenkt, mit denen wir sie gefunden haben. Solches methodisch kontrollierte Lesen muss geübt werden – wir haben dazu diese Übung angestellt, in der ich reale Verständnisschwierigkeiten aufgegriffen habe (vgl. die Ergebnisse der Suche im Netz unter „Storm: Der eine fragt“!).

Methodisches Fazit:

Wir haben auf den Ebenen der Wörter, der Sätze und des Textes operiert. Um die Bedeutung der Wörter zu ermitteln, haben wir auf Wörterbücher und die grammatischen Kategorieren Adjektiv/Substantiv zurückgegriffen.

Um die Bedeutung der Sätze zu ermitteln, haben wir Leerstellen aufgespürt und gefüllt, außerdem den Zusammenhang der Sätze als Text beachtet. Dabei haben wir auf die Rhetorik zurückgegriffen.

Sinn gibt es auf der Ebene des Satzes, vor allem jedoch des Textes. Um den exakt zu bestimmen, haben wir den Text in seiner Struktur beschrieben und in einen Kontext gestellt – hier in den eines anderen Gedichtes des Autors und in die europäische Tradition der Gattung Sinnsprüche und Lebenslehren.

Zum Kontext gehört auch die Situation, in der ein Text geäußert wird; dazu konnten wir in diesem Fall nichts sagen; die literarische Gattung der Sinnsprüche musste ausreichen, um das sprachliche Handeln der Sprechers zu bestimmen.

i Storms Werke. Herausgegeben von Theodor Hertel. Kritisch durchgesehene und erläuterte Ausgabe. Erster Band. Leipzig und Wien o.J. (Vorwort datiert: Dezember 1918), S. 92

ii Moriz Heyne: Deutsches Wörterbuch, Dritter Band 1895, s.v. „recht“; alte Wörterbücher finden Sie in meinem Blog https://norberto42.wordpress.com aufgelistet und verlinkt.

iii Deutsches Wörterbuch von Hermann Paul, 1897

iv Apologie 28 b. Die Mahnungen der großen Lehrer stellen sich gegen die gängige Praxis: Angesichts der Bestrafung von Klagen „ist es sehr begreiflich, daß die Sclaven, wenn sie hinsichtlich ihrer Lage und des Charakters ihres Herrn befragt werden, fast ohne Ausnahme erwiedern: sie seien zufrieden und hätten einen guten Herrn. (…) Sie verhehlen die Wahrheit lieber, ehe sie die Consequenzen auf sich nehmen, welche aus dem Aussprechen derselben erwachsen können, und geben sich darin als ächte Mitglieder der menschlichen Gesellschaft kund.“ (Frederick Douglass: Sklaverei und Freiheit. Autobiographie, 1860, S. 86)

v Deutsches Wörterbuch von Hermann Paul, 1897; vgl das Zitat in der vorhergehenden Fußnote!

vi Von Chiasmus spricht man, wenn parallele Sätze kreuzweise entgegengesetzt (also in der Fom des griechischen Buchstabens Chi, etwa X) angeordnet sind; der Chiasmus dient vor allem dem Hervorheben von Gegensätzen. Beispiel: „Die Welt ist groß, klein der Verstand.“

DWDS – Wörterbuch im Netz

Das DWDS (Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache) ist ein mediales Ereignis – es wird fortlaufend um neue Ressourcen erweitert. Inzwischen sind z.B. auch das Deutsche Wörterbuch (Brüder Grimm) und das Synonymenwörterbuch GermaNet integriert; im Wortprofil kann man sich die ganze Verwendung des Wortes anschauen, es gibt verschiedene Corpora – man muss das alles in Ruhe ausprobieren. Das Deutsche Wörterbuch ist hier viel übersichtlicher als im Original: Man kann sich die ganze Gliederung anschauen und dann bei Bedarf einzelne Unterpunkte (durch +) aufrufen. Man kommt aus dem Staunen beinahe nicht mehr heraus… Einfach wunderbar!

Wortbedeutung

Die Lehre von der Wortbedeutung (Semantik) wird hier theoretisch sowie vor allem in einer Reihe von Arbeitsblättern (Beispiele!) entfaltet (Unterrichtsreihe). Sie ist etwa für die Klasse 7 konzipiert; hier wird ein differenzierter Sprachgebrauch eingeübt – ein Vorübung auch fürs Analysieren und Argumentieren:

Zur Lehre von der Wortbedeutung

Was ist falsch, was bloß Varietät – am Beispiel „lehren“

Im Erft-Kurier, einem Anzeigenblatt aus Grevenbroich (Sie wissen: jenes linksrheinische Städtchen, wo Horst Schlämmer segensreich gewirkt hat), stand am 3. Juli 2011 in der Schlagzeile, dass ein fußballbegabtes Mädchen den Jungen das Fürchten lehrt. Das tat meinem Sprachgefühl weh, so habe ich kurz eine Mail an die Zeitung geschrieben und auf das Versehen hingewiesen: Das dürfe nicht vorkommen! Heute rief mich ein pensionierter Kollege an und fragte mich, ob man „lehren“ mit dem Dativ gebrauchen kann – er habe den Chefredakteur des Erft-Kuriers angerufen; der habe ihm gesagt, das sei auch möglich. Daraufhin habe ich besagten Kollegen darin bestärkt, dass „den Schülern etwas lehren“ natürlich falsch sei.

Die Sache ließ mir dann keine Ruhe; ich habe einmal in den Wörterbüchern nachgeschaut und mich nicht schlecht gewundert:

In Büntings „Deutsches Wörterbuch“ steht: „jemanden etwas lehren“, wie man das als richtiger Deutschlehrer auch kennt.

Ebenso im Bertelsmann-Wörterbuch:

leh|ren [V.1, hat gelehrt] I [mit Akk. und Akk.]jmdn. etwas l. jmdn. in etwas unterrichten, jmdm. etwas beibringen; jmdn. das Lesen, Reiten, Schwimmen l.; jmdn. l., ein Gerät zu handhaben; ich werd‘ dich l., meine Äpfel zu stehlen! [übertr.] was fällt dir ein…?

Im Grimm’schen Wörterbuch (Art. „lehren“ http://germazope.uni-trier.de/Projekte/WBB2009/DWB/wbgui_py?lemid=GA00001) fand ich dann aber etwas anderes:

8) lehren wird verbunden sowol mit dem acc. der person (vgl. no. 4) als mit dem acc. der zu lehrenden sache (no.5), eine seit den ältesten zeiten gewöhnliche fügung

10) neuerer brauch ist es, statt des persönlichen accusativs (oben no. 4) den dativ zu verwenden. mhd. ist dafür noch kein beispiel zu geben, …

So dann auch das DWDS (http://www.dwds.de/?qu=lehren&view=1):

1. jmdn., etw. l. ; ; jmdm., etw. l. umgangssprachlich ♦ jmdm. durch Unterricht, Belehrung Kenntnisse vermitteln, jmdm. etw. beibringen

In Hermann Paul: Deutsches Wörterbuch (10. Aufl. 2002) steht mit Berufung auf Trübner: „Seit 17. Jh. (Trübner) tritt, wohl unter französischem Einfluß, an die Stelle des persönlichen Akkusativs häufig der Dativ: sie lehrte ihm kleine Lieder Goethe“ [Ich habe die Abkürzungen ausgeschrieben.]

Das Duden-Universalwörterbuch (2. Auflage, 1989) sagt: „jemanden lehren, (veraltend) jemandem lehren“. Na ja, der Gebrauch des Dativs ist wenigstens „veraltend“!

Auswertung:

1. Das eigene Sprachgefühl kann selbst einen korrekturfreudigen sprachsicheren Deutschlehrer täuschen.

2. Es gibt keine Instanz, die verbindlich über „richtig/falsch“ in der Sprachverwendung entscheiden kann. Die Sprache wird so verwendet, wie sie verwendet wird; Eltern korrigieren ihre Kinder in dem Sinn, wie sie selber zu sprechen gelernt haben. „Richtig“ ist die Art, wie alle sprechen; „falsch“ ist es, wenn einer vom normalen Sprachgebrauch abweicht. Wenn genügend Leute in einer Gegend, aus einer Berufsgruppe oder einer sozialen Schicht usw. „anders“ sprechen, ist das nicht falsch, sondern eine Varietät.

3. Trotzdem muss man als Deutschlehrer Schülerarbeiten korrigieren – vielleicht sollte man dabei öfter im Wörterbuch nachschauen und sich nicht nur auf das eigene Sprachgefühl verlassen?

4. Sicher falsch ist die rheinische Wendung, die ich in meiner Kindheit auf dem platten Land (in Ratheim) gelernt habe: „Lern mich dat mal!“ Aber vielleicht ist das auch bloß eine Varietät?

5. Die Welt, in der man noch zwischen „trotzdem“ und „nichtsdestoweniger“ zu unterscheiden wusste, statt „nichtsdestotrotz“ zu sagen, oder in der man den Unterschied zwischen „letztlich“ und „endlich“ kannte, statt beide „letztendlich“ in einen Topf zu werfen: Das ist die Welt von gestern; sie ist dabei unterzugehen. „Die Welt von gestern“ geht immer unter, nicht nur für Stefan Zweig.

P.S. 

Christine Wollowski berichtet in der SZ vom 8. Juli 2011 („Wir holt den Fisch“, S. 14) darüber, dass in Brasilien erstmals die völlig verarmte und vereinfachte Umgangssprache in ein Portugiesisch-Lehrbuch für Erwachsene aufgenommen worden ist. In dieser Sprachversion gibt es für Verben nur die 3. Person Singular („Wir geht zur Schule“), Substantive gibt es nicht mehr im Plural, schwierigere werden durch „Dingens“ ersetzt. Diese Sprache sei „Ausdruck der Lebenswirklichkeit einer ungebildeten Mehrheit, der nur das marode öffentliche Schulsystem offensteht“.

„Die Frage lautet derzeit deshalb: Soll die Schule diese populäre Sprachversion als gleichwertig und ausreichend akzeptieren?“ Wollowski referiert die Argumente für das Ja und Nein und plädiert schließlich auch für das Nein; denn normale Bewerbungsverfahren fragten korrekte Grammatik ab. „Wer gesellschaftlich ernst genommen werden will, muss die Hochsprache beherrschen.“ Es nütze nichts, Simpelsprechern zu sagen, ihre Sprechweise sei auch korrekt, „solange die Gesellschaft anderer Ansicht ist“.

Ersatzprobe / Bedeutung

Wenn man in einem Satz ein Wort durch ein anderes oder eine Wendung durch eine andere ersetzt, um damit etwas herauszufinden, macht man eine Ersatzprobe.
Ersatzproben kann man zu den verschiedensten Zwecken benutzen. Wir haben sie im Zusammenhang mit der Untersuchung der Modalität genutzt, um die Bedeutung von Modalverben zu ermitteln; denn wie du weißt, kann ein und dasselbe Modalverb verschiedene Bedeutungen annehmen, je nach der Situation, in der es verwendet wird, und dem Tonfall, in dem man spricht. Ich zeige das an einem Beispiel:
(1) Die Mutter sagt zu ihrer Tochter: „Du darfst heute bis 22 Uhr ausgehen.“
(2) Bei einer Radarkontrolle sagt ein Polizist zu einem Kollegen, als sie in Waat ein Auto mit 93 km/h geblitzt haben: „Wie der rast, – das darf doch nicht wahr sein!“
Wenn man die Bedeutung des Modalverbs „dürfen“ jeweils ermitteln will, muss man es durch eine gleichbedeutende Wendung ersetzen, also eine Ersatzprobe machen:
(1‘) Die Mutter sagt zu ihrer Tochter: „Ich erlaube dir, heute bis 22 Uhr auszugehen.“
(2‘) Bei einer Radarkontrolle sagt ein Polizist zu einem Kollegen, als sie in Waat ein Auto mit 93 km/h geblitzt haben: „Wie der rast, – das ist wirklich unverschämt!“ Du siehst: Der „Ersatz“ ist kursiv geschrieben; in (1`) ist noch zum Infinitiv „zu“ hinzugefügt in (2) ist nicht nur das Verb „dürfen“ ausgetauscht worden, sondern eine ganze Wendung – „darf doch nicht wahr sein“ ist offensichtlich eine feste Redewendung, die als ganze ersetzt werden muss. In (1) muss auch das Subjekt „du“ mitverändert werden – ahnst du, warum das so ist?
Um die ganze Sache noch einmal am Beispiel des Verbs „drohen“ durchzuspielen, das eine „normale“ wie auch eine modifizierende Bedeutung annehmen kann:
(3) Die Eltern drohten, sie würden dem Kind kein Taschengeld geben, wenn es nicht sein Zimmer aufräumte.
(3‘) Die Eltern kündigten an, sie würden dem Kind zur Strafe kein Taschengeld geben, wenn es nicht sein Zimmer aufräumte.
Hier bedeutet „drohen“ so viel wie „eine Strafe ankündigen“, falls etwas von dem Bedrohten nicht getan wird.
(4) Das Haus droht in Kürze einzustürzen.
(4‘) Es besteht die Gefahr, dass das Haus in Kürze einstürzt.
Du siehst hoffentlich, dass hier aus dem „drohen“ der neue Hauptsatz geworden ist, dem der alte Infinitiv + „zu“ als dass-Satz mit dem alten Subjekt folgt. „Es besteht die Gefahr“: Damit schätzt der Sprecher die Situation oder den Zustand des Hauses ein; deshalb ist hier „drohen“ als ein modifizierendes Verb anzusehen. Eigentümlich ist hier auch, dass das Subjekt kein Mensch ist, sondern ein Ding oder Gegenstand; ein solches kann aber natürlich nichts ankündigen – der Sprecher kann nur etwas erwarten oder sehen, dass „sich“ da etwas nach seiner Erfahrung „ankündigt“.
Die Ersatzprobe ist ein Verfahren, das man für viele Zwecke benutzen kann; daher ist es wichtig, dass du dieses Verfahren gut beherrschst. – Bei einer Ersatzprobe lotet man die Bandbreite der Bedeutung eines Wortes (die Synonyme) aus; die ganze Bandbreite sollte eigentlich im Wörterbuch verzeichnet sein: Deshalb ist es eine Kunst, mit dem Wörterbuch richtig umzugehen und sich anregen zu lassen, die jeweils passende Bedeutung herauszufinden (statt den Artikel des Wörterbuchs ohne Verstand abzuschreiben).

Ich setze mit einem weiteren kleinen Aufsatz über „Bedeutung“ fort:

Als ich noch sehr klein war, vielleicht in der 1. oder 2. Klasse, las ich im Englischbuch meiner großen Schwester, dass „Vater“ englisch „father“ heißt. Aha, dachte ich: V = f, t = th; a, e, r bleiben erhalten – Englisch ist ganz einfach, man muss nur ein paar Buchstaben ändern, sonst ist alles gleich: Bedeutung lag für mich in der Buchstabenfolge.

Als ich das Gymnasium besuchte, lernte ich zunächst Latein. Ich lernte: „ponere = setzen, stellen, legen“. Da dachte ich, die Römer wären verrückt gewesen; konnten sie nicht eine einzige ordentliche Bedeutung für „ponere“ haben? Woher sollte man denn wissen, was gemeint ist? Dementsprechend haben wir auch übersetzt, es war im Wesentlichen grausam: Bedeutung lag für mich im Wort.

Heute weiß ich, dass Wörter nicht aus sich „eine Bedeutung haben“, sondern in Redewendnungen vorkommen. Solche Redewendungen muss man kennen, um zu wissen, was Wörter im jeweiligen Zusammenhang bedeuten können; Wörterbücher beruhen auf der Sammlung von Belegstellen (Beispielen, Redewendungen); aus denen werden dann „Bedeutungen“ eines Wortes extrahiert. Daraus ergibt sich, dass der eine Forscher nur eine Bedeutung angibt (Bünting zu „prangen“ [an exponierter, auffälliger Stelle hängen]), das Duden-Wörterbuch zwei [1. in auffälliger Weise vorhanden, sichtbar sein; 2. in voller Schönheit glänzen, auffallen] und das DWDS deren drei [1. Schönheit, Glanz, Prunk zeigen; 2. an einer bestimmten Stelle groß und auffällig angebracht sein; 3. mit etwas prahlen, angeben (veraltend)]. [Die Frage ist, wozu man das Wörterbuch braucht, wie umfangreich es sein darf, wie viele Belege der Forscher auswertet, wie exakt er die Bedeungsfülle ermitteln will, in welchen Schaubildern er die Bedeutungsfülle darstellen kann, wie sorgfältig ein Forscher arbeitet usw. – ein Blick in verschiedene, auch digitale Wörterbücher ist hilfreich!]

Wörter verbinden
Entscheidendes Merkmal im Gebrauch von Wörtern ist ihre Fähigkeit, Verbindungen einzugehen („Fügung“ bzw. „Valenz“), und das nach seriellen Mustern. Hier ist die Unterscheidung: syntagmatisch – paradigmatisch (s.u.) von Bedeutung.
Damit kommen wir zum Satz als kommunikativer Minimaleinheit (Jung/Starke: Deutsche Grammatik, 10. neubearbeitete Aufl., 1990, 42 ff.):
– Der Satz als Sinneinheit kann durch ein Wort („das“) vertreten werden.
– Der Satz ist eine durch Stimmführung bewirkte Klangeinheit.
– Der Satz ist eine durch das Verb gegründete, grammatisch gegliederte Einheit.
Neben der Valenz (http://mmtux.idf.uni-heidelberg.de/ProGram/Valenz/RK_valenz.html) der flektierbaren (!) Verben verdienen Präpositionen, Konjunktionen und Pronomen besondere Beachtung wegen ihrer Fähigkeit, syntaktische Beziehungen herzustellen; auch der innere Ausbau einer Nominalgruppe durch Attribute muss genannt werden. Die Unterscheidung von Thema-Rhema, aus der Texttheorie stammend, kann auch zur Gliederung des Satzes verwendet werden. Vereinfacht: Das Subjekt in der Spitzenstellung wäre Thema, die „eigentliche“ Satzaussage das Rhema.
Die Duden-Grammatik fasst den Zusammenhang zwischen Textelementen unter dem Stichwort der Kohärenz zusammen (6. Auflage, 1998, S. 845 ff.) und zählt verschiedene sprachliche Mittel der Kohäsion auf (S. 850 ff.). Die können wir nicht verstehen, wenn wir nicht beachten, dass in der Kommunikation gesprochen wird und dass damit der Textbegriff herangezogen werden muss; die Duden-Grammatik nennt sechs Textfunktionen (S. 841 f.).
Der Satz ist eine Einheit in der Kommunikation. Die kommunikativen Grundfunktionen sind Aussagen, Fragen, Wünschen/Befehlen (und Bewerten). Dazu gehören bestimmte Satztypen.

Was ist ein Wort? (die kleinste klar abgrenzbare bedeutungstragende „Einheit“)
Sprache als System: Die Grundbegriffe sind „Wort“ und „Satz“.
Sprache in der Verwendung: Die Grundbegriffe sind „Äußerung“ und „Text“.
(Duden: Grammatik, 6. A., S. 833)

Die Unterscheidung syntagmatisch – paradigmatisch geht auf Saussure zurück:
a) Syntagmatisch heißt die Beziehung eines Sprachelements zu den Elementen seiner Umgebung (Redewendung, Satz, also horizontal):
Der – Mann – baut – ein – Haus.
b) Paradigmatische Beziehungen bestehen zwischen Elementen, die die gleiche Stelle innerhalb des Syntagmas einnehmen können und sich dort gegenseitig ausschließen:
Der >
Dieser >
Ein >
Jeder > Mann – baut – ein – Haus. Entsprechend:
Der Mann [> Maurer > Kölner > Gastwirt] baut ein Haus.
…baut [> baute > kauft > erbt] ein Haus.
…ein [- unser – jedes – kein] Haus. (usw.)

Letzte theoretische Einsicht: Man kann die Bedeutung eines Wortes auch erfassen, indem man sein Antonym (Gegenwort) an dieser Stelle bestimmt. So kann zu „anfangen“ etwa „nicht anfangen“, „weitermachen“ oder „aufhören“ Antonym sein; der kompetente Sprecher/Hörer hört solche Feinheiten im Kontext, also in einer Situation. – Sowohl das Anfangen wie das Nichtanfangen kann man dann wieder näher bestimmen (aus Vorsicht, aus Faulheit, aus Geduld…).

Praktische Bedeutung: Im Verständnis eines jeden Textes ist es falsch, einem einzelnen (isolierten!) Wort eine bestimmte Bedeutung beizumessen; bei Gedichten ist es also sinnlos, einfach „Frühling“ mit Jugend gleichzusetzen usw. – ich erinnere an die Lektüre des Goethegedichtes „Dauer im Wechsel“ und die Jagd nach metaphorischer Bedeutung; für ein metaphorisches Verständnis muss es Gründe geben, man darf es nicht einfach bei jedem Gedicht praktizieren! Richtig ist es, die Wörter im Zusammenhang zu lesen, wie ich es in dem AB „Gedichtanalyse – erste Hinweise“ (s. Methodisches – Studio D) gefordert habe. Das gilt auch für die Lyrik 1945 – 1960, dort sogar noch stärker, weil diese Gedichte grammatische und semantische „Lücken“ aufweisen, also weithin unbestimmt sind.

Einen Überblick über die verschiedenen in der Linguistik verwendeten Proben gibt Peter Hellwig in seinem Aufsatz über die Methoden der Linguistik: www.cl.uni-heidelberg.de/kurs/ws06/ecl/etc/methoden.pdf

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Arbeitstechnik: genau lesen, mit Wörterbuch

Dieser kleine Lehrgang soll den Blick für die Möglichkeiten öffnen, wie man lesen kann; soll für die Frage sensibilisieren, wie man lesen soll; soll auch an einige semantisch-grammatische Einsichten erinnern, die angesichts des realen Deutschunterrichts für viele Leser als Theorie neu sind. Ich habe als Beispiel die 1. Strophe von Hebbels „Sommerbild“ (1848) gewählt.

Sommerbild
Ich sah des Sommers letzte Rose stehn,
Sie war, als ob sie bluten könne, rot;
Da sprach ich schauernd im Vorübergehn:
„So weit im Leben, ist zu nah am Tod!“

Ich sah ist der bestimmende Anfang; damit ist die Perspektive ICH gesetzt. Ein solches Ich in Gedichten nennen wir lyrisches Ich. Es blickt zurück (Präteritum), spricht von einem vergangenen Ereignis. Anderes würde folgende Stellung der gleichen Wörter ausdrücken: Des Sommers letzte Rose / sah ich stehn. Hier stände die Rose stärker als das sehende Ich im Vordergrund. sah ist die Achse,  und was im Vorfeld steht, verdient besondere Beachtung. [-> Satzgliedstellung]
Das lyrische Ich berichtet oder erzählt, dass es (etwas) sah; es ist auch ein zuhörendes Du mitgedacht, dem das sprechende Ich sagt, dass es damals sah. [-> Kommunikation im fiktionalen Text]

Damit man die Bedeutung dieses Anfangs ermessen kann, nenne ich zwei andere Anfänge von Gedichten aus der gleichen Zeit:
Es reist – wer reist wohin? Es reist so mancher Philister (Hoffmann von Fallersleben, 1845); hier spricht ein nicht greifbarer Sprecher allgemein über die reisenden Philister. Der Sprecher bedenkt, was diese Philister tun; vielleicht berichtet er später von einem Reisenden, der etwas Besonderes erlebt hat. Diesen Anfang könnte das sprechende Ich auch für sich allein denken: Ja, ja, es reist so mancher Philister…
Fern hallt Musik (Storm, 1852) ist der zweite Anfang; der wiederum ungenannte Sprecher beschreibt (erfreut? klagend?), dass er laute Musik hört.
Verglichen mit diesen beiden Anfängen wird mit dem Anfang Ich sah das (damals) sehende Ich betont in den Vordergrund gerückt. Was sah das Ich? Diese Frage ist mit dem Anfang Ich sah gestellt. Auf diese Frage gibt es zwei Antworten; welche Antwort man als Leser zuerst wahrnimmt, hängt davon ab, wie man liest.

Die erste Antwort wird in der Überschrift Sommerbild (Hebbel) gegeben oder zumindest angedeutet. Sommer ist eine Jahreszeit; Sommerbild lässt also an Natur oder Menschen denken, die im Sommer unter dem Eindruck von Licht und Wärme stehen. Es wird eine Erwartung geweckt: zu sehen war, was im Sommer da war.
Die zweite Antwort gibt die Fortsetzung Ich sah / des Sommers letzte Rose stehn. Es wären auch andere Fortsetzungen denkbar gewesen:
* Ich sah nach meinem spielenden Kind, oder
* Ich sah in der Ferne das glitzernde Meer, oder
* Ich sah, dass du schwitzend littest. Diese Möglichkeiten sind durch die Valenz des Verbs sehen und die dadurch gegebenen Satzbaupläne eröffnet. Erst wenn man die nicht realisierten Möglichkeiten beachtet, versteht man, was die realisierte Möglichkeit besagt. [-> Valenz, Satzbaupläne]
Die zweite Antwort ist viel genauer als die erste; es ist die Antwort des sprechenden Ichs in seinem sehen-Satz, während die Überschrift der Titel des Autors über dem ganzen Gedicht ist. So ist der Titel des Gedichtes „Fern hallt Musik“ Hyazinthen; der Name dieser Blumensorte sagt nun wirklich nichts zur fern hallenden Musik, sodass man die Antwort aus der Überschrift Sommerbild nicht überbewerten sollte. Die „richtige“ Antwort gibt es in der Fortsetzung des sehen-Satzes, im Nachfeld. [-> Strukturtypen des Satzes; Vorfeld, Nachfeld]
Ich sah / des Sommers letzte Rose stehn. Diese Antwort besteht aus zwei Teilen: des Sommers letzte Rose und stehn. Rose und stehn sind einander zugeordnet, aber eben doch nicht in der Form eines Satzes:
# Ich sah, dass des Sommers letzte Rose stand. Diese #-Variante stellt „stand“ heraus, während in Hebbels Gedicht „des Sommers letzte Rose“ in den Vordergrund gerückt wird – „stehn“ könnte beinahe fehlen. Was besagt des Sommers letzte Rose?
Was diese Wendung besagt, versteht man, wenn man bedenkt, welche Wendungen durch die Wahl „des Sommers letzte Rose“ ausgeschlossen sind:
* des Sommers erste Rose,
* des Herbstes letzte Rose <passt nicht zu „Sommerbild“>,
* des Sommers letzte Lilie… usw.
Mit „Sommers“ wird die Erwartung der Überschrift „Sommerbild“ erfüllt, mit „letzte“ wird sie gestört – letzte Blumen gibt es eher im Herbst; letzte rückt den Sommer in die Nähe des Herbstes. Und was bedeutet uns die Rose? Sie steht uns näher als die Lilie – was bedeutet sie?

Exkurs: das Wörterbuch benutzen
Die Regel lautet: Was ein Wort bedeuten kann, steht im Wörterbuch; was es tatsächlich bedeutet, ergibt sich aus dem determinierenden Kontext, in dem das Wort steht. [Es wäre also unsinnig, das Wörterbuch mit der Bemerkung abzuschreiben, das alles bedeute „Rose“!] Ich gebe hier den Eintrag zu „Rose“ im Wörterbuch (Wortschatz Uni Leipzig) verkürzt wieder:
Beschreibung:   duftende Blume
französischer Frauenname
Gestalt aus „Glöckchen des Eremiten“
Gestalt aus „Rose Bernd“
Königin der Blumen

Das Wörterbuch DWDS gibt (verkürzt) an:
1. stachlicher Zierstrauch mit gefiederten Blättern (…)
2. Blüte von 1: (…) sowie den Hinweis auf Goethes „Heideröslein“;
schön wie eine Rose; [bildlich:] nicht auf Rosen gebettet sein; keine Rose ohne Dornen
3. [übertragen] Dinge, die einer Rose äußerlich ähnlich sind.
Erstes Fazit: Die Angaben in den beiden Wörterbüchern sind nicht gleich; man sollte deshalb möglichst nicht nur ein einziges Wörterbuch zu Rate ziehen. Zweites Fazit: Der Rose kommt eine große Bedeutung für uns zu; sie wird nicht nur als Name einer Blumensorte gebraucht, sondern kommt auch in Redesarten vor und gilt uns als „Königin der Blumen“, als oberste und schönste Blume.
Man kann dieses Feld möglicher Bedeutungen erweitern, wenn man in der Suchmaschine (oder in Wörterbüchern) „Rose“ nachschlägt. – Man würde normalerweise nun die unproblematische Bedeutung „letzte“ mit „Rose“ verbinden, um „letzte Rose“ zu verstehen: Ende des Blühens der schönsten Blumen, deren letzte noch übrig ist. Aber es ist so, dass nicht nur heute, sondern bereits 1848 „letzte Rose“ eine feste Wendung war. Ich vermute, dass Friedrich von Flotows Oper „Martha“ (1847) mit einer Rosenarie Hebbel inspiriert hat:
„Letzte Rose, wie magst du
So einsam hier blühn? (…)“
Flotow ist seinerseits vermutlich von einem Gedicht des irischen Lyrikers Thomas Moore angeregt worden:
„Des Sommers letzte Rose
Blüht hier noch, einsam rot…“ (1830, dt. von Wilhelm Riese).
Unter dem Eindruck dieses Motivs, das sich bei Hebbel auch noch in dem Gedicht „Verloren und gefunden“ findet, stehen heute zahlreiche Titel der Volksmusik: „Letzte Rose in meinem Garten“, „Auf der Heide blühn die letzten Rosen“ und ähnliche. – Die Wendung „des Sommers letzte Rose“ (V. 1) straft den Titel „Sommerbild“ Lügen; diese Rose ist nämlich die Botin des Herbstes.
Drittes Fazit: Man darf nicht (nur) einzelne Wörter betrachten, sondern muss beachten, dass sie mit anderen zusammengefügt sind. [-> Valenz der Wörter; Syntagma – Paradigma]
Man könnte zum Beispiel auch hallen im Wörterbuch nachschlagen und dann sehen, wie das Bedeutungsfeld von „hallen“ durch das Subjekt „Musik“ eingeschränkt wird: Es hallen keine Glocken- oder Donnerschläge, sondern Musik; das ist ein ganz anderes Hallen – man ist beinahe verwundert, dass Musik hallt (Trommelschläge könnten noch hallen). Die Eigentümlichkeit des Hallens oder, genauer, der Wahrnehmung (!) des Hallens durch den Sprecher ergibt sich in der Fortsetzung:
Fern hallt Musik; doch hier ist stille Nacht. Es wird ein doppelter Kontrast in der Wahrnehmung beschrieben: hallende Musik / stille Nacht, und zwar fern / hier. Diese Kontraste eröffnen ein Feld der Erwartung: Wie schön, dass es hier still ist. Oder: Wie schade, dass hier nichts los ist. Dieses Feld wird dann erst in den beiden folgenden Versen thematisch eindeutig bestimmt:
Ich habe deiner (hier) gedacht / du musst (in der Ferne) tanzen. Man muss also Storms Gedichten „Hyazinthen“ bis Vers 4 lesen, um die Bedeutung von hallen zu verstehen!

Was sah das Ich, als es des Sommers letzte Rose sah?
Sie war, als ob sie bluten könne, rot. Die Rose war rot; viele Rosen sind rot. Das Ich mit seinem Blick sah dieses Rot so: als ob sie bluten könne. Die reguläre Form von „könne“ wäre „könnte“; damit haben (hätten) wir einen sogenannten irrealen Vergleich der Blumenfarbe Rot. Die Rose kann nicht bluten, aber sie ist – so sieht es das Ich! – so rot, als ob sie bluten könnte; in der Sicht des lyrischen Ichs ist die Rose verletzlich, sterblich wie ein Mensch. Es geht in diesem Gedicht also nicht „um eine Rose“, sondern um die Begegnung des Ichs mit der letzten Rose, die so rot ist, als ob sie bluten könnte; es geht darum, was das Ich in dieser Rose sieht.
Was diese Begegnung dem Ich bedeutet, sagt es dann:
Da sprach ich schauernd im Vorübergehn:
„So weit im Leben, ist zu nah am Tod!“

Das Ich sprach schauernd; die Begegnung mit der letzten Rose hat das Ich erschüttert, hat ihm einen Schauer über den Rücken gejagt, hat ihm die Ahnung des Todes vermittelt. Ob im Vorübergehn eine Bedeutung außer der Beschreibung der Tätigkeit des Ichs (oder der Bestimmung des Zeitpunkts des Sprechens) hat, ist offen. Man könnte die Bedeutung prüfen:
* Da sprach ich schauernd, als ich stehen blieb, oder
* Da sprach ich schauernd, mit gesenktem Kopf.
im Vorübergehn könnte also eine wesentliche, nicht nur zufällige Bestimmung des lyrischen Ichs sein – es selber wäre dann ein vorübergehendes, ein vergehendes Wesen. Ähnlich heißt es in einem Gedicht Werner Bergengruens 1945, also viel später: „Was aus Schmerzen kam, war Vorübergang.“
Was das Ich damals sprach, wird nun berichtet:
„So weit im Leben, ist zu nah am Tod!“ Das Ich besitzt ein Wissen über den Zusammenhang von Leben und Tod; es bewertet die Position der letzten Rose im Leben: Die Rose ist in ihrem Leben weit vorangekommen. Die Rose ist damit zu nah am Tod. In der Partikel zu drückt das Ich aus, dass es den Tod ablehnt oder fürchtet.
In diesem Satz ist die Rose nicht genannt; aber zunächst ist sie gemeint, da sie ja so rot ist, als ob sie bluten könnte. Sie ist also so weit im Leben fortgeschritten, dass sie in der Nähe des Todes ist. Da die Rose als Subjekt dieser Bewertung aber nicht genannt ist und da das Ich schauernd spricht, spricht es seine Bewertung auch im Hinblick auf sich selber aus, ohne dass seine Position im Leben bestimmt würde. Mit dem Rufzeichen am Ende des 4. Verses unterstreicht das Ich, wie wichtig ihm die Furcht vor der Todesnähe ist.

Das Sommerbild ist das Bild der letzten Rose, der das Ich vor einiger Zeit begegnet ist; sie war so rot, dass Todesahnungen das lyrische Ich haben erschauern lassen. Es hat seine Gestimmtheit ausgesprochen, es scheut vor dem nahenden Tod zurück.
In der zweiten Strophe berichtet das Ich, wie es der letzten Rose erging: Der Flügelschlag eines Schmetterlings erschütterte die Rose, sodass sie nach dem Gesetz ihres Lebens verging.
Was zum Rhythmus und zur Semantik der Reime zu sagen wäre, haben wir noch nicht beachtet. Ich verweise dafür auf meine Analyse des Gedichtes (-> „Hebbel Sommerbild“ +norberto42) und auf die entsprechenden Aufsätze zu Reim und Rhythmus (https://norberto68.wordpress.com/2010/11/28/gedichtanalyse-gedichte-analysieren-meine-aufsatze-mit-beispielen/ sowie https://norberto68.wordpress.com/2011/02/14/rhythmus-eines-gedichts-beispiel-goethe-gefunden/).

Welche Arbeitsaufträge haben sich ergeben? Zu erforschen sind: Satzgliedstellung; Valenz (des Verbs, der Wörter allgemein); Syntagma – Paradigma; (Kommunikation im fiktionalen Text)  Vgl.

Satzgliedstellung:
http://culturitalia.uibk.ac.at/hispanoteca/Lexikon%20 (Satzgliedstellung: gute Übersicht)
http://de.wikipedia.org/wiki/Thema-Rhema-Gliederung (sehr knapp, Verbindung zu Thema-Rhema)
In http://www.canoo.net/ die Satzgrammatik anklicken, dort: Satzbaupläne, Wortstellung (mit Verweisen!) 

Valenz (bitte den Zusammenhang mit den Satzbauplänen beachten!):
http://www.teachsam.de/deutsch/d_lingu/synt/wort/Verb/verb_6_2.htm (Verben: mit Beispielen)
http://de.wikipedia.org/wiki/Valenz_(Linguistik)
http://mmtux.idf.uni-heidelberg.de/ProGram/Valenz/RK_valenz.html (umfassend!)

Syntagma – Paradigma:
http://glossar.schneider-ret.de/artikel/paradigmatische_beziehung.htm

http://culturitalia.uibk.ac.at/hispanoteca/Lexikon%20der%20Linguistik/

http://www.noirscript.de/dramaturgie/relatio.htm
http://www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de/veranstaltungen/einfuehrungsvorlesungen/2006/3_07112006.pdf
http://www.fb10.uni-bremen.de/khwagner/semantik/ppt/StrukSem1.ppt

Es zeigt sich, dass hier Fragen der Grammatik auftauchen, die im normalen Deutschunterricht nicht thematisiert werden und die in Schülergrammatiken oft nicht einmal behandelt werden. Es zeigt sich ferner, wie sinnlos die von verzweifelten Deutschlehrern ans Volk gerichtete Frage ist: „An welchen Wörtern siehst du das?“ An bloßen Wörtern sieht man ziemlich wenig!
Mit den Worten von noirscript: Es geht um die Relation (eines Wortes zu anderen Wörtern): Beziehung zwischen den verschiedenen Sprachelementen; seit Saussure werden diese Beziehungen unterschieden nach zwei Arten: 1. syntagmatische Relation: Beziehung eines Elements zu Elementen seiner Umgebung (horizontale Betrachtung in der linearen Redekette); 2. paradigmatische Relation: Beziehungen eines Elements, die es ersetzen, die an seine Stelle im Kontext treten können und sich dort gegenseitig ausschließen (vertikale Betrachtung im Satz).
Und diese Relationen muss man innerhalb des Satzes (Vorfeld / Verb / Nachfeld) sehen!

Mit dem Wörterbuch arbeiten (Beispiel: Büchner)

Sie sollen hier lernen, wie man die Bedeutung eines Wortes an seiner Stelle methodisch behutsam ermittelt.

Regel: Man ermittelt die Bedeutung eines Wortes, indem man als kompetenter Sprecher probiert, durch welches andere mit gleicher Bedeutung es an dieser Stelle ersetzt werden kann. (Ersatzprobe)

Hilfsmittel dabei ist das Sprachgefühl dessen, der den Kontext beacht. Das Wörterbuch ist eine Liste mit Bedeutungen, in denen ein Wort (einzeln oder in Redewendungen) im Allgemeinen verwendet werden kann.

Probieren Sie bitte, welches Wörterbuch Ihnen am besten hilft – begnnügen Sie sich nicht mit einem einzigen Wörterbuch! Als online-Wörterbuch gibt es:

Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache im 20. Jahrhundert (http://www.dwds.de/)

Wortschatz Universität Leipzig (http://wortschatz.uni-leipzig.de/)

BERTELSMANN Wörterbuch (Kurzfassung des Wörterbuchs von Wahrig: http://www.wissen.de/wissensserver/search?; nach der Worteingabe noch einmal in „Wörterbuch“ das Wort anklicken)

Online-Wortschatz-Informationssystem Deutsch (http://www.owid.de/)

und andere; ältere Wörterbücher sind die bei http://www.zeno.org sowie

Synonymisches Handwörterbuch der deutschen Sprache (http://www.textlog.de/johann-eberhard.html, 1910).

Mein Tipp: Halten Sie brauchbare Wörterbücher durch Lesezeichen auf dem Rechner fest!

[Es geht im Folgenden um Wörter aus Büchners „Woyzeck“; gezählt werden die Szenen nach der Ausgabe RUB 18420 von Burghard Dedner.]

1. Aufgabe: Ersetzen Sie „Meinetwegen“ (Ende 6.) durch ein Wort oder eine Wendung gleicher Bedeutung: ______________________________________________________

2. Aufgabe: Ersetzen Sie „eins“ (6., im folgenden Satz) durch ein Wort oder eine Wendung gleicher Bedeutung: ______________________________________________

3. Aufgabe: Ersetzen Sie „hirnwütig“ (7.) durch ein Wort oder eine Wendung gleicher Bedeutung: _______________________________________________

4. Aufgabe: Ersetzen Sie „gesehn“ (7., im Satz: Ich hab ihn gesehn.) durch ein Wort oder eine Wendung gleicher Bedeutung (evtl. ein ganzen neuen Satz bilden):

_______________________________________________________________________

5. Aufgabe: Ersetzen Sie „Doctor“ (Figurenangabe vor 8.) durch ein Wort oder eine Wendung gleicher Bedeutung: ____________________________________

6. Aufgabe: Prüfen Sie, welche Konnotation (gefühlsmäßige Bedeutung) „Doctor“ nach Lektüre der ganzen Szene hat, ob also die normale Bedeutung hier zutrifft: _______________________________________________________________________

7. Aufgabe: Ersetzen Sie „gepisst“ (8., in der Wendung „auf Straß gepisst“) durch ein Wort oder eine Wendung gleicher Bedeutung: __________________________________

8. Aufgabe: Prüfen Sie, ob durch die Wiederholung plus Vergleich (an die Wand gepisst wie ein Hund, 8.) die Konnotation von „gepisst“ sich verändert:

_______________________________________________________________________

9. Aufgabe: Ersetzen Sie „unwissenschaftlich“ (8.) durch ein Wort oder eine Wendung gleicher Bedeutung: __________________________________________

10. Aufgabe: Ersetzen Sie „Struktur“ (8.) durch ein Wort oder eine Wendung gleicher Bedeutung: __________________________________________

11. Aufgabe: Achten Sie in Zukunft bewusst darauf, ob Sie die Bedeutung eines Wortes oder einer Wendung methodisch behutsam ermitteln sollten, statt sich bloß aufs eigene Sprachgefühl zu verlassen.

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Das ist ein Arbeitsblatt, eine methodische Übung aus meinem Lehrerheft zu Büchner (Krapp & Gutknecht, 2010).

Der Pons-Verlag bietet übrigens Arbeitsblätter für die Wörterbuch-Arbeit an, u.a. für deutsch: http://www.pons.de/home/specials/unterrichtsmaterial/deutsch/