Verhältnis Autor – Werk

In seiner Autobiografie „Mein Leben“ (1999) erzählt Reich-Ranicki von einer Begegnung mit Anna Seghers in Warschau; sie habe erklärt, sie habe sich in der Komposition von „Das siebte Kreuz“ an Manzonis Werk „Die Verlobten“ orientiert, was Reich-Ranicki für völligen Unsinn hält: „Diese bescheidene, sympathische Person, die jetzt in breiter Mainzer Mundart gemächlich über ihre Figuren schwatzte, diese würdige und liebenswerte Frau hat den Roman ‚Das siebte Kreuz‘ überhaupt nicht verstanden. Sie hat keine Ahnung von der Rafinesse der hier angewandten Mittel, von der Virtuosität der Komposition.“ (S. 342)

Kurz darauf, nach einer Anekdote über Richard Strauss verallgemeinert er diese Einsicht: „Was habe ich aus dem Gespräch mit Anna Seghers gelernt? Daß die meisten Schrtiftsteller von der Literatur nicht mehr verstehen als die Vögel von der Ornithologie. Und daß sie am wenigsten ihre eigenen Werke zu beurteilen imstande sind. Denn in der Regel wissen sie zwar, was sie ungefähr zeigen und verdeutlichen, erreichen und bewirken wollten. Dieses Wissen trübt ihren Blick auf das, was sie geleistet und geschaffen haben. Der Kritiker soll prüfen – so gründlich und so sorgfältig wie möglich -, was der Autor geschrieben hat. Was der Autor sonst über sein Werk zu sagen hat, sollten wir nicht ignorieren, indes auch nicht sonderlich ernst nehmen.“ (S. 342 f.)

Das ist eine Maxime, die man einerseits ernsthaft würdigen soll; anderseits zeigt sie aber auch, von welchem Selbstbewusstsein Reich-Ranicki als Kritiker erfüllt war.