Verhältnis Autor – Werk

In seiner Autobiografie „Mein Leben“ (1999) erzählt Reich-Ranicki von einer Begegnung mit Anna Seghers in Warschau; sie habe erklärt, sie habe sich in der Komposition von „Das siebte Kreuz“ an Manzonis Werk „Die Verlobten“ orientiert, was Reich-Ranicki für völligen Unsinn hält: „Diese bescheidene, sympathische Person, die jetzt in breiter Mainzer Mundart gemächlich über ihre Figuren schwatzte, diese würdige und liebenswerte Frau hat den Roman ‚Das siebte Kreuz‘ überhaupt nicht verstanden. Sie hat keine Ahnung von der Rafinesse der hier angewandten Mittel, von der Virtuosität der Komposition.“ (S. 342)

Kurz darauf, nach einer Anekdote über Richard Strauss verallgemeinert er diese Einsicht: „Was habe ich aus dem Gespräch mit Anna Seghers gelernt? Daß die meisten Schrtiftsteller von der Literatur nicht mehr verstehen als die Vögel von der Ornithologie. Und daß sie am wenigsten ihre eigenen Werke zu beurteilen imstande sind. Denn in der Regel wissen sie zwar, was sie ungefähr zeigen und verdeutlichen, erreichen und bewirken wollten. Dieses Wissen trübt ihren Blick auf das, was sie geleistet und geschaffen haben. Der Kritiker soll prüfen – so gründlich und so sorgfältig wie möglich -, was der Autor geschrieben hat. Was der Autor sonst über sein Werk zu sagen hat, sollten wir nicht ignorieren, indes auch nicht sonderlich ernst nehmen.“ (S. 342 f.)

Das ist eine Maxime, die man einerseits ernsthaft würdigen soll; anderseits zeigt sie aber auch, von welchem Selbstbewusstsein Reich-Ranicki als Kritiker erfüllt war.

A. Thalmayr: Lyrik nervt (Hanser 2004) – gelesen

Erste Hilfe für gestresste Leser“ ist der Untertitel des Buches von H. M. Enzensberger, der schon mal das Pseudonym „Andreas Thalmayr“ benutzt („Das Wasserzeichen der Poesie“, 1985). Angeblich schreibt er für Leser, die von den in der Schule geforderten Gedichtinterpretationen genervt sind – aber dass ausgerechnet diese zu Enzensbergers Buch greifen, darf bezweifelt werden. Enzensberger schreibt nämlich – allerdings in einem schnodderig-kumpelhaften Ton, das ist die Konzession an die Gestressten – eine eigentlich ganz normale Einführung in die Lyrik, wobei seine Ausführungen durch zahlreiche bekannte und weniger bekannte Beispiele erläutert werden – vielleicht ist „vorstellen“ besser als „erläutern“. Was ist ein Gedicht? Was ist ein Vers? Welche Reim- und Strophenformen gibt es? Wozu sind Metaphern und andere „Stilmittel“ gut? Gibt es eine richtige Interpretation, ja, braucht es überhaupt eine Interpretation? Wie funktioniert reimlose Lyrik? Was ist ein gutes Gedicht? Kann nicht jeder selber dichten? Das sind etwa die Fragen, die man auf 100 Seiten beantwortet bekommt.

Es ist sicher kein Buch für gestresste, sondern für interessierte Leser, die das in leichtem Ton serviert bekommen, was es zumindest am Gymnasium auch schon zu hören gab. Das Beste am Buch sind die vielen Beispiele, unter denen auch Spielformen der Poesie reichlich vertreten sind. Erheitert haben mich die Verse der Friederike Kempner, des schlesischen Schwans:

Frohe Stunden

Pilz des Glücks ist dieser eine,

Jener Stiefpilz des Geschicks;

Einem sind als O die Beine,

Andern wuchsen sie als X.

Zum Problem einer „Interpretation“

Dass man ein (Kunst)Werk nicht adäquat aus der Biografie des Urhebers oder aus einer Vermutung, „was der Künstler uns sagen wollte“, erklären kann, hat sich vielleicht inzwischen herumgesprochen. Zur Begründung füge ich einen Auszug aus einem lesenswerten Aufsatz Oswald Schwemmers an:

„Wenn Artikulation immer ein Verhalten zu bereits Artikuliertem ist, dann bedarf mein Selbstwerden und -sein, das ja artikulierendes und artikuliertes Sein ist, dieses Mediums. In diesem Sinne ist symbolische Kultur kein von außen auferlegter Zwang, sondern ein „Angebot“, in dessen durchaus individueller und höchst unterschiedlicher Annahme wir überhaupt erst zu einer Form unserer Äußerungen, zu einer Artikulation unseres Ausdrucks und damit auch zu einem persönlichen Selbstsein kommen.
Diese Verschränkung von persönlicher Artikulation und kulturellen Ausdrucksformen hat noch eine weitere Dimension, die wir die Dimension des Werkes oder des Werkcharakters unserer Äußerungen nennen können. Mit einem Blick auf den schönen Kleist-Text „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ können wir uns zum Beispiel vergegenwärtigen, wie im Prozess des Redens das, was wir sagen, sich entwickelt. Im Reden entsteht, wenn wir nicht ablesen oder aufsagen, das, was wir sagen. Dabei ist es nicht immer so, dass das, was wir sagen, auch das ist, was wir am Ende als das erkennen, was wir haben sagen wollen. Nehmen wir aber einmal an, es wäre so, dass das, was wir sagen, wie im Falle Mirabeaus in der Kleist’schen Schilderung, zugleich das ist, was wir im Reden als das erkennen, was wir sagen wollten, und also auch als das, was wir denken. Selbst in diesem Fall ist es aber doch so, dass das, was wir sagen, schon im Augenblick seiner Äußerung ein Eigenleben zu führen beginnt. Es wird zum Teil einer Sprache, in der auch andere und im Übrigen auch wir selbst in anderen Situationen ebenfalls etwas sagen oder schreiben. Es geht dabei vielfältige Verbindungen mit dem in dieser Sprache Gesagten und Geschriebenen ein, Verbindungen, die wir in unserem Reden weder überschaut haben noch überschauen konnten.
Das Gesagte löst sich von der Person, die es gesagt hat, und auch von der Situation, in der sie es gesagt hat. Und dies geschieht gleichzeitig mit und in dem Reden, in dem wir unsere Gedanken allmählich formulieren und verfertigen. Denn die Sprache, in der wir uns ausdrücken, ist (wie jede der symbolischen Welten, in denen wir uns bewegen) in ihren Ausdrucksformen bereits da, wenn wir beginnen, uns in ihr zu artikulieren. Was wir überhaupt artikulieren, ist eingebettet in das, was schon artikuliert worden ist. Unsere ganze geistige Existenz ist eingebettet in der symbolischen Kultur, in der die geistige Existenz anderer ihre Spuren hinterlassen hat. Wir leben daher in einer stetigen Differenz von einem sich erst bildendem Ausdruckswillen und der von ihm im Medium der symbolischen Kultur gebildeten Ausdrucksform. Diese Differenz lässt sich nicht ausgleichen, auch nicht in der gelungenen Artikulation, wie sie Kleist in seinem Text vorführt.
Die Beschreibung einer allmählichen Verfertigung des Gedachten – und damit eben auch des Gesagten – beim Reden zeigt, dass der gelungene Ausdruck ein Zusammentreffen von Verschiedenem ist. Der Redner selbst wird in einem gewissen Sinne vom Gelingen seines Ausdrucks überrascht. Als eigenes Ereignis fassen wir dieses Gelingen nur, weil wir es nicht schon so, wie es geworden ist, vorausgesehen haben und voraussehen konnten. Das sprachliche Feld, in dem wir uns bewegt haben, hat uns mit den in ihm abgelagerten Verknüpfungen in eine Dynamik des Verweisens hineingezogen, die das benutzte Wort mit weiteren Sinnverbindungen anreichert und Zusammenhänge sichtbar werden lässt, die sich auch aus eigenem Recht im Denken und Reden ausbreiten.“

(Oswald Schwemmer: Die Macht der Symbole, 2006; der ganze Aufsatz in APUZ: https://www.bpb.de/apuz/29747/die-macht-der-symbole)

https://de.wikipedia.org/wiki/Oswald_Schwemmer Oswald Schwemmer

Eine Erzählung – Reaktionen verschiedener Leser

Mein kleiner Vogel

Heute Morgen hatte ich alle Fenster und die Flügeltüren im Wohnzimmer geöffnet, um frische Luft ins Haus zu lassen. Als ich nach dem Frühstück ins Schlafzimmer ging, sah ich auf dem linken Fensterflügel einen kleinen grauen Vogel sitzen. „Geh raus, los“, sagte ich zweimal zu ihm, aber er blieb sitzen – vielleicht hätte ich dreimal „Flieg‘ raus“ sagen sollen; da musste ich auf einen Hocker klettern und ihm von hinten einen kleinen Schubs geben, damit er rausfliege.

Nach der Gymnastik kam ich ahnungslos erneut ins Schlafzimmer, da flog plötzlich der kleine Vogel vor mir durchs Fenster hinaus – ich hatte ihn gar nicht bemerkt. Er hatte offensichtlich unser Haus oder meine Nähe gesucht, und ich erwog schon, ihn zu meinem Totem zu machen – vielleicht kam im kleinen Vogel ja der Geist meines Vaters zu mir, vielleicht hatte er eine Botschaft zu überbringen.

Nach dem Duschen kam ich angezogen noch einmal ins Schlafzimmer, da sah ich auf dem Fußboden, was der kleine Graue mir hinterlassen hatte; ich musste die Vogelscheiße aufwischen und habe die Fenster geschlossen, damit der Kleine nicht noch einmal hereinkommen konnte. Seine Chancen, mein Totem zu werden, sind beträchtlich geschwunden. 18. Juni 2021

Folgende Antworten habe ich darauf bekommen:

Eine schöne Geschichte; du hast schön erzählt. (mehrere)

Lieber Norbert, das ist eine schöne kleine Geschichte – aber schade, dass du den Vogelschiss missverstanden hast: Ich betrachte ihn als Geschenk für dich – was sonst hätte er gehabt, der kleine Vogel? (eine Frau)

Anfangs dachte ich: Den Titel hätte ich anders genannt, entweder „Der Vogel mit dem Vogel“, oder „Der Vogel, der seine Chance verschiss“, aber wenn man die Vogelart spezifiziert, sagen wir Spatzen statt grauen Vogel, dann würden solche Titel nicht gehen. Die Wendung ergibt sich durch die Scheisse, denn das änderte die Meinung des Erzählers. Gut gemacht. (ein Mann)

Guten Morgen, lieber Norbert, das mit den kleinen Vögeln kenne ich.
Auf der Dürerstraße hatte ich ein Rotkehlchen, das immer kam, sobald ich draußen war, und manchmal hatte ich das Gefühl, es versteht mich, wenn ich ihm etwas erzählte. (eine Frau)

Tja. (ein Mann)

Da hattest du ja ein „schönes“ Erlebnis am frühen Morgen. (eine Frau)

S. Geisel: Geschichten erzählen (Das Narrativ)

Es heißt: Der Mensch ist das Tier, das Geschichten erzählt – und die sind längst in der Politik angekommen. Allerdings ist bei einem erfolgreichen Narrativ nicht entscheidend, ob es mit der Realität übereinstimmt oder Fake News verbreitet.

„Kinder brauchen Märchen“, so heißt ein berühmtes Buch von Bruno Bettelheim. „Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben“, schreibt die amerikanische Autorin Joan Didion. „Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben. Wir interpretieren, was wir sehen, und suchen uns die praktikabelste der verschiedenen Lösungen aus. Wir leben voll und ganz darin, dass wir eine narrative Linie über verstreute Bilder legen.“

„Wenn man es aus dem biologischen Blickwinkel unserer Sinne her betrachtet, empfängt unser Geist von der Welt nur bruchstückhafte Informationen“, sagt Alberto Manguel. „Hätten wir nur diese Fragmente – ein Geruch, eine Farbe, eine Form, ein Klang –, ergäbe das Universum für uns keinen Sinn. Erst, wenn ich meine Vorstellungskraft einsetze, um eine Erzählung zu konstruieren, kann ich mit der Welt in einen Austausch treten.“

Alberto Manguel ist der Autor des Klassikers „Eine Geschichte des Lesens“. Er hat sein ganzes Leben darüber nachgedacht, warum wir Geschichten brauchen. „Ich glaube, dass es dafür einen biologischen Grund gibt. Nach Darwin entwickeln wir als Tiere Werkzeuge, um zu überleben, und die menschliche Gattung hat die Vorstellungskraft entwickelt, als Überlebenswerkzeug“, erklärt er. „Die Vorstellungskraft erlaubt es uns, eine Erfahrung zu machen, ohne diese Erfahrung tatsächlich machen zu müssen. Wir können uns vorstellen, was geschehen wird, wenn wir nach links oder nach rechts gehen, oder wenn uns jemand begegnet, und wir nutzen Geschichten dazu, die Vorstellung einer Erfahrung zu konstruieren. Wir benutzen den narrativen Impuls.“

Auch das Vergnügen, das Geschichten uns bereiten, sei kein Selbstzweck: „Wir nutzen Geschichten. Wir benutzen den narrativen Impuls. Vergnügen bereitet das Erzählen erst in zweiter Linie, wie bei den anderen Überlebensimpulse auch, es ruft alle möglichen Emotionen hervor. Es ist wie beim Sexualakt: Sein Ziel besteht nicht darin, uns zu befriedigen, sondern die Gattung fortzusetzen. Aber damit wir es tun, muss es uns Vergnügen bereiten. Und so verhält es sich auch mit dem Geschichtenerzählen: Sein Sinn besteht darin, dass wir uns in der Welt zurechtfinden.“ Um uns in der Welt zurechtzufinden, müssen wir sie uns zu eigen machen: „Unser Gehirn ist nicht nach den Dimensionen des Universums strukturiert. So denken wir uns die Dinge etwa in einer Reihenfolge: Etwas kommt vorher, etwas anders nachher, etwas ist rechts oder links, oben oder unten. Doch das sind Konventionen, im Universum existiert so etwas nicht. Um eine Erzählung zu konstruieren, muss man irgendwo beginnen.

Der Rote König in ‚Alice im Land der Spiegel‘ gibt dem Gerichtsdiener folgende Regel: ‚Fang mit dem Anfang an, geh weiter durch die Mitte, und wenn du zum Ende kommst, hör auf.‘ So funktionieren Geschichten. Aber die Welt funktioniert nicht so, deshalb fragen wir ständig: Wie hat es angefangen? Ah, Schöpfungsgeschichten! Und wie wird es aufhören? Da haben wir die Apokalypsen.“

„Und dort sehen Sie, wie die Kurve ansteigt“, sagt Michael Solf, „seit dem Ende der 70er-Jahre bis etwa zum Jahr 2000, dort kurz stagniert, um dann richtig abzuheben, und inzwischen findet sich das Wort in einer unteren mittleren Häufigkeit.“ Michael Solf ist Lexikograf. Für das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache bearbeitet er den Eintrag zum Stichwort „Narrativ“. Die Überarbeitung wurde nötig, weil das Wort in den letzten Jahren an Relevanz gewonnen hat. „Unter einer Million Wörtern stecken sechs Narrative, aber wir haben natürlich viele, viele, viele Millionen Wörter. Das heißt, das Wort ist bei uns viele Tausend Mal belegt“, erklärt er.

Ursprünglich hatte der Begriff „Narrativ“ eine neutrale Bedeutung: „Was wir Ende der 70er-Jahre zunächst finden, das ist so etwas wie ein vorgefundener, konstruierter, sinnstiftender Zusammenhang zwischen einer Folge von Ereignissen und Sachverhalten.“ Doch das hat sich geändert: „Man kann aber feststellen, dass der Begriff Narrativ in politischen, gesellschaftlichen und ähnlichen Diskursen häufig benutzt wird, um andere Überzeugungen zu relativieren und sie als willkürlich zu kennzeichnen, als bloße Fiktion, als artifiziell, als etwas, das eigentlich nicht wirklich da ist.“ Für seine These, dass „Narrativ“ ein abwertender Begriff sei, hat Michael Solf einen ganz einfachen Beweis: „Versuchen Sie mal eine Ersetzungsprobe. ‚Das Narrativ von der Unterdrückung der Frau‘ – funktioniert das gut? … Wenn das nicht funktioniert, dann sind wir am Kern der Sache angekommen.“ Wer die Unterdrückung der Frau als bloßes Narrativ bezeichnet, negiert den Sexismus. Vieles von dem, was wir heute als Narrativ bezeichnen, hätte man früher Ideologie genannt: „Ich denke, das ist einer der Gründe für den Erfolg eines solchen Wortes. Als hätte man auf eine wissenschaftlich verbrämte Variante der Diskriminierung nur gewartet.“

„Es scheint, als hätten wir uns bisher getäuscht über das, was Gesellschaften und Nationen zusammenhält. Es sind nicht Verträge, Verfassungen, Gründungsmythen, gemeinsame Sprache und Kultur, Religion oder Ideologie. Es ist das Narrativ, Dummchen!“ So heißt es in einem Artikel, der 2018 in der „Welt“ erschienen ist. Der Journalist und Autor Matthias Heine schreibt in der Rubrik „Modewort“ über die erstaunliche Karriere des Begriffs „Narrativ“. Ursprünglich stammt das Wort aus dem Buch „Das postmoderne Wissen“ des französischen Philosophen François Lyotard. Lyotard verwendet darin den französischen Begriff „grand récit“. Diese Meta-Erzählungen seien in der Postmoderne in die Krise geraten, sagt Heine im Interview: „Das war eben geboren aus dieser von Lyotard so gesehenen Tatsache, dass die großen Erzählungen … der Vergangenheit – die Aufklärung, der Staat, der fürsorgliche Staat, die Nation – oder noch älter, das Christentum, ‚Gott ist allmächtig‘, dass die ihre Strahlkraft verloren hatten nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts, nach dem Zusammenbruch oder der Beschädigung des Kommunismus und er [der Mensch] plötzlich eine Art Verbalisierung suchte, in der man klar machen konnte, dass das eben alles Narrative, Narrationen, Imaginationen oder eben bloß Erzählungen sind und nichts Unveränderliches, und dass es immer einen Kampf solcher Erzählungen gibt.“

Früher galten diese Großerzählungen nicht als Narrativ, sondern als Norm. In der pluralistischen Gesellschaft werden sie abgelöst von Mikro-Narrativen: Jede Identität hat ihr eigenes Narrativ. „Ein Großnarrativ, das lange Zeit nicht infrage gestellt wurde, war ja Mann und Frau. Dass es einfach Mann und Frau gibt. Wenn Sie jetzt non-binäre Identitäten schaffen, schaffen Sie damit neue Mikronarrative, die dieses Großnarrativ infrage stellen. Und das ist eben alles natürlich Ausdruck einer Krise, die aber auch Aufbruch ist.“

„Humans are story-telling animals“, sagt der israelische Historiker Yuval Noah Harari in einer Online-Veranstaltung von Los Angeles Live Talks: „Menschen sind Tiere, die Geschichten erzählen. Unsere Identität basiert auf den Geschichten, die wir glauben. Kaum je gelingt es, Menschen zu politischem Handeln zu inspirieren, indem man ihnen wissenschaftliche Tatsachen erklärt. Wenn Sie den Leuten sagen: ‚e = mc²‘, eine grundlegende Gleichung der Physik – wer wird dann für Sie stimmen? Um Menschen zu inspirieren, brauchen Sie eine Geschichte, eine Mythologie, mit mehr oder weniger Nähe zur Wahrheit.“

Eine jüdische Lehrgeschichte aus dem 11. Jahrhundert: „Wahrheit, nackt und kalt, wurde an jeder Tür des Dorfs abgewiesen. Ihre Nacktheit machte den Menschen Angst. Als Parabel sie fand, kauerte Wahrheit in einer Ecke, zitternd und hungrig. Parabel bekam Mitleid, hob Wahrheit auf und nahm sie mit nach Hause. Hier kleidete sie Wahrheit in eine Geschichte, wärmte sie auf und schickte sie wieder los. Gekleidet in eine Geschichte, klopfte Wahrheit wieder an die Türen des Dorfs, und nun hieß man sie willkommen. Die Dorfbewohner luden sie ein an ihren Tisch und ließen sie an ihrem Feuer sitzen.“

Der Historiker Harari sagt: „Wenn sie den Menschen die Wahrheit sagen, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit, dann wird kaum jemand für Sie stimmen. So würden Sie nie Präsident oder Premierminister.“ „Die wahrscheinlich wichtigste Zutat, die Geschichten mit sich bringen, sind Emotionen“, sagt die Neurowissenschaftlerin und Autorin Maren Urner. „Das, was uns eben vor allem reizt, und warum wir Dinge besser abspeichern können, sind Emotionen, also deshalb funktionieren auch die reinen Fakten, wenn wir versuchen, die irgendwie weiterzugeben, niemals so gut, als wenn wir eine Geschichte drumherum erzählen.

Geschichten verbinden das faktische Wissen mit unserem erlebten Erfahrungshorizont. Das hat auch eine körperliche Dimension, so die Sprachwissenschaftlerin Elisabeth Wehling 2017 in einem Vortrag auf der re:publica. „Alles, was wir denken, denken wir mit dem Gehirn, und das Gehirn ist angebunden an unsere Körper“, erklärt sie. „Deshalb schöpft das Gehirn, wenn es denken will, aus all den körperlichen Erfahrungen, die es abspeichern konnte vorher in unserem Leben. Dazu gehören Gefühle, visuelles Input, Gerüche, Geräusche, Geschmack, Bewegungen. Und wenn wir zum Beispiel Leute im Gehirnscan liegen haben, und die lesen den Satz: ‚John beißt in das Wurstbrot‘, dann feuert in dem Moment, in dem sie das Verb, das Handlungswort ‚beißen‘ lesen, die Gegend im Gehirn los, die damit zu tun hat, selber zu beißen.“ Wenn wir in Geschichten etwas sehen, hören oder riechen, versetzt uns das innerlich in Aktion. Auf Wörter, die etwas erzählen, reagiert unser Gehirn so, als würden wir das Erzählte tatsächlich erleben, berichtet Wehling: „Wenn das Gehirn auf so etwas zurückgreifen darf, dann freut sich das Gehirn ungemein. Wieso? Weil es da so richtig aus seiner Welterfahrung schöpfen darf, da hat es richtig viel zum Mitfeuern.“

[Ausführungen über die Firma Storymachine]

„Tod und Wiedergeburt, und das ist das Grundmotiv der Heldenreise: Einen Zustand zu verlassen, den Ursprung des Lebens zu finden, und in einem reicheren, reiferen Zustand wieder hervorgebracht zu werden“, sagt Joseph Campbell in der Gesprächsreihe „Die Macht der Mythen“. Berühmt wurde der amerikanische Mythologe mit seinem Buch „Der Held in den tausend Gestalten“. Campbell beschreibt die mythische Heldenreise als einen Weg mit klar definierten Stationen: Der Held oder die Heldin folgt dem Ruf zum Abenteuer, er oder sie verlässt die vertraute Welt, besteht Abenteuer und kehrt verwandelt zurück zu der eigenen Gemeinschaft. „Das ist die Tat des Helden: Aufbruch, Erfüllung, Rückkehr.“

Das Muster der Heldenreise findet sich nicht nur in Märchen, Mythen und Filmen. Campbell beschreibt es als archetypisches Prinzip, das in jedem einzelnen menschlichen Leben realisiert wird. Auch wir vernehmen beim Übergang von einer Lebensphase in die nächste den Ruf zum Abenteuer, den wir entweder annehmen oder ablehnen. Joseph Campbell beschreibt die individuelle Heldenreise als Reifungsprozess: „Die Reifung des Individuums: Es ist diese geradezu pädagogische Anleitung, der man folgt, das geht von der Abhängigkeit ins Erwachsensein, dann folgt die Reifung, und dann geht es zum Exit.“

Wir erzählen uns Geschichten, nicht nur, um zu leben, sondern um uns selbst zu optimieren und uns zu verkaufen. Wir haben aus dem Storytelling eine Industrie gemacht. Warum ist das Erzählen gerade heute so wichtig geworden? Der Abschied von den Großerzählungen, den François Lyotard diagnostizierte, ist nur einer von vielen Gründen.

Die Neurowissenschaftlerin Maren Urner nennt einen weiteren: „Da denke ich einfach, dass diese Unsicherheit, die wir erleben, also wir jetzt im Sinne von gesamtgesellschaftlich gerade in den sogenannten besonders entwickelten Industrieländern, wo alles möglich zu sein scheint. Unsicherheit, weil wir zu viele Handlungsoptionen haben, zu viel, gemessen an dem, was unser Gehirn leisten kann. Übertragen auf die Berufswahl, die Partnerwahl, auf die Wahl, wie wir unsere Zeit verbringen, ist unser Gehirn in einem kontinuierlichen Überforderungsmodus. Das heißt, umso stärker, würde ich argumentieren aus Sicht der Neurowissenschaften, Psychologie, sind wir auf der Suche nach Narrativen, die uns Halt geben.“

Oder liegt es an der Informationsflut, wie Philipp Jessen von Storymachine vermutet: „Weil es so laut ist, weil es so viele Informationen gibt, weil es so viele Streitereien und öffentliche Diskurse gibt in einer unglaublich erratischen Lautstärke, dass die Leute gar nicht mehr wissen, wo hören sie hin? Und das ist natürlich der Grund, dass eine gut erzählte Geschichte natürlich durchdringt bei der ganzen Lautstärke, die es heutzutage gibt.“

Liegt es an der Politik, wie Alberto Manguel glaubt? „Vielleicht ist es tatsächlich so, dass wir uns heute stärker dem Storytelling zuwenden als zu anderen Zeiten. Auf jeden Fall leben wir in einer verwirrenden Zeit. Wir befinden uns wieder mitten in politischem Chaos. Wir dachten, der Faschismus sei ein Ding der Vergangenheit, doch er ist keineswegs vergangen. Die Faschisten erheben wieder ihren Kopf, als hätte es den Zweiten Weltkrieg nie gegeben. Und wir sind mitten in einer Pandemie. Nichts ist sicher. Wir brauchen Geschichten, um einen Sinn zu finden in einem Universum ohne Sinn.“

Geschichten bieten Halt, das zeigt auch der Blick in einen Märchenklassiker. „Da fingen sie an zu laufen, stürzten in die Stube hinein und fielen ihrem Vater um den Hals. Der Mann hatte keine frohe Stunde gehabt, seitdem er die Kinder im Walde gelassen hatte, die Frau aber war gestorben. Gretel schüttelte sein Schürzchen aus, dass die Perlen und Edelsteine in der Stube herumsprangen, und Hänsel warf eine Handvoll nach der andern aus seiner Tasche dazu. Da hatten alle Sorgen ein Ende, und sie lebten in lauter Freude zusammen. Mein Märchen ist aus, dort lauft eine Maus, wer sie fängt, darf sich eine große Pelzkappe daraus machen.“

Sieglinde Geisel: Die Wirklichkeit erfinden. Fluch und Segen des Narrativs. Eine Sendung in „Zeitfragen“ des Deutschlandfunks Kultur, 31.05.2021

P.S. Dass „Narrativ“ abwertend gebraucht wird, kann ich nicht feststellen. N.T.

„kam herbei wie eine Welle“ – ein Vergleich bei Goethe

Und was sich, an jener Stelle,

Nun mit deinem Namen nennt,

Kam herbei, wie eine Welle,

Und so eilt‘s zum Element.

Wie können wir dieses Bild Goethes verstehen? Ist es überhaupt ein Bild, also etwas Unveränderliches, und nicht eher ein kleiner Bericht: Es kam – es eilt? Es handelt sich um die zweite Hälfte der vierten Strophe von „Dauer im Wechsel“ (1803); zu ihrem Verständnis muss man zunächst kurz den Kontext beschreiben. Der Sprecher hat von Beginn an auf verschiedene Formen des Wechsels hingewiesen, dass sich nämlich die Gegebenheiten der Welt dauernd ändern, dass nichts von Bestand ist: Blütenblätter fallen ab, Laub verschwindet, Früchte bleiben nicht hängen, Tal und Fluss bleiben nicht bestehen. Sein zweiter Blick gilt dem Menschen: „Du nun selbst!“ – dein Blick ändert sich, die küssende Lippe und der kletternde Fuß vergehen, ebenso deine Hand – „Alles ist ein andres nun“; „Alles“, das sind die Teile deines Körpers, das bist du selbst im ganzen. Und darauf folgen dann die vier genannten Verse: „Und was sich, an jener Stelle…“.

Das Subjekt der Aussage ist das, „was sich, an jener Stelle, [n]un mit deinem Namen nennt“. Hieran fällt auf, dass nicht vom Du, sondern von einem Es die Rede ist; diesem Es ist ein Name zugeordnet, dein Name. Er wird ihm „nun“ beigelegt, ist aber der Name des früheren Du, das doch vergangen ist. Was gegenwärtig mit diesem Namen bezeichnet wird, befindet sich „an jener Stelle“, die nun den alten Namen trägt. Was kann von diesem Es gesagt werden? Es „kam herbei, wie eine Welle“. Dieser Vergleich erfasst Bestand und unmerkliche Veränderung in einem: Die Welle ist als solche beständig und als solche weiterziehend, und zugleich als Welle nur eine durch eine Energie erzeugte Bewegung des Wassers, die man sieht, die aber nicht selbständig und substanziell ist, auch wenn sie „die Welle“ heißt: Bewegung im Wasser. Und so eilt Es „zum Element“, zum großen Wasser des Ozeans, wo Es im Element verschwindet. Das ist es, was sich mit deinem Namen nennt.

Was zeigt der Vergleich des sich verändernden Menschen mit der Welle? Er dient sicher nicht – wie Schüler in ihrer Hilflosigkeit zu sagen pflegen – dazu, „dass man sich etwas besser vorstellen kann“; die Vorstellungen vom Menschen, der sich ändert, waren zuvor klar genug. Nein, durch den Vergleich lassen sich zwei widersprüchliche Aussagen zusammen denken: Du änderst dich fortwährend, und doch wird dir mit dem gleichen Namen Identität zuerkannt. Das versteht man, wenn man sieht, wie die Welle kommt und weiterzieht, sagt der Sprecher.

Wie Goethe in der fünften Strophe „Dauer im Wechsel“ sichern will, brauchen wir jetzt nicht zu berücksichtigen.

Goethe: Über das Lesen

Was mein leichter Griffel entwirft, ist leicht zu verlöschen,
Und viel tiefer präget sich nicht der Eindruck der Lettern,
Die, so sagt man, der Ewigkeit trotzen. Freilich an viele
Spricht die gedruckte Kolumne; doch bald, wie jeder sein Antlitz,
Das er im Spiegel gesehen, vergißt, die behaglichen Züge,
So vergißt er das Wort, wenn auch von Erze gestempelt.
Reden schwanken so leicht herüber hinüber, wenn viele
Sprechen und jeder nur sich im eigenen Worte, sogar auch
Nur sich selbst im Worte vernimmt, das der andere sagte.
Mit den Büchern ist es nicht anders. Liest doch nur jeder
Aus dem Buch sich heraus, und ist er gewaltig, so liest er
In das Buch sich hinein, amalgamiert sich das Fremde.
Ganz vergebens strebst du daher, durch Schriften des Menschen
Schon entschiedenen Hang und seine Neigung zu wenden;
Aber bestärken kannst du ihn wohl in seiner Gesinnung
Oder, wär er noch neu, in dieses ihn tauchen und jenes.

Sag ich, wie ich es denke, so scheint durchaus mir, es bildet
Nur das Leben den Mann und wenig bedeuten die Worte.
Denn zwar hören wir gern, was unsre Meinung bestätigt,
Aber das Hören bestimmt nicht die Meinung; was uns zuwider
Wäre, glaubten wir wohl dem künstlichen Redner; doch eilet
Unser befreites Gemüt, gewohnte Bahnen zu suchen.
Sollen wir freudig horchen und willig gehorchen, so mußt du
Schmeicheln. Sprichst du zum Volke, zu Fürsten und Königen, allen
Magst du Geschichten erzählen, worin als wirklich erscheinet,
Was sie wünschen und was sie selber zu leben begehrten.

(Auszug aus der Epistel, die Goethe 1794 für die Horen geschrieben hat)

Zum (Deutsch)Unterricht

aus den Xenien Goethes und Schillers:

Die Sicherheit

Nur das feurige Roß, das mutige, stürzt auf der Rennbahn,
Mit bedächtigem Paß schreitet der Esel daher.

Das Naturgesetz

So wars immer, mein Freund, und so wirds bleiben. Die Ohnmacht
Hat die Regel für sich, aber die Kraft den Erfolg.

Delikatesse im Tadel

Was heißt zärtlicher Tadel? Der deine Schwäche verschonet?
Nein, der deinen Begriff von dem Vollkommenen stärkt.

Bedeutung

»Was bedeutet dein Werk?« so fragt ihr den Bildner des Schönen.
Frager, ihr habt nur die Magd, niemals die Göttin gesehn.

Das gewöhnliche Schicksal

Hast du an liebender Brust das Kind der Empfindung gepfleget,
Einen Wechselbalg nur gibt dir der Leser zurück.

Gedichte für Klasse 5

Ich möchte einige Gedichte nennen, die sich jahrelang in meinem Unterricht bewährt haben – vielleicht auch als Anregung für eine Vertretungsstunde:

James Krüss: Der Zauberer Korinthe

https://www2.klett.de/sixcms/media.php/229/OA_313811_S167_qd36fk_Gedichtvortrag.pdf

https://text-unlimited.de/wordpress/kaffee-tinte/ (kleine Fehler im Text)

Peter Hacks: Trip, trip, trop

(leider nicht im Netz greifbar)

James Krüss: Höpftbönnöff (aus: Mein Urgroßvater und ich, 1960)

https://books.google.de/books?id=cKqkBwAAQBAJ&pg=PT52&lpg=PT52&dq=%22eine+zeitung+f%C3%BCr+die+Bienen%22&source=bl&ots=pzpJGy6doa&sig=ACfU3U1yk6QoGHjC0fCa2r6N7OMpoA84JQ&hl=de&sa=X&ved=2ahUKEwizy6vugKzoAhVllFwKHQ33AacQ6AEwAHoECAcQAQ#v=onepage&q=%22eine%20zeitung%20f%C3%BCr%20die%20Bienen%22&f=false

Erich Kästner: Die Sache mit den Klößen

https://www.waldorf-ideen-pool.de/Schule/uebergreifend/rhythmischer-teil/gedichte/unterstufengedichte/verschiedene-gedichte-1/die-sache-mit-den-kloessen

Karl Krolow: Schlaflied im Sommer

Nun träumen im Kleefeld die Hasen
und spitzen im Schlafe ihr Ohr.
Im Dunkel duftet der Rasen.
Es spüren mit feinen Nasen
die Füchse am Gartentor.


Nun redet im Walnussbaume

vorm Fenster der nächtliche Wind.

Nun atmen Birne und Pflaume

und wollen reifen. Im Traume

mit Händen greift sie mein Kind.


Es rufen die Uhren die Stunde
durchs schlafende Sommerhaus.
Im Hofe knurren die Hunde.
Mein Kind ruht, die Fäustchen am Munde.
Ich lösche die Kerze aus.

Wilhelm Busch: Die Freunde

http://www.wilhelm-busch-seiten.de/gedichte/letzt58.html

(Dieses Gedicht diente bei mir oft dazu, ein paar Wochen später Fritz aus den Ferien einen Brief an Ferdinand schreiben zu lassen, in dem er seinem Freund erneut die Freundschaft anbietet.)

James Krüss: Das Feuer

Hörst du, wie die Flammen flüstern,
Knicken, knacken, krachen, knistern,
Wie das Feuer rauscht und saust,
Brodelt, brutzelt, brennt und braust?

Siehst du, wie die Flammen lecken,
Züngeln und die Zunge blecken,
Wie das Feuer tanzt und zuckt,
Trockne Hölzer schlingt und schluckt?

Riechst du, wie die Flammen rauchen,
Brenzlig, brutzlig, brandig schmauchen,
Wie das Feuer, rot und schwarz,
Duftet, schmeckt nach Pech und Harz?

Fühlst du, wie die Flammen schwärmen,
Glut aushauchen, wohlig wärmen,
Wie das Feuer, flackrig-wild,
Dich in warme Wellen hüllt?

Hörst Du, wie es leiser knackt?
Siehst du, wie es matter flackt?
Riechst du, wie der Rauch verzieht?
Fühlst du, wie die Wärme flieht?

Kleiner wird der Feuerbraus:
Ein letztes Knistern,
Ein feines Flüstern,
Ein schwaches Züngeln,
Ein dünnes Ringeln –

Aus.

Zu Krüss eine Klassenarbeit aus Kl. 5 des Gymnasiums:

Die Gestaltung eines Gedichtes verstehen und elementar beschreiben – eine Schulstunde

Aufgabenstellung:

1. Beschreibe den Aufbau des Gedichtes; beachte dabei, was der Sprecher tut.

2. Das Taktschema der 1. Strophe:

a) Zeichne das Taktschema der 1. Strophe.

b) Wie heißt dieser Takt?

c) Wo sind aufgrund des Taktschemas kleine Pausen beim Sprechen zu machen?

3. Das Taktschema der letzten Strophe:

a) Zeichne das Taktschema der letzten Strophe.

b) Was fällt dir auf, wenn du es mit dem Taktschema der 1. Strophe vergleichst? Wie erklärst du dir den Unterschied?

4. Reime:

a) Wie nennt man die Art des Reimens in den ersten fünf Strophen?

b) Erkläre dort an drei Reimpaaren, welche Beziehung durch den Reim zwischen den Versen gestiftet wird.

5. Zusatzaufgabe (ich weiß nicht, ob ihr dafür noch Zeit habt):

Ganz oft tauchen in diesem Gedicht Stabreime auf.

a) Nenne drei Beispiele dafür.

b) Kannst du beschreiben, wie das stabreimende Sprechen sich anhört (wie es also auf dich wirkt)?

Erläuterungen zu den Versen

4 brodeln: Kochendes Wasser brodelt (wirft Blasen auf).

4 brutzeln: Fleisch brutzelt in einer heißen Pfanne.

6 blecken: sehen lassen (mit „blicken“ verwandt)

9 rauchen: Rauch erzeugen

10 schmauchen: qualmen

Die Adjektive in V. 10 musst du von ihren Ursprungswörtern verstehen.

24 züngeln: (die Bewegung der Zunge machen) auf Flammen u.Ä. übertragen.

Beantworte die Fragen in ganzen Sätzen und nicht so, als ob du mit mir sprächest!

Viel Erfolg (und ein bisschen Freude am Gedicht)!

P.S. Um in den Takt einzuführen, könnte man vielleicht auf Morgensterns Gedicht „Der Tanz“ zurückgreifen; das ist so herrlich sinnlos-sinnvoll, dass aufgeweckte Kinder sicher ihre helle Freude daran haben – leider ist es semantisch ein bisschen anspruchsvoller, man muss einiges erklären, was ich hier getan habe.

Storm: Der eine fragt… Kleiner Lesekurs für Alphabeter

In der von Theodor Hertel besorgten Ausgabe von Storms Werken findet man unter „Sprüche“i zwei kurze Gedichte, die nach der Datierung durch den Herausgeber im Juli 1858 verfasst worden sind. Deren erstes lautet:

Der eine fragt: Was kommt danach?

Der andere fragt nur: Ist es recht?

Und also unterscheidet sich

der Freie von dem Knecht.

Das Verständnis des Sinnspruchs ist umstritten (vgl. die Anmerkung 291 bei Christian Demandt); deshalb wollen wir ihn methodisch exakt lesen, um seinen Sinn jenseits bloßer Vermutungen zu ermitteln. Zugleich sind diese Überlegungen eine Anleitung, einen Text bewusst zu lesen, statt sich auf bloße Assoziationen zu einzelnen Wörtern zu verlassen.

Es ist von zwei Fragen bzw. Fragenden die Rede. Unbestimmt ist zunächst, wann sie wen fragen. Aufgrund ihrer Fragen füllen wir diese erste Leerstelle so: Sie fragen sich selbst, ehe sie etwas tun, was jenseits alltäglicher Routine liegt, weshalb man nachdenkt, wie man handeln soll.

Die Frage „Was kommt danach?“ zielt auf die Folgen der Handlung; sie weist eine weitere Leerstelle auf: Was kommt danach [für mich, oder: überhaupt]? Wie man diese Leerstelle füllt, entscheidet über das Verständnis des Spruchs; wählt man „für mich“, hat man die Frage eines Opportunisten vor sich, der nur auf seinen Vorteil bedacht ist; wählt man „überhaupt“, hört man die Frage eines Menschen, den man im Sinn Max Webers als Verantwortungsethiker bezeichnen könnte, weil er die Folgen seines Handelns für andere bedenkt. Welches die richtige Wahl ist, kann man bis jetzt noch nicht entscheiden.

Die zweite Frage „Ist es recht?“ wird oft missverstanden, weil Leser nicht zwischen dem Substantiv „Recht“ und dem Adjektiv „recht“ unterscheiden. Das Adjektiv „recht“ bedeutet „gerade; richtig; angemessen“ii. Etwas differenzierter steht in Hermann Pauls Wörterbuch: 1) Grundbedeutung „gerade“; 2) richtig (Gegensatz: unrecht und falsch); 3) speziell ist recht, was dem Gesetzen oder Geboten der Sittlichkeit entspricht (Gegensatz „unrecht“, nicht „falsch“); es folgen vier weitere Bedeutungen.iii Wir haben auf Wörterbücher zurückgegriffen, die den Sprachgebrauch Theodor Storms erfassen, da sie wenige Jahrzehnte nach 1858 erschienen sind; gerade die dritte bei Paul genannte Bedeutung von „recht“ kommt hier in Frage – Maßstab des Handelns sind dem Fragenden die Gebote der Sittlichkeit (und nicht die Gesetze des Staates, also das Recht).

Um die Leerstelle in der ersten Frage zu füllen, müssen wir den Kontext dieser Frage beachten, d.h. die Sätze als Text lesen; sie stellt nämlich das Gegenteil der zweiten Frage dar, was sich einmal aus der einschränkenden Partikel „nur“ ergibt, vor allem aber aus dem Gegensatz „der Freie / der Knecht“, denen die beiden Fragen zugeordnet werden – welche die des Freien ist, werden wir später untersuchen. Wenn wir also die beiden Fragen als Gegensätze auffassen müssen, können wir sie so umschreiben: „Egal, was recht ist – was kommt danach“ und „Was ist recht – egal, was danach kommt?“ Weil im Gedicht nur von zwei einzelnen Menschen die Rede ist, wird man die erste Frage so verstehen dürfen: „Was kommt für mich danach, was kommt für mich dabei heraus – egal, was recht ist?“

Auch der erweiterte Kontext des Gedichtes spricht für dieses Verständnis. Ich berufe mich auf ein anderes Gedicht Storms, das er im Oktober 1854 verfasst hat, „Für meine Söhne“. Dort heißt es in der ersten Strophe:

Hehle nimmer mit der Wahrheit!

Bringt sie Leid, nicht bringt sie Reue;

das ist, auf einen besonderen Fall angewandt, die Mahnung, recht zu handeln, ohne auf die Folgen zu achten. Dass der eigene Vorteil nicht der richtige Maßstab des Handelns ist, sagt Storm auch in den beiden letzten Strophen des gleichen Gedichts:

hüte deine Seele

vor dem Karrieremachen und

Halte fest: du hast vom Leben

Doch am Ende nur dich selber.

Das alles sind Lebensregeln im Sinn des Sprichwortes „Tue recht und scheue niemand.“ Dieses Sprichwort gehört zum noch einmal erweiterten Kontext des Gedichts, das zu einem breiten Strom europäischer Ethik und Lebensweisheit gehört, aus dem Sokratesiv, Jesus und andere herausragen.

So bleibt als letzte Frage die, wer von den beiden der Freie und wer der Knecht ist. „Knecht:“ bedeutetv ursprünglich Knabe, Knappe; später steht es im Gegensatz zu „Herr“, wird dann durch „Diener“ verdrängt, ist aber in der Landwirtschaft noch üblich. Anderseits bedeutet „Knecht“ seit alters auch „Unfreier“, leibeigener Knecht, bildlich etwa „der Sünde Knecht“ und dergleichen. Das Wörterbuch und der Gegensatz zu „Freier“ legen nahe, hier ebenfalls die negative metaphorische Bedeutung anzunehmen.

Wir haben also einen doppelten Gegensatz vor uns, dessen Paare durch „also“ (= „so“) einander als gleichartig zugeordnet werden:

der eine: danach? – der andere: recht?

der Freie                  – der Knecht

Rhetorisch könnte man die Zuordnung als Parallelismus lesen, dann wäre der eine der Freie und der andere der Knecht; man kann das Verhältnis der Paare aber auch als Chiasmusvi ansehen, dann ist der eine der Knecht und der andere der Freie.

Die Rhetorik lässt also beide Lesarten zu, so dass man vom Sinn her entscheiden muss, wer der Freie ist: Ist es derjenige, der nach den Maßstäben des Sittengesetzes handelt, oder ist es derjenige, der die Folgen seines Handelns kalkuliert? Kein Zweifel, der andere ist der Freie; der eine ist ein Knecht seines Gewinnstrebens, dem ethische Maßstäbe gleichgültig sind. Wessen Knecht wäre auch derjenige, der sich am Sittengesetz orientiert und dabei Nachteile, vielleicht sogar den Verlust des Lebens wie Sokrates riskiert?

Zweifellos stellt das Gedicht eine Mahnung dar, wie ein Freier statt als Knecht zu leben. Diese Mahnung steht in der großen Tradition europäischer Lebensweisheit: Sie besagt, dass man als Mensch erst frei wird, wenn man sich von der animalischen Sorge um den eigenen Vorteil (Was ist gut für mich?) befreit, den Blick weitet und sich fragt: Was ist richtig? Was ist gut für alle Menschen?

Diese Lesart kann nicht ernsthaft bezweifelt werden, wenn man die methodischen Schritte bedenkt, mit denen wir sie gefunden haben. Solches methodisch kontrollierte Lesen muss geübt werden – wir haben dazu diese Übung angestellt, in der ich reale Verständnisschwierigkeiten aufgegriffen habe (vgl. die Ergebnisse der Suche im Netz unter „Storm: Der eine fragt“!).

Methodisches Fazit:

Wir haben auf den Ebenen der Wörter, der Sätze und des Textes operiert. Um die Bedeutung der Wörter zu ermitteln, haben wir auf Wörterbücher und die grammatischen Kategorieren Adjektiv/Substantiv zurückgegriffen.

Um die Bedeutung der Sätze zu ermitteln, haben wir Leerstellen aufgespürt und gefüllt, außerdem den Zusammenhang der Sätze als Text beachtet. Dabei haben wir auf die Rhetorik zurückgegriffen.

Sinn gibt es auf der Ebene des Satzes, vor allem jedoch des Textes. Um den exakt zu bestimmen, haben wir den Text in seiner Struktur beschrieben und in einen Kontext gestellt – hier in den eines anderen Gedichtes des Autors und in die europäische Tradition der Gattung Sinnsprüche und Lebenslehren.

Zum Kontext gehört auch die Situation, in der ein Text geäußert wird; dazu konnten wir in diesem Fall nichts sagen; die literarische Gattung der Sinnsprüche musste ausreichen, um das sprachliche Handeln der Sprechers zu bestimmen.

i Storms Werke. Herausgegeben von Theodor Hertel. Kritisch durchgesehene und erläuterte Ausgabe. Erster Band. Leipzig und Wien o.J. (Vorwort datiert: Dezember 1918), S. 92

ii Moriz Heyne: Deutsches Wörterbuch, Dritter Band 1895, s.v. „recht“; alte Wörterbücher finden Sie in meinem Blog https://norberto42.wordpress.com aufgelistet und verlinkt.

iii Deutsches Wörterbuch von Hermann Paul, 1897

iv Apologie 28 b. Die Mahnungen der großen Lehrer stellen sich gegen die gängige Praxis: Angesichts der Bestrafung von Klagen „ist es sehr begreiflich, daß die Sclaven, wenn sie hinsichtlich ihrer Lage und des Charakters ihres Herrn befragt werden, fast ohne Ausnahme erwiedern: sie seien zufrieden und hätten einen guten Herrn. (…) Sie verhehlen die Wahrheit lieber, ehe sie die Consequenzen auf sich nehmen, welche aus dem Aussprechen derselben erwachsen können, und geben sich darin als ächte Mitglieder der menschlichen Gesellschaft kund.“ (Frederick Douglass: Sklaverei und Freiheit. Autobiographie, 1860, S. 86)

v Deutsches Wörterbuch von Hermann Paul, 1897; vgl das Zitat in der vorhergehenden Fußnote!

vi Von Chiasmus spricht man, wenn parallele Sätze kreuzweise entgegengesetzt (also in der Fom des griechischen Buchstabens Chi, etwa X) angeordnet sind; der Chiasmus dient vor allem dem Hervorheben von Gegensätzen. Beispiel: „Die Welt ist groß, klein der Verstand.“