Als allgemeine Stilregel kann gelten, dass das Deutsche den (Neben)Satz statt nominaler Konstruktionen liebt. Warum das so ist, möchte ich am Beispiel der Wörter „verraten – Verrat“ erklären. Ich führe zuerst die Artikel aus dem Bertelsmann-Wörterbuch vor, wie sie im Netz unter http://www.wissen.de/wde/generator/wissen/services/suche/wbger/index.html zu finden sind, und werte den Befund anschließend aus.
Ver|rat [m. -(e)s; nur Sg.]
1 das Mitteilen von Geheimnissen; die Konstruktionspläne wurden durch militärischen V. bekannt
2 Bruch der Treue, des Vertrauens; V. treiben, üben; V. an der Freundschaft
ver|ra|ten [V.94, hat verraten]
I [mit Akk.]
1 etwas v.
a etwas erzählen, weitersagen (was geheim bleiben soll); ein Geheimnis, einen Plan v.
b preisgeben, nicht mehr vertreten, sich von etwas abwenden (um anderer Dinge willen); seine Überzeugung v.
c auf etwas schließen lassen, erkennen lassen; seine Bemerkungen verrieten eine genaue Kenntnis der Sachlage; ihr Erröten verriet, dass sie sich getroffen fühlte
2 jmdn. v. Verrat an jmdm. begehen, jmdm. die Treue brechen, plötzlich nicht mehr zu jmdm. halten, nicht mehr auf jmds. Seite stehen; wenn das geschieht, bist du verraten und verkauft dann bist du hilflos, ratlos
II [mit Dat. und Akk.] jmdm. etwas v. vertraulich mitteilen, jmdn. von etwas in Kenntnis setzen; kannst du mir v., wie man hier zu Opernkarten kommt?; ich will dir v., wie ich das gemacht habe
III [refl.] sich v. etwas ungewollt mitteilen, merken lassen (was man für sich behalten wollte); sich durch eine Bemerkung, Bewegung v.
Auswertung: Dem Nomen „Verrat“ werden zwei Bedeutungen zuerkannt, dem Verb „verraten“ mindestens vier, in Wahrheit sechs verschiedene Bedeutungen. Das hängt mit der Valenz des Verbs (vgl. http://mmtux.idf.uni-heidelberg.de/ProGram/Valenz/RK_valenz.html) zusammen bzw. damit, dass das Verb mit drei (oder vier?) verschiedenen Valenzen gebraucht werden kann: I (mit dem Akkusativ) etwas verraten, jemanden verraten; II (mit Dativ und Akkusativ) jemandem etwas verraten; III (reflexiv) sich verraten; dazu immer der Nominativ: wer verrät; zusätzlich die Möglichkeit, vier Angaben zu machen: wann, wo, wie und warum jemand etwas oder jemanden verrät. Man kann über die optimale Gliederung der Bedeutungsvarianten natürlich streiten oder noch die Wortgeschichte hinzuziehen – aber sicher ist, dass die Spannweite der Bedeutung beim Verb (und damit in einem ganzen Satz) sowie die Möglichkeit weiterer Angaben größer ist und dass die Valenz des Verbs fordert, dass man genau ausdrückt, was man meint: „Ein Satz ist die Maximalprojektion eines finiten Verbs.“ (Stefan Müller) Dass sich mittels der grammatischen Konstruktion „Satz“ mehr ausdrücken lässt als bei Verwendung einer nominalen Konstruktion mit „Verrat“, liegt auch daran, dass die Satzaussage im neuen Verb eben nicht „verraten“ ist.
Nachtrag: Im elexiko (IDS) http://hypermedia.ids-mannheim.de/pls/elexiko/p4_anzeige.artikel?v_id=139491 werden vier verschiedene Lesarten für „verraten“ vorgestellt; im Valenzwörterbuch des IDS (http://hypermedia2.ids-mannheim.de/evalbu/index.html) fehlt das Verb „verraten“.
Zur Entwicklung der Bedeutung findet man einen Hinweis im Brockhaus’ Konversationslexikon, 14. Auflage (1894-1896), 16. Band, S. 284:
Verrat, nach älterm deutschen Recht in engerm Sinne Treubruch gegen den Lehnsherrn, im weitern das treulose Handeln gegen Personen, denen man zur Treue verpflichtet ist. Im weitern Verlauf der Entwicklung überwog das polit. Moment, Majestätsverbrechen, Hoch- und Landesverrat (s.d.) gewannen besondere strafrechtliche Bedeutung. Sichere Abgrenzung der einzelnen Begriffe findet sich erst im neuern Recht; die Strafbarkeit des Verräters als solchen ist ihm fremd. […]
Im DWDS ist seit kurzem neben der Bedeutung auch die Wortgeschichte nach dem Pfeiferschen Wörterbuch nachzulesen, für „verraten“ also dies:
verraten Vb. ‘Geheimes, nicht für andere Bestimmtes bekanntmachen, die Treue brechen’, abgeschwächt ‘deutlich werden lassen, zeigen’. Das westgerm. Präfixverb ahd. firrātan (um 800), mhd. verrāten, mnd. vorrāden (woraus anord. forrāða), mnl. verrāden, nl. verraden, aengl. forrǣdan ist eine Bildung zu dem unter raten (s. d.) behandelten Verb mit einer Grundbedeutung ‘den Entschluß zu jmds. Verderben fassen, etw. zu seinem Verderben unternehmen’, dann beschränkt auf solche Fälle, in denen dies durch die Angabe geheimzuhaltender Umstände geschieht, so daß ‘Geheimnisse preisgeben’ zum bestimmenden Inhalt wird. Dieser tritt zurück in der übertragenen Anwendung des Verbs im Sinne von ‘erkennen lassen’. Die Bedeutung ‘einen schlechten, falschen Rat geben’ bleibt auf das Mhd. beschränkt. Verrat m. ‘Preisgabe eines Geheimnisses, Zerstörung eines Vertrauensverhältnisses, Treuebruch’ (Ende 17. Jh.); vgl. mhd. verrātgenōӡ ‘Teilnehmer am Verrat’. Verräter m., mhd. verrātære, verræter(e). verräterisch Adj. (15. Jh.). Hochverrat m. ‘Angriff auf die Staatsverfassung, auf die innere Ordnung oder auf die Repräsentanten eines Staates’ (um 1700), Wiedergabe von engl. high treason. Landesverrat m. (18. Jh.).