Harald Weinrich ist am 26. Februar 2022 gestorben. Im Nachruf der SZ wurde die „Linguistik der Lüge“ hervorgehoben; aus diesem Grund hatte ich beschlossen, sie endlich einmal zu Ende zu lesen.
Augustins Definition der Lüge ist der Ausgangspunkt: mendacium est enuntiatio cum voluntate falsum enuntiandi. Diese Definition schließt wegen des Rückgriffs auf den Willen eine linguistische Behandlung der Lüge aus.
Zur Semantik der Wörter: Die Bedeutung eines Wortes ist weit, vage, sozial bedingt und abstrakt. Die Meinung eines Sprechers ist dagegen eng umgrenzt, präzise, individuell und konkret. „Bedeutung – Meinung“ sind die Grundbegriffe der Semantik. Der Satz ist die Brücke von der variablen Bedeutung zur Meinung, in ihm erfolgt die Determination zum Sinn. Deshalb sind Sätze/Texte immer übersetzbar, auch wenn es nicht für jedes Wort ein genaues Pendant in einer anderen Spreche gibt.
Über das Verhältnis von Wörter – Sachen, Wörter – Begriffe; Wörter sind nicht defizitär gegenüber Begriffen, weil/wenn sie in Texten stehen. Auch Begriffe entstehen in Sätzen (Definitionen), haben also einen Kontext, aber stehen eo ipso nicht in einer Situation.
Wörter, mit denen viel gelogen worden ist, werden verlogen [fragwürdig!]; erst in einem minimalen Kontext können Wörter lügen, z.B. „Boden“ in „Blut und Boden“. Auch Begriffe können lügen, z.B. „Volksdemokratie“ [ebenfalls fragwürdig!].
Zum gelogenen Satz eines Sprechers gehört ein von ihm gedachter wahrer Satz [fragwürdig]. Duplex oratio ist Signum der Lüge. [Der Rekurs auf das Verhältnis Gedachtes – Gesagtes ist fragwürdig; ich halte es für richtig, dass in der Lüge bewusst die Unwahrheit gesagt wird: Rekurs auf einen behaupteten Sachverhalt!]
Mit der Metapher ist eine Täuschung verbunden (Spannung zum Wortfeld), aber keine Lüge. Es wird eine Erwartung enttäuscht; ein Wort ist eine Erwartungsanweisung.
Das definite Verb mit seinen Morphemen macht den Satz, bezieht ihn auf die Sprechsituation. Das Verb enthält ein Assertionsmorphem (Ja/Nein). Person, Tempus und Determination sind die wesentlichen Merkmale des finiten Verbs. Die Logik entsorgt das Tempus zugunsten eines Präsens des immer Gültigen. Bloomfields und Gadamers Theorien – Gadamer bringt mit der Basis „Frage → Antwort (→ Frage → Antwort…)“ die Determination Ja/Nein in die Sprechsituation. Eine Frage enthält gegenüber der Antwort eine partielle Information; die Antwort ergänzt sie, mindestens durch ein Ja/Nein. In einem Satz werden die Bedeutung vollständig auf die Sprechsituation bezogen. – Von hier aus kommt Weinrich zu einer Syntax der Lüge: Die Lüge ist auf ein Ja/Nein bezogen; Beispiel: Hitlers Rede 1938.
In der Ironie bilden Wahrheit und Lüge keinen Gegensatz. Seit Sokrates gibt es die Ironiesignale; das sind sprachliche Zeichen, zumindest im Tonfall des Sprechens – man kann sie aber überhören. Ein gedachter Dritter hört das Gemeinte [?]. Selbstironie ist die reinste Form der Ironie.
Lügen die Dichter? Es gibt eine europäische Lügendichtung, die von Lügensignalen durchsetzt ist. Die Lügenrede und die Signale heben einander auf; eines der beliebten Signale ist die Wahrheitsbeteuerung, sind genaueste Angaben und Augenzeugenschaft usw. Platons Diktum von den lügenden Dichtern wird abgelehnt.
Ich habe in eckigen Klammern vermerkt, wo ich Weinrichs Ausführungen für fragwürdig halte. Weinrich selber hat sich in einer Buchbesprechung ein wenig von der „Linguistik der Lüge“ distanziert.
https://www.sueddeutsche.de/kultur/harald-weinrich-nachruf-literatur-linguistik-college-de-france-1.5540025 (Nachruf SZ)
https://www.welt.de/kultur/article237249931/Nachruf-auf-Harald-Weinrich-Schwarze-Milch-ist-keine-Luege.html (Nachruf Welt)
https://www.scielo.br/j/pg/a/fYYFNGQgGFSqRv4mZWVGtSb/?lang=de&format=pdf (Gespräch mit Weinrich)
https://api.deutsche-digitale-bibliothek.de/binary/12b0b5af-963b-464c-946d-4dceb4b56d0c.pdf (Sprachwissenschaft und Ideologiekritik)