W. von Humboldt: Die Sprache als Weltsicht

1836 erschien posthum Wilhelm von Humboldts Schrift „Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwickelung des Menschengeschlechts“ (http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10904366_00005.html oder https://archive.org/stream/bub_gb_dV4SAAAAIAAJ#page/n7/mode/2up). Daraus wird im diesbezüglichen EinFach-Deutsch-Heft über Spracherwerb usw. ein Textauszug mit der Überschrift „Die Sprache als Weltsicht (1830-1835)“ von knapp 45 Zeilen ohne exakte Quellenangabe präsentiert.

Der Gedanke Humboldts beruht darauf,

  1. dass das Wort nicht ein „Abdruck des Gegenstandes an sich“, sondern von dessen Bild in unserer Seele sei,
  2. dass jede Wahrnehmung subjektiv, also an den eigenen Standpunkt gebunden sei,
  3. dass auf eine Sprache die Subjektivität einer Nation einwirke und deren eigentümliche Weltsicht bestimme,
  4. dass wir in einer Welt von Lauten leben, um die Welt der Gegenstände aufzunehmen und zu bearbeiten.

Der Mensch lebe also im Kreis seiner Sprache, aus dem er nur heraustreten könne, wenn er in den Kreis einer anderen Sprache eintritt; das Erlernen einer neuen Sprache sollte demgemäß „die Gewinnung eines neuen Standpunkts in der bisherigen Weltsicht sein“ – zugleich schränkt Humboldt ein, dass dieser Standpunktwechsel nur begrenzt möglich sei, da man sich von der eigenen Sprache resp. Weltsicht nie ganz lösen könne.

Was in dem Auszug nicht klar genug steht: Humboldts Sicht beruht darauf, dass Sprechen die Tätigkeit eines Subjekts ist; dass Wörter und Sätze also nicht einfach etwas in der Welt Vorgefundenes abbilden, sondern dass im Sprechen erst die Welt mit ihren Dingen subjektiv-objektiv konstituiert wird. Er wendet also sozusagen den Gedanken Kants auf die Sprache an, dass der Mensch mit seinen geistigen Kräften das sinnliche Material erst zu Gegenständen bildet – der Begriff der Subjektivität, des schöpferischen Subjekts ist der Kerngedanke solcher Überlegungen.

Würdigung:

Wilhelm von Humboldt wendet hier die Kantische Philosophie auf die Sprache als Werkzeug der Erkenntnis an. Die Pointe dabei ist, dass er einem „Volk“ (Nationalbewusstsein zu Beginn des 19. Jh.!) „eine gleichartige Subjektivität“ wie dem Individuum zusprechen muss, um eine an die (National)Sprache gebundene eigentümliche Weltsicht vertreten zu können.

Diese Annahme ist problematisch, da wir innerhalb der einen Sprache Dialekte und Soziolekte unterscheiden können – und zudem verschiedene Sprachebenen oder -niveaus, die auch an unterschiedliche soziale Schichten gebunden sind (z.B. „verscheiden – sterben – verrecken“; oder „Antlitz – Gesicht – Fresse“). Die Vorstellung der „Subjektivität einer Nation“ ist ein Kind des im frühen 19. Jahrhundert blühenden Nationalbewusstseins, dem wir nicht nur die Sammlung deutscher Volkslieder und Märchen oder die Freiheitskämpfe gegen Napoleon und das Aufkommen der Germanistik verdanken, sondern später auch viele andere üble Dinge…

Die Belege oder Beispiele im Heft EinFach Deutsch, die Humboldts Theorie stützen sollen, sind ohnehin fragwürdig: Ob ein Engländer heute bei „earn money“ noch an das selbständige Wachsen der Früchte bis zur Ernte denkt, darf bezweifelt werden, und auch „Nasenloch“ ist längst ein fester Begriff, also ein einziges Wort geworden – kein Deutscher denkt mehr an ein richtiges Loch, und kein Spanier meint, er habe in der Nase ein Fenster. Solche Bilder verblassen und werden zu schlichten Namen, die so wenig „bedeuten“ wie die Vornamen Norbert („der im Norden Glänzende“) oder Theodor („Geschenk Gottes“), die nur noch eine Person bezeichnen und identifizieren,

Zu Humboldts Theorie: S.J. Schmidt: Denken und Sprechen bei Wilhelm von Humboldt (http://www.gleichsatz.de/b-u-t/trad/humb2.html); O.F. Bollnow: Die Sprache als Weltsicht (http://www.gleichsatz.de/b-u-t/spdk/boll1.html).

Wir wollen zum Schluss dem Herausgeber des EinFach-Deutsch-Heftes unseren Respekt erweisen: Er reduziert knapp 500 Seiten Humboldt auf gut 44 Zeilen. Im Ernst – wieso muss man 45 Zeilen Humboldt (ohne Beschreibung des Kontextes!) lesen (mit zwei unklaren Stellen: Der Satz „Diese Ausdrücke überschreiten auf keine Weise das Maß der einfachen Wahrheit“ ist nicht verständlich, unklar ist auch die Vorstellung „die Gewinnung eines neuen Standpunkts in der bisherigen Weltsicht“; ich verzichte hier auf eine Begründung für meine These der Unklarheit), wenn man das Ganze mit eigenen Worten in 10-20 Zeilen sagen kann? Ob die Schüler durch die Lektüre der Humboldt-Zeilen wohl Anteil an der klassischen deutschen Bildung gewinnen?

 

Gender-Sprache

Auf einem Parteitag der Grünen wurde beschlossen:

Die Partei der Grünen achtet hier schon lange auf sprachliche Genauigkeit und verwendete bei Schriftstücken bislang gegenderte Formen wie das Binnen-I (ÄrztInnen) oder beide Formen (Ärztinnen und Ärzte). Auf ihrem Parteitag haben sie nun beschlossen, dass das nicht genug ist. „Transsexuelle, transgender und intersexuelle Personen würden so unsichtbar gemacht und diskrimiert“, heißt es in dem entsprechenden Antrag, dem der Parteitag am Sonntag mit großer Mehrheit zustimmte. Abhilfe soll das Gendersternchen schaffen – und das funktioniert dann so:

Antrag der Grünen zum Gendern in der Sprache

Im Kommentar dazu schreibt Matthias Kohlmeier in der SZ (online 22.11.2015):

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben zum Beispiel 2008 nachgewiesen, dass Menschen, wenn sie in einem Satz ein vermeintliches generisches Maskulinum lesen, eher zur Schlussfolgerung neigen, es sei auschließlich von Männern und nicht von Personen beiderlei Geschlechts die Rede (eine detaillierte Analyse der Studie hat der Blogger Anatol Stefanowitsch verfasst). Andere Experimente zeigen, das Texte mit geschlechterneutraler Sprache von Probandinnen und Probanden ebenso gut verstanden und erinnert werden wie Texte im generischen Maskulinum.“

Interessant ist hier der zweite Link, der Beitrag A. Stefanowitschs und die darauf folgende Diskussion. – Von Herrn Neitzke bin ich auf zwei Links hingewiesen worden, wo Stefanowitschs Argumente auseinandergenommen werden:
http://sciencefiles.org/2014/02/04/kann-man-so-dumm-sein-teil-ii-generisches-maskulinum-und-wikipedia/
http://sciencefiles.org/2014/03/29/uber-unsinn-kann-man-nicht-diskutieren/

P.S. Ich nenne noch drei Links, zwei informierende und die klare Stellungnahme einer Frau:

https://de.wikipedia.org/wiki/Gender_Gap_%28Linguistik%29 (Das Schild „Radfahrer absteigen“ besagt selbstverständlich, dass auch Frauen absteigen müssen – wer das nicht begreift, ist blöde, und wer es nicht begreifen will, einfach verstockt.)

https://de.wikipedia.org/wiki/Feministische_Linguistik

http://www.welt.de/debatte/kommentare/article113305194/Der-Gender-Krampf-verhunzt-die-deutsche-Sprache.html

Und ganz lustig: http://www.sueddeutsche.de/leben/genderismus-in-flensbug-von-computerinnen-und-papierkoerbinnen-1.3179801

Im Unterricht sprechen, filmen oder spielen?

Es dürfte bekannt sein, dass ich kein Freund nichtsprachlicher Deutung von Texten bin (szenische Darstellung, Verfilmung von Gedichten usw.). In E. M. Langes Buch „Das Verstandene Leben“ (S. 48) finde ich dafür eine sprachtheoretische Begründung:

Wenn man die gesprochene Sprache mit anderen Ausdrucks- und Darstellungsmedien vergleicht – Bildern, Gesten, Tänzen, Musik – dann kann man sich von der Alleinstellung der Sprache als universelles Medium dadurch davon überzeugen, dass man sich erinnert: Wenn in diesen anderen Medien etwas nicht verstanden wird, dann muss zur Erklärung im Allgemeinen und schließlich gesprochen werden, aber nur ausnahmsweise kann man umgekehrt Sprachliches durch Bilder, Gesten, Tänze, Melodien verständlich machen. Das begründet für die Sprache aufgrund ihres alleinigen universellen Charakters (ihrer weitgehenden Selbsterklärungsfähigkeit) auch einen Universalitätsanspruch hinsichtlich des Verstehens/verständlich Machens. Wittgenstein erhebt ihn implizit, wenn er im ersten Absatz von PU Abschnitt 120, wo das zu Erklärung erforderliche sich Bedienen schon der ganzen Sprache an die „Sprache des Alltags“ gebunden wird, schreibt: „Ist diese Sprache etwa zu grob, zu materiell für das, was wir sagen wollen? Und wie wird denn eine andere gebildet ?“ Auch wenn die typographische Hervorhebung ein Missverständnis sein sollte, sachlich besteht sie zurecht (und ist nur eine von zwei Hervorhebungen eines ganzen, selbständig verwendbaren Satzes im gesamten Text der PU). Die Frage ist rhetorisch und verlangt die Antwort: Eine andere Sprache muss gebildet werden, indem ihre Wörter und Verknüpfungsformen in unserer schon gesprochenen Sprache erklärt werden – dann kann sie auch gleich selbst gesprochen werden. Und bezüglich der anderen Medien des Ausdrucks und der Darstellung muss sie im Zweifelsfall gesprochen werden.

Das heißt nicht, dass man nicht spielen und nicht filmen dürfte – es heißt nur, dass dadurch nicht besser als durch Sprechen Bedeutung erfasst würde!