Harald Weinrich: Linguistik der Lüge – Zusammenfassung

Harald Weinrich ist am 26. Februar 2022 gestorben. Im Nachruf der SZ wurde die „Linguistik der Lüge“ hervorgehoben; aus diesem Grund hatte ich beschlossen, sie endlich einmal zu Ende zu lesen.

Augustins Definition der Lüge ist der Ausgangspunkt: mendacium est enuntiatio cum voluntate falsum enuntiandi. Diese Definition schließt wegen des Rückgriffs auf den Willen eine linguistische Behandlung der Lüge aus.

Zur Semantik der Wörter: Die Bedeutung eines Wortes ist weit, vage, sozial bedingt und abstrakt. Die Meinung eines Sprechers ist dagegen eng umgrenzt, präzise, individuell und konkret. „Bedeutung – Meinung“ sind die Grundbegriffe der Semantik. Der Satz ist die Brücke von der variablen Bedeutung zur Meinung, in ihm erfolgt die Determination zum Sinn. Deshalb sind Sätze/Texte immer übersetzbar, auch wenn es nicht für jedes Wort ein genaues Pendant in einer anderen Spreche gibt.

Über das Verhältnis von Wörter – Sachen, Wörter – Begriffe; Wörter sind nicht defizitär gegenüber Begriffen, weil/wenn sie in Texten stehen. Auch Begriffe entstehen in Sätzen (Definitionen), haben also einen Kontext, aber stehen eo ipso nicht in einer Situation.

Wörter, mit denen viel gelogen worden ist, werden verlogen [fragwürdig!]; erst in einem minimalen Kontext können Wörter lügen, z.B. „Boden“ in „Blut und Boden“. Auch Begriffe können lügen, z.B. „Volksdemokratie“ [ebenfalls fragwürdig!].

Zum gelogenen Satz eines Sprechers gehört ein von ihm gedachter wahrer Satz [fragwürdig]. Duplex oratio ist Signum der Lüge. [Der Rekurs auf das Verhältnis Gedachtes – Gesagtes ist fragwürdig; ich halte es für richtig, dass in der Lüge bewusst die Unwahrheit gesagt wird: Rekurs auf einen behaupteten Sachverhalt!]

Mit der Metapher ist eine Täuschung verbunden (Spannung zum Wortfeld), aber keine Lüge. Es wird eine Erwartung enttäuscht; ein Wort ist eine Erwartungsanweisung.

Das definite Verb mit seinen Morphemen macht den Satz, bezieht ihn auf die Sprechsituation. Das Verb enthält ein Assertionsmorphem (Ja/Nein). Person, Tempus und Determination sind die wesentlichen Merkmale des finiten Verbs. Die Logik entsorgt das Tempus zugunsten eines Präsens des immer Gültigen. Bloomfields und Gadamers Theorien – Gadamer bringt mit der Basis „Frage → Antwort (→ Frage → Antwort…)“ die Determination Ja/Nein in die Sprechsituation. Eine Frage enthält gegenüber der Antwort eine partielle Information; die Antwort ergänzt sie, mindestens durch ein Ja/Nein. In einem Satz werden die Bedeutung vollständig auf die Sprechsituation bezogen. – Von hier aus kommt Weinrich zu einer Syntax der Lüge: Die Lüge ist auf ein Ja/Nein bezogen; Beispiel: Hitlers Rede 1938.

In der Ironie bilden Wahrheit und Lüge keinen Gegensatz. Seit Sokrates gibt es die Ironiesignale; das sind sprachliche Zeichen, zumindest im Tonfall des Sprechens – man kann sie aber überhören. Ein gedachter Dritter hört das Gemeinte [?]. Selbstironie ist die reinste Form der Ironie.

Lügen die Dichter? Es gibt eine europäische Lügendichtung, die von Lügensignalen durchsetzt ist. Die Lügenrede und die Signale heben einander auf; eines der beliebten Signale ist die Wahrheitsbeteuerung, sind genaueste Angaben und Augenzeugenschaft usw. Platons Diktum von den lügenden Dichtern wird abgelehnt.

Ich habe in eckigen Klammern vermerkt, wo ich Weinrichs Ausführungen für fragwürdig halte. Weinrich selber hat sich in einer Buchbesprechung ein wenig von der „Linguistik der Lüge“ distanziert.

https://www.sueddeutsche.de/kultur/harald-weinrich-nachruf-literatur-linguistik-college-de-france-1.5540025 (Nachruf SZ)

https://www.welt.de/kultur/article237249931/Nachruf-auf-Harald-Weinrich-Schwarze-Milch-ist-keine-Luege.html (Nachruf Welt)

https://www.scielo.br/j/pg/a/fYYFNGQgGFSqRv4mZWVGtSb/?lang=de&format=pdf (Gespräch mit Weinrich)

https://api.deutsche-digitale-bibliothek.de/binary/12b0b5af-963b-464c-946d-4dceb4b56d0c.pdf (Sprachwissenschaft und Ideologiekritik)

Eine Erzählung verstehen – wie geht das?

Zugleich ein Beitrag zur Analyse von Borchert: Das Brot.

Am Beispiel von Borcherts Erzählung „Das Brot“ möchte ich exemplarisch untersuchen, welche Aspekte oder Dimensionen des Verstehens es dabei gibt. Ich beziehe mich auf die Textausgabe http://www.geschichte-projekte-hannover.de/filmundgeschichte/deutschland_nach_1945/ruckblickende-kurzfilme/die-filme-2/das-brot-2.html (Zeilenzählung der Seite, die nach Anklicken des Druckersymbols oben rechts angezeigt wird bzw. beim Ausdrucken vorliegt: 47 Zeilen).

  1. Die Bedeutung von Wörtern muss man kennen oder aus dem Kontext erschließen, damit man den Satz versteht. Der Satz (das Syntagma) ist die erste Dimension des Verstehens. Satz: „als sie mit der Hand über das Bett neben sich fuhr“ (Z. 2 f.); „fahren“ hat laut „Duden. Deutsches Universalwörterbuch“ (7. Aufl.) 11 Hauptbedeutungen, hier passt die Bedeutung 9.b) „[mit einer schnellen Bewegung] über, durch etwas streichen, wischen, eine schnelle Bewegung machen“. Wenn ich diese Bedeutung von „fahren“ kenne oder ahne, verstehe ich den genannten Satz (Wörter kann man also nicht verstehen, man kann nur ihre Bedeutung/en kennen).
  2. Aus den Sätzen in ihrer Abfolge kann man das erzählte Geschehen oder die beschriebene Situation verstehen (Z. 1-6, meistens aus den paradigmatischen Alternativen): wachte sie auf (eine Frau, hat geschlafen) / „Ach so!“ (personal erzählt: ihre Sicht) / in der Küche (vs. Schlafzimmer) / zu still (verlangt eine Erklärung) / das Bett neben sich … leer (hat einen Mann, der fehlt) / „Das war es“ (setzt „Ach so!“ und „zu still“ fort: Sie erklärt sich etwas.) / durch die dunkle Wohnung (bereitet „Licht“ vor) / „In der Küche trafen sie sich.“ (verfrühte Erklärung des Erzählers!) / Die Uhr… (Datierung) / „etwas Weißes“ (bereitet die Lösung vor) / „Sie machte Licht.“ (ermöglicht die Lösung) / „Sie standen sich im Hemd gegenüber. Nachts. Um halb drei. In der Küche“: Das ist die groteske Situation, in die schrittweise eingeführt wird; grotesk deshalb, weil Paare nachts normalerweise nebeneinander im Bett liegen. – Diese groteske Situation wird in zwei Schritten aufgelöst; das ergibt die Struktur der Erzählung (s.u.).
  3. In dieser Situation kann/muss man die Bedeutung von Ereignissen verstehen, d.h. verschiedene Sätze aufeinander beziehen. Beispiel: „Sie sah, dass er sich Brot abgeschnitten hatte.“ (Z. 7, mit nachfolgender Erklärung) <-> „‚Ich dachte, hier wär was’, sagte er und sah in der Küche umher.“ (Z. 11) Was die Frau sieht, widerspricht dem, was der Mann sagt (was sie hört); die Frau „sieht“ also, dass er lügt, was in Z. 17 ausdrücklich gesagt wird.
  4. „‚Ich habe auch was gehört’, antwortete sie…“ (Z. 12) – das ist ein zweideutiger Satz, weil sie damit sein Rumoren (Z. 1 f.) meint, während er das als Bestätigung seiner Lüge auffassen könnte. Der Leser kann diese Zweideutigkeit verstehen, der Mann nicht. – Die Frau wiederholt später ihren Satz (Z. 21), gibt ihm dort aber eine andere Bedeutung, was dem Leser durch die Fortsetzung „aber es war wohl nichts“ und den Erzählerkommentar „Sie kam ihm zu Hilfe (Z. 22) deutlich wird. Der Leser versteht, wie die Frau die groteske Situation entschärft.
  5. In oder aus der Situation der nächtlichen Begegnung und dem Lügen des Mannes ist es denkbar, dass einzelne Wendungen eine tiefere Bedeutung gewinnen. Ich denke dabei an die Wendung, das sie „im Hemd“ standen, was wiederholt gesagt wird (Z. 5, 12, 14). Sie finden beide, dass der jeweils andere im Hemd älter als sonst aussieht – hier wird also die Wahrheit offenbar („So alt wie er war.“, Z. 13), während der lügende Mann die Wahrheit nicht erkennt (vgl. Z. 14 f.). Die Kleidung verbirgt am Tag das wahre Alter, welches „im Hemd“ sichtbar wird.
  6. Der Erzählerkommentar „Sie kam ihm zu Hilfe.“ (Z. 22) hilft dem Leser, das Agieren der Frau zu verstehen.
  7. Die Struktur der Erzählung ist dadurch bestimmt, dass zunächst eine groteske Situation beschrieben wird (s. oben 2.), die dann in zwei Schritten (vgl. 6.) aufgelöst wird: Bis Z. 39 wird erzählt, wie die Frau sich bemüht, in der Nacht mit der Lüge ihres Mannes klarzukommen, und das auch mühsam schafft (er kann essen, sie kann schlafen, Z. 37-39). Dann wird nach einem Zeitsprung (V. 40) erzählt, welche Konsequenzen sie aus seinem heimlichen Brotdiebstahl zieht und wie sie wieder in ein normales Leben kommen.
  8. Welche Themen und Motive in dieser Struktur „arbeiten“, erkennt man am Kontrast Dunkel-Licht und am Wortfeld des Sehens: sehen, ansehen, aufsehen, aussehen. Die Kontraste und das Wortfeld sind miteinander im Zusammenspiel von Wahrheit und Lüge verschränkt, auch wenn sie hier analytisch gesondert untersucht werden: a) Zuerst ist es dunkel in der Wohnung, dann macht sie Licht (Z. 5). Im Licht erkennt man die groteske Situation und sie entdeckt die Lüge ihres Mannes; mit ihr kann sie dann leben, als sie wieder das Licht löscht (Z. 26). Am Abend ist es hell, aber sie geht von der Lampe weg (Z. 42), bis die neue Aufteilung des Brotes als richtig oder begründet von beiden akzeptiert ist – eine Konsequenz ihres Umgangs mit seiner Lüge. Dann setzt sie sich unter die Lampe an den Tisch (Z. 47). b) Die Wendungen des Sehens behandle ich kurz: „Sie sah“ (Z. 7, plus folgende Erklärung) die Wahrheit. Sie sah von dem Teller weg (Z. 10, dem Beweisstück des Diebstahls und der Lüge). Er sah (zur Bestärkung seiner Lüge) in der Küche umher (Z. 11). Sie fand, dass er im Hemd älter aussah als tagsüber (Z. 12 f.: „So alt wie er war.“). Sie sieht ziemlich alt aus, dachte er (Z. 13 f., mit falscher Erklärung). Sie sah ihn nicht an (Z. 17). Er sah sinnlos umher (Z. 19, vgl. Z. 11). Er sah zum Fenster hinaus (Z. 24, vgl. Z. 19). Sie will nicht nach dem Teller (Beweis seiner Lüge) sehen (Z. 25, vgl. Z. 10 und 17). – Als es dunkel ist (Z. 29), wird das Sehen durch das Hören ersetzt (unecht, Z. 34; sie hörte, Z. 37; sie atmete absichtlich tief und regelmäßig, Z. 37 f.). – Am Abend brennt die Lampe, aber sie ging von der Lampe weg (Z. 42, damit er sie bei ihrem Lügen nicht sah). Sie sah, wie er sich tief über den Teller beugte (Z. 44) und nicht aufsah (Z. 44, um sie nicht ansehen zu müssen). Erst nach einer Weile setzte sie sich unter die Lampe, also gut sichtbar ins Licht (Z. 47).
  9. Was wollte der Autor Borchert mit dieser Erzählung „sagen“? Das geht aus der Erzählung nicht hervor; dazu müsste man das Gesamtwerk und Äußerungen des Autors heranziehen.
  10. Was haben die Leser aus dieser Erzählung 1946 und in den folgenden Jahren gehört? Auch das geht nicht aus dem Text hervor; man könnte das Handeln der Frau vorbildlich finden (selbstloser Verzicht zugunsten des geliebten Mannes), man könnte es auch kritisch sehen (Klischee der opferbereiten Frau, Vorrecht des Mannes). Wie die Leser einen Text verstehen, kann man nur durch empirische Untersuchungen herausfinden.

Vgl. auch die Aufgaben zu dieser Kurzgeschichte (https://norberto42.wordpress.com/2016/11/08/aufgaben-zu-wolfgang-borchert-das-brot/), welche man nach dieser Analyse vielleicht überarbeiten müsste.

Hermann Paul: Die Entstehung des Satzes

Hermann Paul: Prinzipien der Sprachgeschichte, 1920 (5. Aufl.)

Sechstes Kapitel. Die syntaktischen Verhältnisse (Kurzfassung)

§ 85. Alle Sprechtätigkeit besteht in der Bildung von Sätzen. […] Die von mir früher gegebene Definition lautete: der Satz ist der sprachliche Ausdruck, das Symbol dafür, dass sich die Verbindung mehrerer Vorstellungen oder Vorstellungsgruppen in der Seele des Sprechenden vollzogen hat, und das Mittel dazu, die nämliche Verbindung der nämlichen Vorstellungen in der Seele des Hörenden zu erzeugen. […] Für die ursprüngliche Satzbildung, bei der es noch keine zusammengesetzten Glieder gab, könnte unsere obige Definition genügen, und, wie wir noch sehen werden, haben sich die zusammengesetzten Glieder zum Teil aus Sätzen entwickelt.

§ 86. Zum sprachlichen Ausdruck der Verbindung von Vorstellungen gibt es folgende Mittel: 1. die Nebeneinanderstellung der den Vorstellungen entsprechenden Wörter an sich; 2. die Reihenfolge dieser Wörter; 3. die Abstufung zwischen denselben in Bezug auf die Energie der Hervorbringung, die stärkere oder schwächere Betonung (vgl. Karl kommt nicht – Karl kommt nicht); 4. die Modulation der Tonhöhe (vgl. Karl kommt als Behauptungssatz und Karl kommt? als Fragesatz); 5. das Tempo, welches mit der Energie und der Tonhöhe in engem Zusammenhange zu stehen pflegt; 6. Verbindungswörter wie Präpositionen, Konjunktionen, Hilfszeitwörter; 7. die flexivische Abwandlung der Wörter, und zwar a) indem durch die Flexionsformen an sich die Art der Verbindung genauer bestimmt wird (patri librum dat), b) indem durch die formelle Übereinstimmung (Kongruenz) die Zusammengehörigkeit angedeutet wird (anima candida).

§ 87. Jeder Satz besteht demnach aus mindestens zwei Elementen. Diese Elemente verhalten sich zu einander nicht gleich, sondern sind ihrer Funktion nach differenziert. Man bezeichnet sie als Subjekt und Prädikat. […] Das psychologische Subjekt ist die zuerst in dem Bewusstsein des Sprechenden, Denkenden vorhandene Vorstellungsmasse, an die sich eine zweite, das psychologische Prädikat anschliesst.

§ 88. Zur Unterscheidung von Subjekt und Prädikat gab es ursprünglich nur ein Mittel, die Tonstärke. Im isolierten Satze ist das psychologische Prädikat als das bedeutsamere, das neu hinzutretende stets das stärker betonte Element. Es folgt eine Erklärung, warum die Wortstellung nicht als ein mit den Anfängen der Satzbildung gegebenes Unterscheidungsmittel von Subj. und Präd. betrachtet werden kann.

§ 89. Wie die einzelnen Wörter konkrete und abstrakte Bedeutung haben können, so auch die Sätze. Konkret ist ein Satz, sobald eines von den beiden Hauptgliedern, das psychologische Subjekt oder das psychologische Prädikat konkret ist. Normaler Weise ist es das Subjekt, welches dem Satze konkrete Natur gibt. Es gibt auch eine Zwischenstufe, die H. Paul abstrakt-konkret nennt.

§ 90. Unserer Behauptung, dass zum Satze mindestens zwei Glieder gehören, scheint es zu widersprechen, dass wir Sätze finden, die nur aus einem Worte oder einer eine Einheit bildenden Gruppe bestehen. Der Widerspruch löst sich so, dass in diesem Falle das eine Glied, in der Regel das psychologische Subjekt, als selbstverständlich keinen sprachlichen Ausdruck gefunden hat. Es kann aus dem vorher Besprochenen ergänzt werden. Insbesondere ist zu beachten, dass es in der Wechselrede sehr häufig den Worten des Anderen zu entnehmen ist.

§ 91. Hier ist auch festzustellen, wie es sich mit den sogenannten verba impersonalia verhält. […] Das psychologische Subj. ist also in dem Satze es brennt ebenso wenig ausgedrückt als in dem Satze Feuer. Aber man darf sich dadurch nicht zu der Ansicht verleiten lassen, dass überhaupt keins vorhanden ist. […] Nach unseren bisherigen Erörterungen ist es klar, dass dem sprachlichen Ausdruck nach eingliedrige Sätze immer konkret, nie abstrakt sind. Denn ihre Aufgabe besteht darin, eine konkrete Anschauung mit einem allgemeinen Begriffe zu vermitteln. Dasselbe gilt von den unpersönlichen Sätzen, in denen das Verb. nicht noch eine Bestimmung neben sich hat. Mit einer solchen dagegen können sie auch abstraktkonkret sein, vgl. es regnet hier viel.

§ 92. Die negativen Sätze widersprechen der Satzdefinition nur scheinbar.

§ 93. […] Wir sind jetzt gewohnt den Aussagesatz als den eigentlich normalen Satz zu fassen. Der Aufforderungssatz ist aber ebenso ursprünglich, wo nicht gar älter. Die frühesten Sätze, die von Kindern gesprochen werden (die allerfrühesten bestehen natürlich aus einem einzigen Worte), haben eine Beziehung zu ihren Begierden, sind entweder Forderungen oder Aussagen, die gemacht werden, um ein Bedürfnis anzudeuten, das Befriedigung verlangt. Es darf angenommen werden, dass es sich auf der frühesten Stufe der Sprachentwickelung eben so verhalten hat. Es bedurfte daher ursprünglich auch zur Charakterisierung des Aufforderungssatzes keines besonderen sprachlichen Mittels, die einfache Nebeneinanderstellung von Subjekt und Prädikat genügte hier eben so gut wie für den Aussagesatz, nur der Empfindungston liess den Unterschied erkennen.

§ 94. Den Behauptungs- und Aufforderungssätzen stellt man als eine dritte Klasse die Fragesätze zur Seite. Es lässt sich aber für eine solche Dreiteilung der Sätze kein einheitliches Prinzip finden, und diese drei Klassen können nicht einander koordiniert werden. […] Nicht bloss die Behauptungs-, sondern auch die Aufforderungssätze haben ihr Pendant in Fragesätzen, vgl. lat. quid faciam gegen quid facio. Man gebraucht dafür den Ausdruck deliberative Fragen. Wir könnten sie geradezu als Frageaufforderungssätze bezeichnen.

Von den beiden Hauptarten der Frage ist diejenige, in welcher nur ein Satzglied in Frage gestellt wird, jedenfalls jüngeren Ursprungs als diejenige, in welcher der ganze Satz in Frage gestellt wird. Insgesamt ist die Frage jünger als Aufforderung und Behauptung. H. Paul behandelt dann noch Ausdrücke der Verwunderung und rhetorische Fragen.

§ 95. Das Verhältnis von Subjekt und Prädikat […] ist das Verhältnis, aus dem die übrigen syntaktischen Verhältnisse entspringen mit einer einzigen Ausnahme, nämlich der kopulativen Verbindung mehrerer Elemente zu einem Satzgliede. Diese Verbindung kann in den entwickelten Sprachen durch eine Partikel bezeichnet werden, es genügt aber vielfach noch die blosse Aneinanderreihung, weshalb es uns nicht wunder nehmen kann, dass man im Anfang jeden besondern sprachlichen Ausdruck für die Kopulation entbehren konnte.

§ 96. Jede andere Art der Satzerweiterung geschieht dadurch, dass das Verhältnis von Subjekt und Prädikat mehrmals auftritt. Wir können zwei Grundformen des auf diese Weise erweiterten Satzes unterscheiden. Die erste besteht darin, dass zwei Subjekte zu einem Prädikate oder zwei Prädikate zu einem Subjekte treten. Ist dabei das Verhältnis der beiden Subjekte zu dem gemeinsamen Prädikate oder das der beiden Prädikate zu dem gemeinsamen Subjekte völlig gleich, so lässt sich ein solcher dreigliedriger Satz ohne wesentliche Veränderung des Sinnes mit einem zweigliedrigen vertauschen, dessen eines Glied eine kopulative Verbindung ist.

§ 97. Von zwei Prädikaten, die zu einem Subjekte treten, kann aber auch das eine dem andern untergeordnet werden, und dadurch verwandelt sich das erstere in eine Bestimmung des Subj., wobei aus dem dreigliedrigen Satze ein zweigliedriger wird. Jetzt dienen uns als Bestimmung des Subj. vornehmlich substantivische und adjektivische Attribute und Genitive von Substantiven, aber auch durch Präpositionen angeknüpfte Substantiva und Adverbia. Mit Hilfe dieser verschiedenen Bezeichnungsweisen ist es möglich die Verschiedenheit des logischen Verhältnisses zwischen dem Bestimmenden und dem Bestimmten bis zu einem gewissen Grade auch sprachlich auszudrücken. Eine Sprache, die noch keine Flexion und keine Verbindungswörter ausgebildet hat, ist dazu nicht im Stande. Sie hat wieder kein anderes Mittel als die blosse Nebeneinanderstellung des bestimmten und des bestimmenden Wortes. […] Das Verhältnis des bestimmenden Elementes zu dem bestimmten ist dem des Prädikats zum Subjekt in der Weite, wie wir es oben gefasst haben, analog. Und wirklich ist die Bestimmung nichts anderes als ein degradiertes Prädikat, welches nicht um seiner selbst willen ausgesprochen wird, sondern nur, damit dem Subj. (Obj.) nun ein weiteres Präd. beigelegt werden kann. Die Bestimmung des Subjekts hat also ihren Ursprung in Sätzen mit Doppelprädikat. […]

Wir haben die Bestimmung als ein abgeschwächtes Präd. aufgefasst. Es gibt nun eine Zwischenstufe, auf welcher die Bestimmung noch eine grössere Selbständigkeit hat, noch nicht so eng mit dem Subj. verbunden ist, weshalb es angemessener ist sie als ein besonderes Satzglied anzuerkennen. Hierher gehört, was man gewöhnlich prädikatives Attribut nennt, z. B. er kam gesund an. Aber auch präpositionelle Bestimmungen können in dem nämlichen logischen Verhältnisse stehen, z. B. er bat mich auf den Knieen, wofür man ein knieend einsetzen könnte.

§ 98. Eine zweite Grundform des erweiterten Satzes ist dadurch entstanden, dass sich ein drittes Glied angeschlossen hat, das im Prädikatsverhältnis steht nicht zum Subj. des einfachen Satzes wie in den behandelten Fällen, sondern zum Prädikat desselben, welches also ihm gegenüber im Subjektsverhältnis steht. Wir nehmen natürlich auch hier wieder Subj. und Präd. in dem oben bestimmten weiten psychologischen Sinne. Aus diesem dritten Gliede sind die verschiedenen adverbialen Bestimmungen entsprungen, also auch das Objekt im engeren und weiteren Sinne. Es erklärt sich aus diesem Ursprunge, dass auf die adverbialen Bestimmungen gewöhnlich als auf das eigentliche Hauptprädikat im psychologischen Sinne der stärkste Ton fällt, und dass sie im allgemeinen in einem loseren Verhältnis zum Verb. stehen als die adnominalen zu ihrem Nomen.

§ 99. Nachdem einmal die adverbialen und adnominalen Bestimmungen sich als besondere Kategorieen aus ursprünglichen Prädikaten herausgebildet haben, ist eine weitere Komplizierung des Satzes möglich, indem eine schon aus einem bestimmten und einem bestimmenden Elemente bestehende Verbindung wieder durch ein neues Element bestimmt werden oder ihrerseits als Bestimmung dienen kann, und indem ferner mehrere bestimmende Elemente zu einem bestimmten oder mehrere bestimmte zu einem bestimmenden treten können, gerade so wie mehrere Subjekte zu einem Prädikate oder mehrere Prädikate zu einem Subjekte. Beispiele: 1. alle guten GeisterMüllers älteste Tochterer gerät leicht in Zorn (zu konstruieren gerät in Zorn + leicht); – 2. sehr gute Kinderalles opfernde Liebeer spricht sehr gut; – 3. trübes, regnerisches (trübes und regnerischesWetterer tanzt leicht und zierlich; – 4. Karls Hut und Stocker schilt und schlägt sein Weib.

§ 100. […] Wo die deutliche Ausprägung eines Verb. fin. fehlt, fällt auch die Scheidung zwischen einfachem und zusammengesetztem Satze in dem gewöhnlichen Sinne fort. Der sogenannte zusammengesetzte und der sogenannte erweiterte Satz sind daher ihrem Grundwesen nach vollkommen das nämliche. Es ist deshalb auch eine irrige Ansicht, dass die Herabdrückung eines Satzes zum Satzgliede, die sogenannte Hypotaxe, sich erst auf einer späten Sprachstufe entwickelt habe. Das Bestehen des erweiterten Satzes, das auch den primitivsten Sprachen nicht fehlt, setzt ja diese Herabdrückung als vollzogen voraus. […] Ein wichtiger Schritt zur Erzeugung komplizierterer Gebilde war, dass das Objektsverhältnis auf einen Satz übertragen wurde. Sehr häufig werden noch jetzt im Dentschen und ebenso in anderen Sprachen, die schon einen reich entwickelten Satzbau haben, Verbindungen, welche sich in der Form nicht vom Hauptsatze unterscheiden, als Objekte gebraucht. Hierher gehört die oratio directa. Hierher gehören ferner Sätze wie ich behaupte, er ist ein Lügnerich glaube, du rasest;ich sehe, du zitterstbedenke, es ist gefährlich. Auch Aufforderungen und Fragen werden in das nämliche Abhängigkeitsverhältnis gestellt: ich bitte dich (bitte), gib es mir; vgl. lat. quaeso cogita ac deliberasage, hast du ihn gesehensprich, was bekümmert dich; […] Die indirekte Rede im Deutschen muss jetzt als etwas grammatisch Abhängiges betrachtet werden, und das Kennzeichen der Abhängigkeit dabei ist der Konjunktiv. Sehen wir aber auf den Ursprung der Konstruktion, so ist es klar, dass hier gleichfalls ein Zwitterding zwischen logischer Abhängigkeit und logischer Selbständigkeit zu Grunde liegt. Eine Konstruktion wie er meint, er könne dich betrügen verhielt sich ursprünglich nicht anders als das oben angeführte er meint er kann dich betrügen, nur dass die Behauptung mit geringerer Sicherheit hingestellt und deshalb der Konj. (Opt.) in potentialem Sinne gesetzt ist. Dass sonst der Gebrauch des Potentialis in Hauptsätzen untergegangen ist, hat die Auffassung des Verhältnisses als wirklicher grammatischer Abhängigkeit gefördert.

§ 101. […] Wir wenden uns jetzt zu der parataktischen Aneinanderfügung mehrerer Sätze. Dieselbe steht in Parallelismus zu der kopulativen Aneinanderreihung koordinierter Satzglieder, weshalb sich auch die ausgebildeten Sprachen der gleichen Hilfsmittel zur Bezeichnung beider Arten von Verknüpfung bedienen. Im Anfang musste auch hier die blosse Nebeneinanderstellung genügen. Wenn wir nun gesehen haben, dass bei der Hypotaxe eine gewisse Selbständigkeit des einen Gliedes bestehen kann, so zeigt sich auf der anderen Seite, dass eine Parataxe mit voller Selbständigkeit der unter einander verbundenen Sätze gar nicht vorkommt, dass es gar nicht möglich ist Sätze untereinander zu verknüpfen ohne eine gewisse Art von Hypotaxe. Als selbständig, als einen Hauptsatz im strengsten Sinne können wir einen Satz nur dann bezeichnen, wenn er nur um seiner selbst willen ausgesprochen wird, nicht um einem andern Satze eine Bestimmung zu geben. Demgegenüber müssten wir den Nebensatz definieren als einen Satz, der nur ausgesprochen wird, um einen andern zu bestimmen. […] Reine Parataxe in diesem Sinne besteht zwischen Parallelsätzen, sei es, dass Analoges oder dass Entgegengesetztes verknüpft wird, er ist krumm, sie ist schiefer lacht, sie weint. Anders aber steht es schon mit der Erzählung. Wenn jemand berichtet um zwölf Uhr kam ich in N. an; ich ging in das nächste Hôtel; man sagte mir, es sei alles besetzt; ich ging weiter, so gibt immer der vorhergehende Satz dem folgenden eine zeitliche und auch kausale Bestimmung. Dies ist aber eine Funktion, an welche in dem Augenblicke, wo er ausgesprochen wird, noch nicht gedacht wird. Wir haben demnach wieder eine Vereinigung von Selbständigkeit und Abhängigkeit. Wir könnten uns eine umständlichere Ausdrucksweise denken, in welcher der Satz immer zweimal, einmal als selbständig, einmal als abhängig gesetzt würde. Statt einer solchen Wiederholung, die wenigstens nur ausnahmsweise wirklich vorkommt, bedient sich die Sprache der Substitution durch ein Pron. oder Adv. demonstrativum.

§ 102. Gehört es nun zum Wesen aller Satzverknüpfung, dass auch die selbständig hingestellten Sätze eine Beimischung von Unterordnung erhalten, so ist es ganz natürlich, dass von hier aus eine stufenweise Annäherung an gänzliche Unterordnung möglich ist, indem der selbständige Wert eines Satzes mehr und mehr gegen die Funktion einem andern als Bestimmung zu dienen zurücktritt. […] Indem auch Sätze, die eine Aufforderung oder Frage ausdrücken, in logische Abhängigkeit treten, werden sie zu Bezeichnungen der Bedingung oder des Zugeständnisses. Vgl. geh hin, du wirst sehen oder so (dannwirst du sehen; lat.cras petito: dabitur (Plaut.); sint Maecenates, non deerunt, Flacce, Marones (Mart.); auch bei Verbindung durch Kopulativpartikel: sage mir, mit wem du umgehst, und ich will dir sagen, wer du bist; mhd. der gebe mir niur eine bône und hab gewandelt (gebüsst) schône (Seifrid Helbling); lat. impinge lapidem et dignum accipies praemium (Phaedrus),quodvis opta et veniet (Petron); nlat. divide et impera.

Der Zweck dieser Kurzfassung besteht darin, das Gedankengerüst der Paul’schen Theorie von der Entstehung des Satzes darzubieten; den vollständigen Text mit Beispielen und der Behandlung von Einwänden kann man leicht nachlesen (http://gutenberg.spiegel.de/buch/2742/9 bzw. http://archive.org/details/prinzipiendersp01paulgoog).

Zweitens wollte ich darauf hinweisen, dass dieses Buch Hermann Pauls wie auch seine große Grammatik im Internet greifbar ist, vgl. hier am linken Rand die Kategorie „Dt. Grammatik“, dort Paul, 1-5.

Vorrang des Verbs vor dem Substantiv (Nomen) – Beispiel „verraten“

Als allgemeine Stilregel kann gelten, dass das Deutsche den (Neben)Satz statt nominaler Konstruktionen liebt. Warum das so ist, möchte ich am Beispiel der Wörter „verraten – Verrat“ erklären. Ich führe zuerst die Artikel aus dem Bertelsmann-Wörterbuch vor, wie sie im Netz unter http://www.wissen.de/wde/generator/wissen/services/suche/wbger/index.html zu finden sind, und werte den Befund anschließend aus.

Ver|rat [m. -(e)s; nur Sg.]

1 das Mitteilen von Geheimnissen; die Konstruktionspläne wurden durch militärischen V. bekannt

2 Bruch der Treue, des Vertrauens; V. treiben, üben; V. an der Freundschaft

ver|ra|ten [V.94, hat verraten]

I [mit Akk.]

1 etwas v.

a etwas erzählen, weitersagen (was geheim bleiben soll); ein Geheimnis, einen Plan v.

b preisgeben, nicht mehr vertreten, sich von etwas abwenden (um anderer Dinge willen); seine Überzeugung v.

c auf etwas schließen lassen, erkennen lassen; seine Bemerkungen verrieten eine genaue Kenntnis der Sachlage; ihr Erröten verriet, dass sie sich getroffen fühlte

2 jmdn. v. Verrat an jmdm. begehen, jmdm. die Treue brechen, plötzlich nicht mehr zu jmdm. halten, nicht mehr auf jmds. Seite stehen; wenn das geschieht, bist du verraten und verkauft dann bist du hilflos, ratlos

II [mit Dat. und Akk.] jmdm. etwas v. vertraulich mitteilen, jmdn. von etwas in Kenntnis setzen; kannst du mir v., wie man hier zu Opernkarten kommt?; ich will dir v., wie ich das gemacht habe

III [refl.] sich v. etwas ungewollt mitteilen, merken lassen (was man für sich behalten wollte); sich durch eine Bemerkung, Bewegung v.

Auswertung: Dem Nomen „Verrat“ werden zwei Bedeutungen zuerkannt, dem Verb „verraten“ mindestens vier, in Wahrheit sechs verschiedene Bedeutungen. Das hängt mit der Valenz des Verbs (vgl. http://mmtux.idf.uni-heidelberg.de/ProGram/Valenz/RK_valenz.html) zusammen bzw. damit, dass das Verb mit drei (oder vier?) verschiedenen Valenzen gebraucht werden kann: I (mit dem Akkusativ) etwas verraten, jemanden verraten; II (mit Dativ und Akkusativ) jemandem etwas verraten; III (reflexiv) sich verraten; dazu immer der Nominativ: wer verrät; zusätzlich die Möglichkeit, vier Angaben zu machen: wann, wo, wie und warum jemand etwas oder jemanden verrät. Man kann über die optimale Gliederung der Bedeutungsvarianten natürlich streiten oder noch die Wortgeschichte hinzuziehen – aber sicher ist, dass die Spannweite der Bedeutung beim Verb (und damit in einem ganzen Satz) sowie die Möglichkeit weiterer Angaben größer ist und dass die Valenz des Verbs fordert, dass man genau ausdrückt, was man meint: „Ein Satz ist die Maximalprojektion eines finiten Verbs.“ (Stefan Müller) Dass sich mittels der grammatischen Konstruktion „Satz“ mehr ausdrücken lässt als bei Verwendung einer nominalen Konstruktion mit „Verrat“, liegt auch daran, dass die Satzaussage im neuen Verb eben nicht „verraten“ ist.

Nachtrag: Im elexiko (IDS) http://hypermedia.ids-mannheim.de/pls/elexiko/p4_anzeige.artikel?v_id=139491 werden vier verschiedene Lesarten für „verraten“ vorgestellt; im Valenzwörterbuch des IDS (http://hypermedia2.ids-mannheim.de/evalbu/index.html) fehlt das Verb „verraten“.

Zur Entwicklung der Bedeutung findet man einen Hinweis im Brockhaus’ Konversationslexikon, 14. Auflage (1894-1896), 16. Band, S. 284:

Verrat, nach älterm deutschen Recht in engerm Sinne Treubruch gegen den Lehnsherrn, im weitern das treulose Handeln gegen Personen, denen man zur Treue verpflichtet ist. Im weitern Verlauf der Entwicklung überwog das polit. Moment, Majestätsverbrechen, Hoch- und Landesverrat (s.d.) gewannen besondere strafrechtliche Bedeutung. Sichere Abgrenzung der einzelnen Begriffe findet sich erst im neuern Recht; die Strafbarkeit des Verräters als solchen ist ihm fremd. […]

Im DWDS ist seit kurzem neben der Bedeutung auch die Wortgeschichte nach dem Pfeiferschen Wörterbuch nachzulesen, für „verraten“ also dies:

verraten Vb. ‘Geheimes, nicht für andere Bestimmtes bekanntmachen, die Treue brechen’, abgeschwächt ‘deutlich werden lassen, zeigen’. Das westgerm. Präfixverb ahd. firrātan (um 800), mhd. verrāten, mnd. vorrāden (woraus anord. forrāða), mnl. verrāden, nl. verraden, aengl. forrǣdan ist eine Bildung zu dem unter raten (s. d.) behandelten Verb mit einer Grundbedeutung ‘den Entschluß zu jmds. Verderben fassen, etw. zu seinem Verderben unternehmen’, dann beschränkt auf solche Fälle, in denen dies durch die Angabe geheimzuhaltender Umstände geschieht, so daß ‘Geheimnisse preisgeben’ zum bestimmenden Inhalt wird. Dieser tritt zurück in der übertragenen Anwendung des Verbs im Sinne von ‘erkennen lassen’. Die Bedeutung ‘einen schlechten, falschen Rat geben’ bleibt auf das Mhd. beschränkt. Verrat m. ‘Preisgabe eines Geheimnisses, Zerstörung eines Vertrauensverhältnisses, Treuebruch’ (Ende 17. Jh.); vgl. mhd. verrātgenōӡ ‘Teilnehmer am Verrat’. Verräter m., mhd. verrātære, verræter(e). verräterisch Adj. (15. Jh.). Hochverrat m. ‘Angriff auf die Staatsverfassung, auf die innere Ordnung oder auf die Repräsentanten eines Staates’ (um 1700), Wiedergabe von engl. high treason. Landesverrat m. (18. Jh.).

Ersatzprobe / Bedeutung

Wenn man in einem Satz ein Wort durch ein anderes oder eine Wendung durch eine andere ersetzt, um damit etwas herauszufinden, macht man eine Ersatzprobe.
Ersatzproben kann man zu den verschiedensten Zwecken benutzen. Wir haben sie im Zusammenhang mit der Untersuchung der Modalität genutzt, um die Bedeutung von Modalverben zu ermitteln; denn wie du weißt, kann ein und dasselbe Modalverb verschiedene Bedeutungen annehmen, je nach der Situation, in der es verwendet wird, und dem Tonfall, in dem man spricht. Ich zeige das an einem Beispiel:
(1) Die Mutter sagt zu ihrer Tochter: „Du darfst heute bis 22 Uhr ausgehen.“
(2) Bei einer Radarkontrolle sagt ein Polizist zu einem Kollegen, als sie in Waat ein Auto mit 93 km/h geblitzt haben: „Wie der rast, – das darf doch nicht wahr sein!“
Wenn man die Bedeutung des Modalverbs „dürfen“ jeweils ermitteln will, muss man es durch eine gleichbedeutende Wendung ersetzen, also eine Ersatzprobe machen:
(1‘) Die Mutter sagt zu ihrer Tochter: „Ich erlaube dir, heute bis 22 Uhr auszugehen.“
(2‘) Bei einer Radarkontrolle sagt ein Polizist zu einem Kollegen, als sie in Waat ein Auto mit 93 km/h geblitzt haben: „Wie der rast, – das ist wirklich unverschämt!“ Du siehst: Der „Ersatz“ ist kursiv geschrieben; in (1`) ist noch zum Infinitiv „zu“ hinzugefügt in (2) ist nicht nur das Verb „dürfen“ ausgetauscht worden, sondern eine ganze Wendung – „darf doch nicht wahr sein“ ist offensichtlich eine feste Redewendung, die als ganze ersetzt werden muss. In (1) muss auch das Subjekt „du“ mitverändert werden – ahnst du, warum das so ist?
Um die ganze Sache noch einmal am Beispiel des Verbs „drohen“ durchzuspielen, das eine „normale“ wie auch eine modifizierende Bedeutung annehmen kann:
(3) Die Eltern drohten, sie würden dem Kind kein Taschengeld geben, wenn es nicht sein Zimmer aufräumte.
(3‘) Die Eltern kündigten an, sie würden dem Kind zur Strafe kein Taschengeld geben, wenn es nicht sein Zimmer aufräumte.
Hier bedeutet „drohen“ so viel wie „eine Strafe ankündigen“, falls etwas von dem Bedrohten nicht getan wird.
(4) Das Haus droht in Kürze einzustürzen.
(4‘) Es besteht die Gefahr, dass das Haus in Kürze einstürzt.
Du siehst hoffentlich, dass hier aus dem „drohen“ der neue Hauptsatz geworden ist, dem der alte Infinitiv + „zu“ als dass-Satz mit dem alten Subjekt folgt. „Es besteht die Gefahr“: Damit schätzt der Sprecher die Situation oder den Zustand des Hauses ein; deshalb ist hier „drohen“ als ein modifizierendes Verb anzusehen. Eigentümlich ist hier auch, dass das Subjekt kein Mensch ist, sondern ein Ding oder Gegenstand; ein solches kann aber natürlich nichts ankündigen – der Sprecher kann nur etwas erwarten oder sehen, dass „sich“ da etwas nach seiner Erfahrung „ankündigt“.
Die Ersatzprobe ist ein Verfahren, das man für viele Zwecke benutzen kann; daher ist es wichtig, dass du dieses Verfahren gut beherrschst. – Bei einer Ersatzprobe lotet man die Bandbreite der Bedeutung eines Wortes (die Synonyme) aus; die ganze Bandbreite sollte eigentlich im Wörterbuch verzeichnet sein: Deshalb ist es eine Kunst, mit dem Wörterbuch richtig umzugehen und sich anregen zu lassen, die jeweils passende Bedeutung herauszufinden (statt den Artikel des Wörterbuchs ohne Verstand abzuschreiben).

Ich setze mit einem weiteren kleinen Aufsatz über „Bedeutung“ fort:

Als ich noch sehr klein war, vielleicht in der 1. oder 2. Klasse, las ich im Englischbuch meiner großen Schwester, dass „Vater“ englisch „father“ heißt. Aha, dachte ich: V = f, t = th; a, e, r bleiben erhalten – Englisch ist ganz einfach, man muss nur ein paar Buchstaben ändern, sonst ist alles gleich: Bedeutung lag für mich in der Buchstabenfolge.

Als ich das Gymnasium besuchte, lernte ich zunächst Latein. Ich lernte: „ponere = setzen, stellen, legen“. Da dachte ich, die Römer wären verrückt gewesen; konnten sie nicht eine einzige ordentliche Bedeutung für „ponere“ haben? Woher sollte man denn wissen, was gemeint ist? Dementsprechend haben wir auch übersetzt, es war im Wesentlichen grausam: Bedeutung lag für mich im Wort.

Heute weiß ich, dass Wörter nicht aus sich „eine Bedeutung haben“, sondern in Redewendnungen vorkommen. Solche Redewendungen muss man kennen, um zu wissen, was Wörter im jeweiligen Zusammenhang bedeuten können; Wörterbücher beruhen auf der Sammlung von Belegstellen (Beispielen, Redewendungen); aus denen werden dann „Bedeutungen“ eines Wortes extrahiert. Daraus ergibt sich, dass der eine Forscher nur eine Bedeutung angibt (Bünting zu „prangen“ [an exponierter, auffälliger Stelle hängen]), das Duden-Wörterbuch zwei [1. in auffälliger Weise vorhanden, sichtbar sein; 2. in voller Schönheit glänzen, auffallen] und das DWDS deren drei [1. Schönheit, Glanz, Prunk zeigen; 2. an einer bestimmten Stelle groß und auffällig angebracht sein; 3. mit etwas prahlen, angeben (veraltend)]. [Die Frage ist, wozu man das Wörterbuch braucht, wie umfangreich es sein darf, wie viele Belege der Forscher auswertet, wie exakt er die Bedeungsfülle ermitteln will, in welchen Schaubildern er die Bedeutungsfülle darstellen kann, wie sorgfältig ein Forscher arbeitet usw. – ein Blick in verschiedene, auch digitale Wörterbücher ist hilfreich!]

Wörter verbinden
Entscheidendes Merkmal im Gebrauch von Wörtern ist ihre Fähigkeit, Verbindungen einzugehen („Fügung“ bzw. „Valenz“), und das nach seriellen Mustern. Hier ist die Unterscheidung: syntagmatisch – paradigmatisch (s.u.) von Bedeutung.
Damit kommen wir zum Satz als kommunikativer Minimaleinheit (Jung/Starke: Deutsche Grammatik, 10. neubearbeitete Aufl., 1990, 42 ff.):
– Der Satz als Sinneinheit kann durch ein Wort („das“) vertreten werden.
– Der Satz ist eine durch Stimmführung bewirkte Klangeinheit.
– Der Satz ist eine durch das Verb gegründete, grammatisch gegliederte Einheit.
Neben der Valenz (http://mmtux.idf.uni-heidelberg.de/ProGram/Valenz/RK_valenz.html) der flektierbaren (!) Verben verdienen Präpositionen, Konjunktionen und Pronomen besondere Beachtung wegen ihrer Fähigkeit, syntaktische Beziehungen herzustellen; auch der innere Ausbau einer Nominalgruppe durch Attribute muss genannt werden. Die Unterscheidung von Thema-Rhema, aus der Texttheorie stammend, kann auch zur Gliederung des Satzes verwendet werden. Vereinfacht: Das Subjekt in der Spitzenstellung wäre Thema, die „eigentliche“ Satzaussage das Rhema.
Die Duden-Grammatik fasst den Zusammenhang zwischen Textelementen unter dem Stichwort der Kohärenz zusammen (6. Auflage, 1998, S. 845 ff.) und zählt verschiedene sprachliche Mittel der Kohäsion auf (S. 850 ff.). Die können wir nicht verstehen, wenn wir nicht beachten, dass in der Kommunikation gesprochen wird und dass damit der Textbegriff herangezogen werden muss; die Duden-Grammatik nennt sechs Textfunktionen (S. 841 f.).
Der Satz ist eine Einheit in der Kommunikation. Die kommunikativen Grundfunktionen sind Aussagen, Fragen, Wünschen/Befehlen (und Bewerten). Dazu gehören bestimmte Satztypen.

Was ist ein Wort? (die kleinste klar abgrenzbare bedeutungstragende „Einheit“)
Sprache als System: Die Grundbegriffe sind „Wort“ und „Satz“.
Sprache in der Verwendung: Die Grundbegriffe sind „Äußerung“ und „Text“.
(Duden: Grammatik, 6. A., S. 833)

Die Unterscheidung syntagmatisch – paradigmatisch geht auf Saussure zurück:
a) Syntagmatisch heißt die Beziehung eines Sprachelements zu den Elementen seiner Umgebung (Redewendung, Satz, also horizontal):
Der – Mann – baut – ein – Haus.
b) Paradigmatische Beziehungen bestehen zwischen Elementen, die die gleiche Stelle innerhalb des Syntagmas einnehmen können und sich dort gegenseitig ausschließen:
Der >
Dieser >
Ein >
Jeder > Mann – baut – ein – Haus. Entsprechend:
Der Mann [> Maurer > Kölner > Gastwirt] baut ein Haus.
…baut [> baute > kauft > erbt] ein Haus.
…ein [- unser – jedes – kein] Haus. (usw.)

Letzte theoretische Einsicht: Man kann die Bedeutung eines Wortes auch erfassen, indem man sein Antonym (Gegenwort) an dieser Stelle bestimmt. So kann zu „anfangen“ etwa „nicht anfangen“, „weitermachen“ oder „aufhören“ Antonym sein; der kompetente Sprecher/Hörer hört solche Feinheiten im Kontext, also in einer Situation. – Sowohl das Anfangen wie das Nichtanfangen kann man dann wieder näher bestimmen (aus Vorsicht, aus Faulheit, aus Geduld…).

Praktische Bedeutung: Im Verständnis eines jeden Textes ist es falsch, einem einzelnen (isolierten!) Wort eine bestimmte Bedeutung beizumessen; bei Gedichten ist es also sinnlos, einfach „Frühling“ mit Jugend gleichzusetzen usw. – ich erinnere an die Lektüre des Goethegedichtes „Dauer im Wechsel“ und die Jagd nach metaphorischer Bedeutung; für ein metaphorisches Verständnis muss es Gründe geben, man darf es nicht einfach bei jedem Gedicht praktizieren! Richtig ist es, die Wörter im Zusammenhang zu lesen, wie ich es in dem AB „Gedichtanalyse – erste Hinweise“ (s. Methodisches – Studio D) gefordert habe. Das gilt auch für die Lyrik 1945 – 1960, dort sogar noch stärker, weil diese Gedichte grammatische und semantische „Lücken“ aufweisen, also weithin unbestimmt sind.

Einen Überblick über die verschiedenen in der Linguistik verwendeten Proben gibt Peter Hellwig in seinem Aufsatz über die Methoden der Linguistik: www.cl.uni-heidelberg.de/kurs/ws06/ecl/etc/methoden.pdf

Mehr...

Satzlehre – der deutsche Satz

Problem bzw. Fragestellung: Wie macht man als Sprecher aus den vielen Wörtern, die man kennt, eine sinnvolle Äußerung? Wie fügt man also mehrere Wörter so zusammen, dass sie einen richtigen Satz ergeben, den auch andere Leute verstehen? Darauf antworte ich in zwei Teilen:

A) Die grammatische Struktur des Satzes
(nach Wilhelm Schmidt: Grundfragen der deutschen Grammatik, 1973, 4. A., S. 246 ff.)
Der Satz ist die kleinste in sich geschlossene Einheit der Rede. Seine Elemente, die aufeinander folgen, gelten als gleichzeitig miteinander gesetzt. Das heißt: Der Satz ist eine funktionale Einheit.
a)  Der Satz ist eine Sinneinheit.
b) Er ist eine strukturelle Einheit. (s. dazu 2.!)
c) Er ist als Klangestalt unter einem Klangbogen zusammengefasst.
2. Der normale deutsche Satz ist zweigliedrig; er wird von der Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat bestimmt. Zwischen ihnen besteht eine Wechselbeziehung – alle anderen syntaktischen Beziehungen sind solche der Unterordnung. Subjekt und Prädikat stimmen in Person und Numerus (auch im Genus bei Prädikativen) überein, was man Kongruenz nennt.
3. Die finite Verbform bezieht die Aussage auf die Situation der Kommunikation:
a) Dem Subjekt wird eine Rolle im Gespräch zugeteilt: beteiligt (1. und 2. Person) oder unbeteiligt (3. Person).
b) Die finite Verbform wird zur Trägerin der Satzintention:
Das Subjekt ist Träger oder „Erleider“ der Verbhandlung (Aktiv-Passiv).
Die Verbform zeigt die Zeitauffassung der Aussage (Tempus).
Die Verbform zeigt die Einstellung des Sprechers zur Aussage (Modus).
c) Das Verb hält aufgrund seiner Valenz Stellen frei, die besetzt werden können oder müssen.

 B) Die acht Hauptsätze über den Satz

  1. Ein Satz besteht aus Satzgliedern; Satzglieder sind Teile, die bei der Umstellprobe verschoben werden können und erhalten bleiben.
    (1) Der Bauer / stellte / den Sack mit Körnern / am Feld / ab. = Den Sack mit Körnern / stellte / der Bauer / am Feld / ab. = Am Feld / stellte / der Bauer / den Sack mit Körnern / ab. [Beachte: Welches Wort steht immer an 2. Stelle?]
  2. Welche Angaben erforderlich sind, wird durch die Valenz des Prädikats bestimmt: Subjekt und Objekte (d.h. dadurch, welche Angaben gerade dieses Verb fordert): abstellen: wer? / wen oder was? – Das Subjekt steht im Nominativ, die Objekte im Akkusativ, Dativ, Genitiv oder im Anschluss an eine Präposition (glauben an …, vertrauen auf …).
  3. Das Prädikat wird vom Subjekt in Zahl und Person bestimmt; Subjekt und Prädikat bilden den Satzkern.
    (2) Ich gehe jetzt nach Hause; ihr geht bestimmt ins Schwimmbad.
  4. In allen Sätzen sind weitere Ergänzungen möglich (nähere Bestimmungen zu Ort, Zeit, Art und Weise oder Grund des Geschehens), die man adverbiale Ergänzungen nennt.
    (3) Meistens stellt der Bauer, wenn er müde ist, den Sack erleichtert auf den Wagen.
  5. Wenn ein Satzglied mittels eines Satzes gebildet wird, nennt man diesen einen Glied- oder Nebensatz; in Nebensätzen steht die Personalform des Prädikates in der Regel am Ende.
    (4) Ich weiß nicht, wer heute die Tafel putzen soll. (Nebensatz in der Funktion des Akkusativobjekts: Wen/was weiß ich nicht?) – Auch eine wörtliche Rede, die dann ein selbständiger Satz ist, kann Satzglied sein, ebenso ein satzwertiger Infinitiv: (5) Ich gehe ins Bad, um mich zu duschen.
  6. Oft gibt es innerhalb von Satzgliedern weitere Bestimmungen, die wir Attribute nennen. (Im strengen Sinn ist auch der Artikel ein Attribut; wir wollen ihn aber nicht als solches zählen.) Attribute können in Form von Relativsätzen gebildet werden, die auch zu den Nebensätzen zählen (aber nicht zu den Gliedsätzen – als Attribute sind sie keine Satzglieder). Nebensätze werden durch Komma(s) vom Hauptsatz abgetrennt.
    (6) Der junge Bauer aus Waat / will / sich / wie sein Nachbar, der sehr erfolgreich ist, / auf die Pferdezucht / verlegen.
  7. Es gibt noch weitere Satzglieder, die wir jetzt nur andeuten können, zum Beispiel die Satznegation oder das Prädikativ (Erläuterung zum Subjekt oder Objekt): (7) Ich habe das Fahrrad wirklich nicht gestohlen. (Satznegation) (8) Mein Vater war Holzschuhmachermeister. (Prädikativ: Gleichsetzungsnominativ) (9) Er nannte seinen Sohn einen großen Schlingel. (Prädikativ: Gleichsetzungsakkusativ) (10) Du bist heute müde. (Adjektiv als Prädikativ)
  8. Die Konjunktion, mit der ein Satz an einen anderen (oder ein Satzglied an ein anderes) angeschlossen (mit ihm verbunden: lat. coniungere) wird, ist kein Satzglied:
    (11) Ich kaufe mir ein Brötchen; denn ich habe Hunger.
    (12) Ich kaufe mir ein Brötchen, weil ich Hunger habe.
    Eine Anrede kann überall im Satz stehen; sie ist kein Satzglied.

P.S. In Wirklichkeit sprechen wir manchmal anders, als es hier theoretisch (und in Kurzfassung) beschrieben ist. So ist z.B. „Morgen wird gefeiert“ ein richtiger deutscher Satz, er hat aber kein Subjekt; das Gleiche gilt für den Satz „Heute ist Samstag“. – Die acht Hauptsätze über den Satz gelten also nur näherungsweise, zur Analyse der gängigen Satzmuster; wir sprechen auch anders (verkürzt), als wir schreiben; das kann in einer ersten Übersicht aber nicht berücksichtigt werden.

Rhythmus eines Gedichts (Beispiel Goethe: Gefunden)

Gedichte muss man nicht lesen, sondern hören, also selber laut sprechen, wenn einem kein Vorleser zur Verfügung steht. Im sich selbst hörenden Sprechen zeigt sich ein bestimmtes Verständnis, ja erprobt man ein bestimmtes Verständnis des Gedichts: Wie hört es sich an? Ist das die Lösung?

Seinen Rhythmus hat jedes Gedicht für sich allein, auch wenn es das Metrum mit vielen anderen teilt; denn unter dem Rhythmus verstehen wir jene eigenartige Mischung von tatächlich (semantisch) betonten Wörtern, von Tempo und Pausen, die das Klanggebilde Gedicht ausmachen.
Fangen wir mit dem Wichtigsten an, mit der Betonung (Akzent) und den Pausen: Ob ich Bluménto-pférde  oder Blúmentopf-érde sage (ein Scherz aus meiner Kinderzeit!), macht einen Unterschied. Die Einheit des Gedichtes ist der Vers; im Idealfall fallen semantische Einheit („Satz“) und Vers zusammen; der Satz kann aber auch kürzer oder länger als der Vers sein bzw. über das Versende hinaus reichen – den letzteren Fall nennen wir Enjambement. Zwei weitere Größen sind für die Pausen zu beachten, der Reim und die Kadenz. Durch den Reim, also den Gleichklang eines zweiten Verses (Versendes) gegenüber einem ersten, wird der Sprecher kurz zum Innehalten genötigt; das heißt, dass ein Gedicht im Paarreim tendenziell ruhiger gesprochen wird als eines im Kreuzreim oder als eines, wo jeweils nur der zweite und vierte Vers einen Reim bilden; ich zeige das an einem Beispiel, an dem ich auch die Bedeutung der weiblichen Kadenz im jambischen Takt (oder der männlichen Kadenz bei Versen im Trochäus) aufzeige:
„Ich ging / im Wal / de
So für / mich hin, /
Und nichts / zu su / chen,
Das war / mein Sinn./“ (Goethe: Gefunden)
Der erste Satz endet mit Vers 2, wird also eigentlich zügig durchgesprochen; aber die weibliche Kadenz im 1. Vers bremst den Sprechfluss; denn es wird scheinbar ein neuer Takt eingeläutet, der dritte in diesem Vers, der jedoch nicht gefüllt wird (wo also die Erwartung der nächsten betonten Silbe enttäuscht wird), sodass hinter „-de“ eine kleine Pause eintritt. Im ersten Vers wird „Wal-“ betont, im zweiten relativ am stärksten „hin“; im dritten ist „nichts“ die semantische Pointe, im vierten außerhalb des Metrums das zusammenfassende Demonstrativum „das“ (wobei auch „Sinn“ betont wird, auch als Reimwort zu „hin“). „su-“ von „suchen“ ist ebenfalls betont, aber weniger stark als „nichts“.

„Im Scha / ten sah / ich
ein Blüm / chen stehn, /
Wie Ster / ne leuch / tend,
Wie Äug / lein schön./“
In dieser Strophe ist der Satzbau anders als in der ersten: Die beiden ersten Verse bestehen aus einem Satz; dabei wird jedoch „Schat-“ betont, als der dem Wald korrespondierende Lichtbereich, auch als Bedingung des Leuchtens (V. 8). Im Vers 6 trägt „Blüm-“ den Akzent, es ist das neue Thema. Im Vers 7 streiten sich „Ster-“ und „leuch-“ um den Hauptakzent, vielleicht sind sie gleichwertig: Sterne sind der Vergleichspunkt, „leuchtend“ ist die Blümchen-Qualität. In Vers 8 kann man „Äug-“ stärker als „schön“ betonen, weil dieser Vergleich erstens überraschend kommt und weil zweitens „schön“ nicht nur trivial ist, sondern auch weil am Satzende die Stimme gesenkt wird. Hinter beiden Versen wird eine Pause gemacht: hinter Vers 7 nicht nur wegen der Kadenz, sondern auch deshalb, weil der Vergleich abgeschlossen ist; hinter Vers 8 nicht nur wegen des Reimes, sondern auch deshalb, weil der Satz zu Ende ist.
Es ist eine bloße Formsache, diese Untersuchung zu Ende zu führen; neben den rein formalen Aspekten sieht man thematische Gesichtspunkte (Wald – Schatten; nichts; Blümchen), welche teilweise die Strophen übergreifen (nichts suchen – sah ich) oder paradigmatisch [-> syntagmatisch / paradigmatisch] überraschen (Äuglein). Man kann auf jeden Fall nicht einfach ein Gedicht im ersten Lesen erfassen („Wer möchte vorlesen?“), sondern muss im Verstehen durch Probieren die (oder: eine?) stimmige Klanggestalt, den Sinn finden.
Vielleicht sollte man in einem die Semantik der Reime untersuchen; denn semantisch starke Reime binden Verse stärker als bloße Klanggleichheit aneinander. So muss man schon ein bisschen nachdenken, um die Beziehung des „für mich hin“-Gehens und des nichts „im Sinn“-Habens zu entdecken; fürs Nachdenken braucht man jedoch Zeit, die der Sprecher dem Hörer gewähren muss.

Gute Hinweise zum Verständnis von Klang und Rhythmus eines Gedichtes findet man in der Vorlesung „Praktische Stilistik“ von Prof. Buenting, dort „Laut und Normalschrift“, dort unter 4. „Gebundene Rede: Vers, Klang/Reim, Strophe“. – Vgl. auch diesen Aufsatz zur Intonation von Sätzen!

Schiller schrieb am 24. November 1797 über den Vers im Drama an Goethe:
„Ich habe noch nie so augenscheinlich mich überzeugt, als bei meinem jetzigen Geschäft, wie genau in der Poesie Stoff und Form, selbst äusere, zusammenhängen. Seitdem ich meine prosaische Sprache in eine poetisch-rhythmische verwandle, befinde ich mich unter einer ganz andern Gerichtsbarkeit als vorher; selbst viele Motive, die in der prosaischen Ausführung recht gut am Platz zu stehen schienen, kann ich jetzt nicht mehr brauchen; sie waren bloß gut für den gewöhnlichen Hausverstand, dessen Organ die Prosa zu seyn scheint; aber der Vers fodert schlechterdings Beziehungen auf die Einbildungskraft, und so mußte ich auch in mehreren meiner Motive poetischer werden. […]
Der Rhythmus leistet bei einer dramatischen Production noch dieses große und bedeutende, daß er, indem er alle Charactere und alle Situationen nach Einem Gesetz behandelt, und sie, trotz ihres innern Unterschiedes, in Einer Form ausführt, er dadurch den Dichter und seinen Leser nöthiget, von allem noch so charakteristisch verschiedenem etwas Allgemeines, rein menschliches zu verlangen. Alles soll sich in dem Geschlechtsbegriff des Poetischen vereinigen, und diesem Gesetz dient der Rhythmus sowohl zum Repraesentanten als zum Werkzeug, da er alles unter Seinem Gesetze begreift. Er bildet auf diese Weise die Atmosphaere für die poetische Schöpfung, das gröbere bleibt zurück, nur das geistige kann von diesem dünnen Elemente getragen werden.“ (2008)

Durch den Rhythmus bekommt das Gedicht einen musikalischen Chrakter, es wird leicht; die Worte beginnen zu schwingen, wie die 1. Strophe des wunderbaren Gedichts „Der Tanz“ von Christian Morgenstern zeigt:
Ein Vierviertelschwein und eine Auftakteule
trafen sich im Schatten einer Säule,
die im Geiste Ihres Schöpfers stand.
Und zum Spiel der Fiedelbogenpflanze
reichten sich die zwei zum Tanze
Fuß und Hand.

Unterschied zwischen Skansion und Rezitation: „Hier sind wir gleich bei zwei Begriffen, die wir noch schnell klären sollten: der Unterschied zwischen Skansion und Rezitation. Skansion wird im engeren Sinne eigentlich die Bestimmung eines Metrums genannt, wobei der Verstext unter besonderer Betonung der Hebungen vorgetragen, also skandiert wird. Es handelt sich dabei gerade nicht um eine Vortragsart. Das ist eben die Rezitation. Hier werden die Verse unter Berücksichtigung der semantisch-syntaktischen Struktur und der rhythmischen Gegebenheiten vorgetragen. Während es bei der Skansion darum geht, das idealtypische metrische Schema, das den Versen zugrundeliegt, zu bestimmen, ist die richtige Rezitation eine Interpretationsfrage.“ (M. Ciupke)

Unter Rhythmus versteht man „die Beziehung zwischen der Versstruktur und ihrer sprachlichen Erfüllung. Während Metrum das Schema ist, das unabhängig von jeder individuellen Füllung Gültigkeit besitzt, wird unter ‚Rhythmus‘ die Existenz jener Beziehung verstanden, und zwar so, wie sie sich im Medium des Vortrags darstellt.“ (R. Brandmeyer: Die Gedichte des jungen Goethe, 1998, S. 115; vgl. insgesamt S. 114 ff.) 05/09

Vgl. auch dieses zweite Beispiel (und viele Einzelanalysen in norberto42.wordpress.com)!