Konzeptionelle Mündlichkeit beim Schreiben – Einführung, Erklärung

Im Kernlehrplan Deutsch für die Sekundarstufe II (NRW) wird unter dem Inhaltsfeld „Sprache“ als Kompetenz beschrieben: Die Schüler können „Veränderungstendenzen der Gegenwartssprache (Migration und Sprachgebrauch, Mehrsprachigkeit, konzeptionelle Mündlichkeit beim Schreiben, Medieneinflüsse) erklären“.

Was ist konzeptionelle Mündlichkeit beim Schreiben? Eine erste Erklärung des Phänomens, dass man so schreibt, wie man sonst spricht, bieten

http://www.uni-regensburg.de/sprache-literatur-kultur/germanistik-did/medien/ha_homepage.pdf (S. 2-6)

http://textlinguistik.pbworks.com/f/Muendlichkeit%20Schriftlichkeit.ppt (gute Einführung)

http://www.stefan.rabanus.com/forschung/internet/node39.html#SECTION00721000000000000000 (knapp – aus: Die Sprache der Internetkommunikation = http://www.stefan.rabanus.com/forschung/internet/vers_14.html)

http://cornelia.siteware.ch/linguistik/muendlschriftl.html (etwas ausführlicher)

Detaillierter und zum Teil an speziellen Fragestellungen orientiert sind

http://home.uni-leipzig.de/siebenh/kurse/SS08/v_sprachliche_variation_08/07_sprachliche_variation.pdf

http://www.linse.uni-due.de/tl_files/PDFs/ESEL/Tabea_Denter_Passiv.pdf (dort S. 15-23: Mündlichkeit und Schriftlichkeit)

http://www.guido-nottbusch.de/doc/DGfS2010_Nix_Nottbusch.pdf (Mediale und konzeptionelle Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit. Der Einfluss medial schriftlicher Internetkommunikation auf die Textproduktion in der Schule – übersichtlich, anschaulich)

https://www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/fileadmin/Redaktion/Institute/RomanischesSeminar/Romanistik_IV/frzmed_Duerscheid_MuendSchrKont.pdf (Medienkommunikation im Kontinuum von Mündlichkeit und Schriftlichkeit)

http://kups.ub.uni-koeln.de/5150/1/Knopp2013-Mediale_Raeume_.pdf (Dissertation M. Knopps: Mediale Räume zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Zur Theorie und Empirie sprachlicher Handlungsformen)

Märchenanalyse: Die drei kleinen Schweinchen

Das folgende Arbeitsblatt soll dazu helfen, das Textverständnis des Märchens „Die drei kleinen Schweinchen“ (https://norberto42.wordpress.com/2014/10/22/die-drei-kleinen-schweinchen-ein-marchen/) zu überprüfen bzw. zu sichern.

Die drei kleinen Schweinchen – Textverständnis

Die Überschrift besagt, dass du ein Märchen vor dir hast. Sage in einem Satz, was du dir unter einem Märchen vorstellst:

Lies den Text und bearbeite danach die folgenden Aufgaben – kreuze jeweils die richtige Antwort an:

  1. Es geht in dem Märchen im Wesentlichen darum,

( ) dass Fremde den armen Schweinchen helfen

( ) dass sie die Gefährdung durch den Wolf abwehren

( ) dass sie endlich zu Hause ausziehen.

  1. Die drei kleinen Schweinchen

( ) waren Geschwister

( ) waren Freunde

( ) hatten sich zufällig getroffen.

  1. Ihre erste Aufgabe besteht darin,

( ) das Elternhaus zu verlassen

( ) sich einen Mann zu suchen

( ) ein Haus zu bauen.

  1. Das dritte Schweinchen baut ein Haus aus Ziegelsteinen,

( ) weil es zufällig den Mann mit den Steinen getroffen hat

( ) weil es mehr als die anderen vom Bauen versteht

( ) weil es in seiner Gegend kein Holz gibt.

  1. Den ersten Angriff des Wolfes (ab Z. 42) überleben die drei Schweinchen

( ) durch ihre Flucht

( ) durch die Festigkeit ihres Hauses

( ) sowohl durch die Flucht als auch durch die Festigkeit des Steinhauses.

  1. Der letzte Angriff des Wolfes (ab Z. 73) wird abgewehrt

( ) durch das dritte Schweinchen

( ) durch alle drei Schweinchen

( ) durch einen Zauberer.

Nenne drei Elemente dieser Erzählung, die typisch für ein Märchen sind:

  1. _______________________________________________________________________________
  1. _______________________________________________________________________________
  1. _______________________________________________________________________________

Analyse theoretischer Texte


Analyse theoretischer Texte

Vier grundlegende Aspekte

Es gibt verschiedene Arten von Texten und viele Möglichkeiten, sie einzuteilen. Eine in Schule und Wissenschaft häufig gebrauchte Sorte sind die theoretischen Texte. In theoretischen Texten wird keine offenbarte Wahrheit verkündet (wie in religiösen Urkunden), wird nicht zu einem Handeln angeleitet (wie in einem Kochrezept), wird nicht bloß eine Information vermittelt (wie in einer Zeitungsnachricht). In ihnen wird vielmehr argumentiert.

Wie wird theoretisch argumentiert? Und wie kann man eine Argumentation analysieren? Analysieren heißt: sprachlich-gedankliche Operationen von außen rekonstruieren, nicht Inhalte vom Standpunkt des Autors aus reproduzieren! Es gibt vier wesentliche Aspekte, die man beachten muss, wenn man theoretische Texte analysieren und sich mit ihnen angemessen auseinandersetzen will. Diese Aspekte umschreibe ich mit folgenden Stichworten:
* das Prinzip von Frage und Antwort;
* das Bild des Gedankengangs;
* die Theorie des sprachlichen Handelns;
* das Problem der Kommunikation zwischen Autor und Leser.

Man versteht normalerweise eine Äußerung, wenn man die Situation (sowie das Verhältnis der Personen, eventuell noch den Tonfall) kennt, in der sie gemacht wird. Wenn jemand auf dem Bahnsteig sagt: „Hier zieht es“, dann bedeutet das wahrscheinlich: „Ich fühle mich nicht wohl; hoffentlich kommt bald der Zug.“ Wenn man dagegen in einem Zimmer die gleiche Äußerung macht, bedeutet sie vermutlich: „Schließe bitte die Tür!“ Die Situation ist der Rahmen, in dem eine Äußerung ihre Bedeutung hat.

Theoretische Texte dagegen scheinen ort- und zeitlos, also nicht an eine bestimmte Gesprächssituation gebunden zu sein; man findet sie meistens in schriftlicher Form vor, als Aufsatz oder Buch. In dieser Form sind sie „immer“ zugänglich; sie werden nicht in die Situation eines bestimmten Lesers geäußert. Sie haben jedoch einen Rahmen, und zwar die im Gespräch der Fachleute behandelten Fragen („die Fachliteratur“); manchmal beziehen sie sich auf einen konkreten Gesprächsbeitrag. Ein theoretischer Text ist die Antwort auf eine (mögliche) Frage der Leser, ein Beitrag zum Gespräch der Fachleute. Das Prinzip ist auch in der arabischen Spruchweisheit bekannt: „Wer klug zu fragen versteht, wird zu wissen bekommen.“ „Die Frage“ ist also das, was beim normalen Gespräch die Situation ist: Rahmen einer Äußerung, der ausmacht, worauf jene abzielt, was jene also bedeutet. Von einer Frage ausgehen – das ist der Kern eines theoretischen Textes; dessen Frage „sehen“ oder mithören – das ist Bedingung, um einen theortischen Text wirklich zu verstehen. [Übrigens sollen auch in einem Bericht die sechs W-Fragen beantwortet werden!]

Selbst um philosophische Texte zu verstehen ist es wichtig, das Prinzip von Frage und Antwort anzuwenden. So erzählt Sokrates am Ende des platonischen Dialogs „Gorgias“ den Mythos vom Totengericht; dieses wurde von Zeus eingerichtet, um wirklich wahre Urteile über die Menschen zu finden, damit die Bösen in den Tartaros und die Guten auf die Inseln der Seligen kommen (Kap. 79 ff.). Wenn man nun diesen Mythos als Antwort auf die Frage liest: „Was lehrte Platon über den Tod?“ (oder „Was lehrte Sokrates?“), hat man ihn gründlich missverstanden. Im Kontext sagt Sokrates, welche Fragen er mit diesem Mythos beantworten will: „Wieso darf man niemals Unrecht tun? Wieso muss man eher Unrecht erleiden als verüben?“ Dazu erklärt der Mythos: Dies muss man tun, weil die Seele des Menschen durch seine Taten geformt wird und weil die Wahrheit über einen jeden letztlich erkennbar ist. Platon hat natürlich nicht gemeint, dass es ein Totengericht gibt.

Der zweite Aspekt zum Verständnis theoretischer Texte ergibt sich aus der Einsicht, dass man seinen Fragen auf die richtige Weise oder auf dem richtigen Weg nachgehen muss, wenn man wahre Antworten erhalten will. Bereits Parmenides hat den „Weg des Forschens“ gekannt. „Wer sich vornimmt, auf verständige Weise die Untersuchung durchzuführen, der wird auch auf verständige Weise zur richtigen Lösung kommen.“ So zitiert der Spanier Petrus Alfonsi im 11. Jahrhundert einen nicht näher genannten Philosophen (Disciplina clericalis, II. Exempel); damit zeigt er, dass die Idee des Weges im ganzen europäischen Raum bekannt ist. Methode heißt das Stichwort hierzu: auf dem richtigen Weg vorgehen, um wahre Antworten zu finden. (Der Weg des Gedankens, der Gedankengang, zeigt sich im Aubau bzw. der Struktur des Textes, vgl. diesen Aufsatz! Man folgt zuschauend dem Autor auf seinem Weg = versteht den Aufbau des Textes.)

Das Symbol des Weges ist, wie Bruno Snell gezeigt hat, von Anfang an mit der Erfahrung verbunden, dass Erkenntnis schrittweise gewonnen wird. Schrittweise, das heißt, dass Erkenntnisse von einer Generation zur anderen korrigiert und erweitert werden: „Die Götter haben den Menschen durchaus nicht gleich am Anfang alles enthüllt, sondern im Lauf der Zeit suchen und finden sie Besseres hinzu.“ (Xenophanes, DK 21 B 18) Dann bedeutet es, dass auch der einzelne Mensch seine Erkenntnisse nicht auf einmal gewinnt, und vor allem, dass sie anderen in einem Gedankengang entfaltet werden müssen. In einem theoretischen Text sollte ein sorgfältig konzipierter Gedankengang Schritt für Schritt gemacht werden. Sprechakte, nämlich sprachlich-logische Handlungen des Argumentierens und Prüfens stellen die einzelnen Schritte dar – der dritte Aspekt; die verschiedenen Schritte zum Ziel müssen als eine geordnete Abfolge zusammenhängen. Damit ist die argumentative Seite theoretischer Texte zunächst umschrieben.

Die Argumentation erfolgt nun im Hinblick auf „alle möglichen“ Leser mitsamt ihren Interessen, ihren Kenntnissen und ihren Einwänden – der vierte Aspekt. Hier gibt es viele Probleme, die gerade ein Lehrer beachten muss: Seine Schüler kennen in der Regel nicht den Stand der wissenschaftlichen Diskussion, sollen aber an ihn herangeführt werden. Ein guter Autor stellt sich übrigens auf solche Leser ein; er wird im Text die Fragestellung, die er behandelt, nennen und so auch weniger fachkundige Leser ansprechen (in der Schule liest man leider meist nur Textauszüge, in denen oft die Frage nicht direkt zu erkennen ist – dann müsste der Lehrer fairerweise den Kontext des Auszugs beschreiben, oder man muss sich die Frage aus der Antwort, also dem Text selber erschließen). Außerdem gehört es zur intellektuellen Fairness, sich mit möglichen Einwänden auseinanderzusetzen.

Was es heißt, die vier genannten Aspekte zu beachten, möchte ich an einem Aphorismus Nietzsches zeigen: „Wer viel zu tun hat, behält im Allgemeinen seine Ansichten und Standpunkte fast unverändert bei. Ebenso jeder, der im Dienst einer Idee arbeitet; er wird die Idee selber nie mehr prüfen, dazu hat er keine Zeit mehr; ja es geht gegen sein Interesse, sie überhaupt noch für diskutierbar zu halten.“ (Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Nr. 511) Was sagt Nietzsche hier? Worauf will er hinaus? Ich nenne zwei mögliche Fragen:
1. Ist es gut, dass wir so viel arbeiten?
2. Warum sind gerade Erwachsene geistig oft unbeweglich?
Vermutlich sind Sie mit mir der Meinung, dass die zweite Frage diejenige ist, welche den Text Nietzsches besser erschließt. [In diesem Zusammenhang wäre zu prüfen, mit welcher Sicherheit man als Leser die richtige Fragestellung jeweils finden kann.] Wenn man diese Frage nicht sieht oder spürt und nach der zweiten Lektüre nicht formulieren kann, versteht man den Text nicht.

Warum also sind Erwachsene, unsere Mitmenschen, oft so unbeweglich? Ausgangspunkt Nietzsches ist die Feststellung, dass es so ist. Da dies für ihn verwunderlich ist, taucht die Frage auf: Warum ist das so? Nietzsche sucht also Gründe für die Tatsache, dass viele an Überzeugungen festhalten, obwohl diese leicht als falsch zu erkennen wären. Er findet zwei Tatsachen, die er als Gründe des fraglichen Sachverhaltes ansieht: 1. Menschen haben oft viel zu tun. [Diese Beobachtung entfaltet er nicht mehr zum Argument; es ist ja bekannt, dass Leute keine Zeit und wenig Lust zum Nachdenken haben, wenn sie viel zu tun haben.] 2. Es gibt eine Reihe von Leuten, die im Dienst einer Idee arbeiten, als Funktionäre oder Begünstigte einer Partei, einer Kirche, eines Verbandes oder Betriebs und so weiter. Diese haben wie die erste Gruppe wenig Zeit zum Nachdenken; sie haben aber zusätzlich kein Interesse daran, „ihre“ Idee für diskutierbar zu halten. [Hier bricht Nietzsche seine Begründung ab. Die logische Abrundung des Arguments ist offensichtlich: Wer die Idee, in deren Dienst er arbeitet und wovon er folglich lebt, für diskutierbar hält, gefährdet seinen Arbeitsplatz und seinen Lebensunterhalt; niemand sägt ohne Not den Ast ab, auf dem er sitzt. Dies nicht zu tun ist sprichwörtlich verfestigt: „Wess’ Brot ich ess, dess’ Lied ich sing.“] Damit ist Nietzsche am Ziel angelangt: Er hat zwei Gründe dafür gefunden, dass Menschen oft geistig unbeweglich sind; den zweiten Grund hat er noch teilweise entfaltet. Mit seinen Argumenten knüpft Nietzsche offenbar an Erfahrungen seiner Leser an; er setzt voraus, dass sie ebenso wie er von dieser Frage beunruhigt werden. Er traut ihnen auch zu, die Gedanken selbständig abschließen zu können; Widerspruch erwartet er nicht.

Wenn ein theoretischer Text in diesen vier Aspekten erfasst ist, kann man sich argumentativ mit ihm auseinandersetzen. Die Hauptfragen könnten dabei sein: Ist die Ausgangsfrage richtig gestellt? Knüpft der Autor an den Stand der Forschung an? Wie lautet die Antwort? Liegt ein zusammenhängender Gedankengang vor, so dass die Antwort begründet ist? Welche Einwände gegen seine Antwort hat der Autor berücksichtigt? Sind seine Argumente schlüssig?

Wir sind jetzt am Ende unseres Gedankengangs angekommen. Als Frage der Leser habe ich vorausgesetzt: „Wie kann man theoretische Texte verstehen und analysieren?“ Diese Frage habe ich beantwortet, indem ich vier Aspekte unterschieden habe; dabei habe ich Beispiele verwendet und einige Vor-Denker als Autoritäten zitiert. Ist das Ziel erreicht worden? Oder können Sie argumentativ zeigen, dass die genannten vier Aspekte falsch oder unvollständig sind?

Norbert Tholen

 

Es folgen zwei Arbeitsblätter, in denen für Schüler der Sekundarstufe II die vorhergehenden Überlegungen „praktikabel“ dargestellt sind.

Analyse theoretischer Texte

Ein Text ist ein Medium der Kommunikation zwischen Menschen. Wenn man den medialen Ort wahrgenommen hat, kann man bei der Analyse theoretischer Texte vier oder fünf Aspekte unterscheiden:
1. die Analyse von Frage und Antwort (Problem-Analyse):
Der Autor versucht im Gespräch mit anderen ein bestimmtes Problem zu lösen, eine Frage zu beantworten. Zu bestimmen und zu benennen sind also (als Frage – Antwort): das Problem und seine Lösung.
2. die „methodische“ Analyse:
Der Autor kommt in einem Gedankengang zur Antwort auf die Frage.
Zu beschreiben sind also der Ausgangspunkt (Voraussetzungen), die Gedankenschritte (auch um Einwände herum), das Ziel (Ergebnis) des Gedankengangs. „Gedankengang“ ist eine Metapher, Methode ist Wege-Kunde.
3. die Analyse der leitenden Sprechweisen (Sprechakt-Analyse):
Der Autor handelt, indem er für Leser etwas schreibt: Er
* stellt etwas dar (beschreibt) zum Wahrnehmen;
* erklärt etwas zum Verstehen;
* bewertet etwas zum Beurteilen;
* fordert auf zum Handeln.
Diese vier elementaren Sprechweisen muss man kennen und exakt unterscheiden, wenn man sich begibt an
4. die Analyse der Argumentation („dia-logische“ Analyse):
Bei dieser Analyse erfasst man den einzelnen Gedankenschritt; der Autor trägt (hoffentlich!) Gedanken vor, die er in Auseinandersetzung mit anderen vertritt und die einer Überprüfung standhalten sollen. Die wichtigsten Begriffe, in denen diese Auseinandersetzung erfasst wird, sind (nach Stärke der Argumentation sowie den Aspekten pro/contra geordnet):
* etwas behaupten – bestreiten (Position beziehen);
* etwas begründen – entkräften (argumentieren);
* etwas beweisen – widerlegen (stark, gültig argumentieren).
5. die Analyse der Vermittlung („didaktische“ Analyse):
Der Autor hilft meistens dem Leser, ihm auf seinem Gedankengang zu folgen; er gliedert seine Überlegungen, gibt einen Überblick über das Ganze, kündigt spätere Gedanken an, verweist auf bereits Gesagtes zurück, leitet zum nächsten Punkt über, fasst Ergebnisse zusammen; er macht etwas durch Beispiele anschaulich und macht Scherze, um den Leser nicht zu ermüden.

 

Zur Analyse expositorischer Texte

kommt man vom Verständnis theoretischer Texte, wenn man Folgendes bedenkt: Expositorische Texte haben einen mehr oder weniger großen theoretischen Anteil, aber darüber hinaus einen pragmatischen. Zusätzlich zu dem, was bei der Analyse theoretischer Texte zu beachten ist, sind folgende Gesichtspunkte von Bedeutung:

1. die Bestimmung der Textsorte
Es ist also die Situation zu beachten, in welcher der Text verwendet wird. Damit ist der wichtigste Unterschied zum theoretischen Text angedeutet: Expositorische Texte werden zu praktischen Zwecken verwendet. Wenn man sich in einem Medium gut auskennt, kann einem auch der mediale Ort etwas über den Text „sagen“: Der Klappentext eines Buches ist und leistet eben etwas anderes als der Aufmacher in der Wochenzeitung DIE ZEIT.

2. die Analyse des Versuchs, Einfluss zu nehmen (rhetorisch-taktische Analyse)
Der Autor geht auf den Leser oft nicht wie auf einen Unwissenden zu, dem etwas erklärt werden muss, sondern auf jemand, den er für seine Sache durch geschicktes Reden gewinnen will. Außerdem dauert eine logisch zwingende Argumentation lange, ist schwierig oder sogar unmöglich. So wird häufig versucht, den Leser mit verschiedenen Mitteln, die manchmal ans Überreden oder Überrumpeln grenzen, zu überzeugen. Hier wäre alles das zu beachten, was man bei der Analyse politischer Reden lernt: bildhafte Sprache, Einbeziehung des Lesers („wir“), eindringliche Appelle, Verwendung wertender Wörter; Kontrastbetonung oder -abschwächung, unzulässige Verallgemeinerung und so weiter, vgl. auch https://norberto68.wordpress.com/2011/02/13/bewerten-aufwerten-abwerten-sprachliche-mittel/!

3. die Analyse der Ausschmückung (rhetorisch-stilistische Analyse)
Der Autor gestaltet seinen Text, schmückt seine Rede beziehungsweise „Schreibe“ aus – oft zwar, um taktisch die Leser bzw. Hörer für seine Position zu gewinnen (siehe 2.!), meist jedoch aus reiner Freude am sprachlichen Spielen. Die rhetorischen Stilmittel werden gesondert im Unterricht behandelt. Eine Übersicht bieten:
Poetik in Stichworten. Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe. Eine Einführung von Ivo Braak . 1990 (7. Auflage), S. 41 ff.
oder https://norberto68.wordpress.com/2011/02/13/rhetorische-figuren/!
Eine primär stilistische Analyse ist eine andere Form der Textanalyse, die bei literarischen Texten angewendet wird.

Hier endet der Beitrag, der ursprünglich (etwa seit 2000?) auf der Homepage meiner früheren Schule (FMG) gestanden hat und den ich „gerettet“ (und leicht überarbeitet) habe. – Ich habe die Analyse theoretischer bzw. expositorischer Texte im Unterricht immer wieder zu erklären versucht, vgl. die beiden folgenden Links:

https://norberto68.wordpress.com/2011/02/13/theoretische-texte-analysieren-textanalyse-1/

https://norberto68.wordpress.com/2011/02/13/sachtexte-und-theoretische-texte-analysieren-textanalyse-2/

Rainer Erlinger: Lizenz zum Töten – Analyse eines Sachtextes (Beispiel)

Erlinger:Lizenz zum Töten

Erlinger:Lizenz zum Töten

[Bevor man die Analyse zu schreiben beginnt, sollte man bemerkt haben, 1. dass das Thema wie meistens in Zeitungsartikeln im Untertitel steht, 2. was das Bild vom Dammbruch in Holland leistet (Absatz 1 und 11) und 3. dass eine Opposition den Gedankengang bestimmt: Der Streit in Deutschland geht ums Prinzip (4), Rainer Erlinger geht es jedoch um die Realität (9).] Die Zahlen sind die Nummern der Absätze.

Erlinger fragt in seinem Aufsatz aus der SZ vom 17. April 2001, was das (damals) neue niederländische Gesetz für Deutschland bedeutet; er sieht darin eine Rechtssicherheit gegeben, die in Deutschland fehle. Dabei zeigt er, was der Streit um Prinzipien und Begriffe leistet: Es werde zwar eine Gewissensentscheidung ermöglicht (5 ff.), die aber für das tägliche Zusammenleben nicht ausreiche und durch Rechtssicherheit ergänzt werden müsse (9 ff.).
Der Autor berichtet zunächst, dass das neue niederländische Gesetz in Deutschland als Bedrohung („Dammbruch“) empfunden (1) und deshalb zunächst fast einhellig abgelehnt wird (2). In (3) erklärt Erlinger, was an diesem Gesetz wirklich neu ist: Es bestätige nur eine Praxis, die in NL schon bestehe, als rechtens.
Absatz (4) ist ein zentraler Absatz: Erlinger erklärt juristisch, was das neue Gesetz besagt: Trotz des prinzipiellen Verbots der Tötung auf Verlangen bleibt diese „unter bestimmten Voraussetzungen straffrei“; dann bewertet er diese Bestimmung als „nur scheinbar“ neu, weil nur „nur bei entsprechend angepassten Definitionen“ aktive Sterbehilfe in Deutschland verboten bleibe. Diese Behauptung begründet er in (5) – (8).
Dem normalen Sprachgebrauch („aktive – passive Sterbehilfe“, an der Unterscheidung „Tun – Unterlassen“ orientiert, 5) stellt er die juristisch eigenwillige, weil der katholischen Theologie entnommene (8) Unterscheidung von „vorsätzlicher – unbeabsichter, aber in Kauf genommener Tötung“ (6 f.) entgegen; Erlinger berichtet, dass nur die beabsichtige Tötung strafbar ist, aber nicht die bei Leidensminderung als Nebenwirkung in Kauf genommene Tötung.
Danach beschreibt Erlinger die deutsche Rechtslage (9) und ihre Folgen (10 ff.), um so dafür zu plädieren, durch ein Gesetz auch in Deutschland Rechtssicherheit zu schaffen (14 – 16). Der klaren Rechtslage stellt er zunächst die nicht voraussehbare „Rechtsauffassung des zuständigen Gerichts“ (9) gegenüber und zeigt, was diese unklare Rechtssituation für Betroffene bedeuten kann: jahrelange Prozesse wegen vorsätzlicher Tötung (10). Erlinger bewertet dann die eingangs erwähnte Angst vor dem Dammbruch als realitätsfremd, weil es den Damm gar nicht gebe, und die Auffassung der Richters Klaus Kutzner von der in seltenen Ausnahmesituationen möglichen gezielten Tötung (11) als realitätsfremd (12 f.).
In (14) – (16) wägt Erlinger ab, was angesichts eines Problems zu tun sei, das keiner lösen wolle; er selber plädiert dafür, bei aller rechtlichen Problematik nicht dem Einzelnen „das Risiko der Rechtsfindung“ (14) aufzubürden, trotz der deutschen Geschichte auch dem handelnden Individuum gerecht zu werden (15) und für Rechtssicherheit zu sorgen (16), da es ohne diese auch keine Gerechtigkeit gebe – ohne dass man deswegen das niederländische Gesetz einfach übernehmen müsse.

(11) bis (14) als Argument formuliert:
P1 Die Notwendigkeit, in Extremsituationen einen unheilbar Kranken Menschen straffrei zu töten, wird von kompetenten Juristen als Sonderfall gedacht.
P2 In Wahrheit stehen Ärzte dagegen oft in diesen vermeintlichen Ausnahmesituationen. (13)
Z zu P2: Es ist ihnen nicht zuzumuten, ständig in diesem rechtsfreien Raum zu entscheiden.
F Daher sollte der Gesetzgeber durch ein neues Gesetz hier Rechtssicherheit für die Ärzte und Angehörigen schaffen. (vgl. 10)

Zur Technik der Analyse: Ich habe Passagen, in denen ich größere Zusammenhänge dargestellt habe, fett und kursiv geschrieben, damit ihr sie leichter als solche erkennt. Sie gehören natürlich normal geschrieben in den normalen Text.

Was sind Sinnabschnitte eines Textes?

„Ein inhaltlich abgeschlossener Teil eines Textes bildet einen Sinnabschnitt. Meistens besteht er aus einem oder mehreren Absätzen. In Sachtexten enthalten Sinnabschnitte jeweils einen neuen Sachverhalt. In erzählenden Texten beginnt ein neuer Sinnabschnitt dann, wenn eine neue Person eingeführt wird, der Ort wechselt oder sich die Handlung ändert. Das Bilden von Sinnabschnitten hilft dir beim Verstehen, Zusammenfassen und Wiedergeben von Texten.“ (Klar|text 9, Westermann, S. 285)

Ich teile diese Erklärung von „Sinnabschnitt“ in Sinnabschnitte und diskutiere sie einzeln:

1. „Ein inhaltlich abgeschlossener Teil eines Textes bildet einen Sinnabschnitt. Meistens besteht er aus einem oder mehreren Absätzen.“ Inhaltlich abgeschlossen ist vermutlich erst der ganze Text. Zweitens ist es problematisch, einen Text von seinem „Inhalt“ statt vom Thema oder vom Sprecher her verstehen zu wollen: Was besagt schon „Inhalt“? Die Unterscheidung von Abschnitt und Absatz ist immerhin lobenswert.

2. „In Sachtexten enthalten Sinnabschnitte jeweils einen neuen Sachverhalt.“ Erstens weiß kein Schüler exakt, was ein Sachverhalt ist; zweitens enthält vermutlich jeder Satz einen Sachverhalt; drittens ist das offenkundig Unsinn – in einem Lexikonartikel „Frankreich“ bilden zum Beispiel die Darstellung des Klimas, der Geschichte, der Musik Frankreichs Sinnabschnitte, aber sie werden doch nicht in jeweils bloß einem Satz dargestellt (und umfassen auch mehr als einen Sachverhalt!). Man könnte eher die Behandlung eines Aspekts des Themas einen Sinnabschnitt nennen: bei einem Lexikonartikel zum Beispiel – aber auch bei einem Beschwerdebrief?

3. „In erzählenden Texten beginnt ein neuer Sinnabschnitt dann, wenn eine neue Person eingeführt wird, der Ort wechselt oder sich die Handlung ändert.“ Über diese drei Angaben könnte man streiten, wenn sie sachlich oder für einen Schüler klar wären: „alle meine Bekannten und Kameraden“ in Eichendorffs „Aus dem Leben eines Taugenichts“ (RUB 2354, S. 5. Z. 25 f.), sind das neue Personen? Ist die Kammerjungfer dort (S. 8, Z. 7) oder der Gärtner (S. 8, Z. 21) eine neue Person neben dem Jemand in Staatskleidern? Wechselt der Ort, als der Taugenichts aus dem Dorf hinausschlendert (S. 5, Z. 25 f.)?  Oder als er ins freie Feld kommt (S. 5, Z. 34)? Die Handlung ändert sich sicher, als der Reisewagen kommt (S. 6, Z. 17 f.); aber ändert sie sich auch mit der Ankunft im Schloss (S. 7, Z. 23)? Ein neuer Sinnabschnitt beginnt sicher mit dem Satz: „In dem Garten war schön leben …“ (S. 8, Z. 34) – aber da ändert sich nicht „die Handlung“, sondern der Erzähler beschreibt jetzt allgemein, wie der Taugenichts im Schloss lebt – und dies ist der Fakt: „allgemein beschreiben“ ist eine sprachliche Handlung des Erzählers, die man mit den Kategorien des Sprach-Lesebuchs nicht in den Griff bekommt. Ohne den Begriff des Sprechaktes kann man Texte nicht angemessen erfassen! (Vgl. https://norberto68.wordpress.com/2011/02/14/sprechakte-sprachliches-handeln/ und „sprachliches Handeln“ bei den Schlagwörtern, oben rechts!)

4. „Das Bilden von Sinnabschnitten hilft dir beim Verstehen, Zusammenfassen und Wiedergeben von Texten.“ Erstens bildet der Schüler nicht die Sinnabschnitte, sondern er erkennt höchstens vorhandene Sinnabschnitte. Zweitens kann man „Zusammenfassen und Wiedergeben“ nicht gleichberechtigt neben Verstehen stellen. Und drittens darf man bezweifeln, ob derart unklar bestimmte Sinnabschnitte wirklich einem Schüler helfen. Ich zitiere eine Stimme aus dem Internet:

Hallo.

wir haben als Hausaufgaben auf, einen Text in Sinn abschnitte zu teilen & für jeden Abschnitt eine Überschrift zu finden. Mein Problem ist, – ich weiß nicht wann ein Sinn abschnitt anfängt, bzw. er zu Ende ist. Wo ran kann ich Sinn abschnitte erkennen? (http://www.gutefrage.net/frage/sinnabschnitte-wie)

Wenn man sieht, wie schwer selbst teachsam sich mit den Sinnabschnitten tut, könnte man auch auf die Idee kommen, das Problem läge beim Konzept der Sinnabschnitte, nicht bei teachsam oder dem armen Schüler mit seiner guten Frage: http://www.teachsam.de/arb/arb_tinh_auf_0.htm (vgl. http://www.teachsam.de/arb/arb_tinh_auf_1.htm): „Sinnabschnitte beziehen sich stets hauptsächlich auf den Inhalt eines Textes. Es geht also dabei im Allgemeinen nicht darum aufzuzeigen, wie sich die Aussagen eines Textes zu einer Argumentation fügen. In diesem Sinne will man bei der Einteilung des Textes in Sinnabschnitte also den Gedankengang eines Textes nicht darstellen. Sinnabschnitte geben also nur das Nacheinander und das Zueinandergehören von inhaltlichen Gesichtspunkten in einem Text wieder.“ Ja – aber was macht denn einen Text aus? Besteht ein Text wirklich aus dem Nacheinander von inhaltlichen Gesichtspunkten, ist „Sinn“ = Summe der Inhalte? Nein! Das geht auch direkt aus der restriktiven Einschätzung bei teachsam („nur das Nacheinander und das Zueinandergehören von inhaltlichen Gesichtspunkten“) hervor. Vgl. auch https://norberto68.wordpress.com/2011/01/12/text-koharenz-thema/

Es drängt sich mir der Verdacht auf, dass Sinnabschnitte erfunden wurden, um von Schülern eine „Zusammenfassung des Textes“ verlangen zu können und den nicht direkt greifbaren Sinn aus einer Addition von Inhaltsbruchstücken zu konstruieren. Von den Sinnabschnitten selber gelten dann anscheinend drei Gesetze: 1. Ein Sinnabschnitt (wie kann man vom Sinn ein Viertel abschneiden?) ist ein Abschnitt im Text. 2. Wo ein Sinnabschnitt beginnt oder endet, bestimmt der Lehrer. 3. Ob man die richtige Überschrift findet, ist Glückssache. – Zumindest bei Sachtexten sollte man eigentlich erwarten, dass ein Absatz den Beginn eines neuen Sinnabschnitts markiert; wenn dem nicht so ist, zeigt das m.E. vor allem, dass der Begriff des Sinnabschnitts problematisch ist (oder dass der Verfasser des Textes nicht klar gedacht hat).

Zur Korrektur des Sprach-Lesebuchs Klar|text 9 hier die Liste der Fachschaft Deutsch eines Gymnasiums:

Um einen Text zusammenzufassen, müsst ihr den Aufbau des Textes herausarbeiten und ihn in so genannte Sinnabschnitte gliedern. Den Beginn eines solchen Sinnabschnittes erkennt man häufig an folgenden Merkmalen:

* Eine neue Handlung setzt ein

* Ein Gespräch beginnt oder endet

* Der Ort der Handlung wechselt

* Figuren kommen hinzu oder entfernen sich

* Ein Zeitsprung wird gemacht

Das ist so klar an der Aufgabenstellung einer „Zusammenfassung“ von Erzähltexten und Dramen orientiert, dass die unterrichtspraktische Herkunft der „Sinnabschnitte“ [bei Dramen würde man einfach sagen: Es beginnt eine neue Szene!] offenliegt – in fachwissenschaftlichen Wörterbüchern sucht man das Stichwort vergebens. Denn was tut man mit Texten, in denen keine neue Handlung einsetzt, kein Gespräch beginnt oder endet, der Ort der Handlung nicht wechselt (weil es ihn z.B. nicht gibt) und auch keine Figuren hinzukommen oder sich entfernen? (Ich würde mich stark machen, auch die hilflose Anleitung der digitalen Schule Bayern zu zerpflücken.) Erfunden wurden die Sinnabschnitte, um den Schülern beim Verstehen zu helfen, aber praktisch dienen sie dazu, die Schüler zu verwirren und dem Lehrer einen Maßstab zur Punkteverteilung zu liefern („fünf von sieben Sinnabschnitten richtig erkannt“). Das ganze Konzept der Sinnabschnitte ist fragwürdig (weil Sinn nicht abschnittweise inhaltlich linear hergestellt wird, sondern sich aus der Bewegung des Denkens und Sprechens insgesamt ergibt), wie man Erzählungen ja auch nicht mit der simplen Konstruktion von Handlungsschritten erfassen kann – das merkt man aber erst, wenn man sich darauf einlässt, selber sein eigenes Konzept kritisch zu erproben.

Richtig am Verfahren, Sinnabschnitte zu  bilden, ist jedoch die Idee, dass man sich Rechenschaft von dem, was man liest, geben soll; dass man seine eigene Einteilung eines Textes in Sinnabschnitte mit der anderer Leser vergleichen und unterschiedliche Lösungen diskutieren sollte; dass man sich bemühen muss, die Struktur des Textes oder den Sinn hinter der Abfolge von Wörtern und Sätzen zu finden. Wie das gehen kann, ist nach wie vor eine offene Frage und bei der Vielfalt von Texten vermutlich nicht durch ein einziges Verfahren zu leisten. Hier muss man auf das zurückgreifen, was man zur Textanalyse wissen kann (siehe die Tags oben rechts!) und was ich exemplarisch u.a. an der Untersuchung des Aufbaus von Gedichten durchgespielt habe.

Beispiel/Übung: Lies die folgende Fabel zweimal und schreibe sie dann ab; teile sie dabei in Sinnabschnitte ein, bei denen du jeweils einen neuen Absatz beginnst!

Der Löwe und die Maus

Eines Tages, als ein Löwe in der Savanne im Gras schlief, lief eine kleine Maus auf dem Kopf des Löwen herum. Der Löwe erwachte mit lautem Gebrüll und schnappte die winzige Maus mit seiner Pfote. Das große Tier wollte gerade seinen Rachen öffnen, um sie zu verschlucken, als diese voller Angst piepste: „Entschuldige bitte, mein König, ich wollte Euch nicht stören. Ich bitte Euch, Majestät, mir nur dieses eine Mal zu vergeben. Wenn Ihr mein Leben verschont, werde ich Euch eines Tages auch einmal helfen.“ Der Löwe begann zu lachen und lachte und lachte. „Wie kann eine winzige Maus jemals irgendetwas tun, um mir zu helfen? Na gut“, meinte er dann achselzuckend und betrachtete die ängstliche Maus, „du bist sowieso nur eine halbe Portion“, und ließ die Maus frei, die schnell davonlief. Nach einiger Zeit geschah es, dass Jäger im Grasland Fallen aufstellten. Der Löwe, der auf der Suche nach Futter war, geriet in das Netz. Er brüllte laut und versuchte, sich zu befreien. Die kleine Maus hörte das Brüllen des Löwen und erinnerte sich an ihr Versprechen. So schnell sie konnte, lief sie hin, um zu sehen, was sie tun könne. Als sie den Löwen entdeckte, rief sie ihm zu: „Warte, ich werde dich aus dieser Falle befreien!“ Mit ihren scharfen kleinen Zähnen nagte sie an den Maschen des Netzes, so dass ein großes Loch entstand. Als der Löwe herausgekrabbelt und frei war, sagte er glücklich: „Danke, liebe kleine Maus. Du hast mir geholfen, auch wenn du nur sehr klein bist.“ (nach https://media.sodis.de/open/melt/ab2_fabelloeweundmaus_sw.pdf, leicht überarbeitet)

Zur Lösung: In der Vorlage gibt es sechs Sinnabschnitte; ich habe nur vier Sinnabschnitte gefunden bzw. gemacht (habe die letzten drei der Vorlage als einen einzigen zusammengefasst). Es gibt also durchaus sinnvolle Lösungen (die ersten drei Abschnitte), aber auch problematische Lösungen (die letzten drei Absätze in der Vorlage). Gib dir Rechenschaft darüber, warum du einen neuen Absatz anfängst bzw. warum der Erzähler einen neuen Absatz gemacht hat! (Meine Lösung: https://norberto42.wordpress.com/2015/03/11/der-lowe-und-die-maus-fabel/) In Hans Lammersen: Lernzirkel Deutsch: Inhaltsangabe, AOL Verlag 2016, ist dieser Text übernommen und wieder in sechs Sinnabschnitte eingeteilt worden (S. 36), aber anders als in meiner Vorlage. Was ergibt sich aus der Tatsache, dass drei Autoren drei verschiedene Lösungen bei der Einteilung dieser Fabel in Sinnabschnitte anbieten?

Kleines P.S.: In der Vorlage gerät der Löwe im Urwald in die Falle – das ist natürlich Quatsch, weil Löwen nicht im Urwald leben.

2. Beispiel/Übung: Lasse dir von jemandem das Märchen vom Wolf und den sieben jungen Geißlein diktieren (in meiner überarbeiteten Fassung), zuerst einmal zum Hören, beim zweiten Mal zum Schreiben (Satz für Satz); beginne an den Stellen, wo ein neuer Sinnabschnitt anfängt, einen neuen Absatz. Vergleiche dann deine Lösung mit meiner und gib dir Rechenschaft, warum wir jeweils einen neuen Absatz begonnen haben; wenn du ähnliche Übungen öfter machst, wirst du sprachliche Signale kennenlernen, mit denen solche Übergänge markiert sind. – Meinen zweiten Absatz könnte man noch unterteilen, d.h. man könnte aus ihm drei kleine Absätze machen; daran siehst du, wie man über Sinnabschnitte streiten kann.

3. Beispiel/Übung: Lasse dir von jemandem das Märchen von Strohhalm, Kohle und Bohne diktieren, zuerst einmal zum Hören, beim zweiten Mal zum Schreiben (Satz für Satz); beginne an den Stellen, wo ein neuer Sinnabschnitt anfängt, einen neuen Absatz. Vergleiche dann deine Lösung mit meiner und gib dir Rechenschaft, warum wir jeweils einen neuen Absatz begonnen haben. – Zur Lösung: Man kann durchaus auch nur vier Sinnabschnitte bilden, und zwar (in meiner Lösung) die Absätze 1, 2-4, 5-6 und 7-8 (oder z.B. 1, 2-4, 5, 6, 7, 8). Auch hier sieht man, wie problematisch der Begriff des Sinnabschnittes ist – offenbar gibt es stärkere und schwächere Einschnitte (Staustufen) im Fluss des Erzählens; weniger als vier Absätze/Sinnabschnitte zu bilden halte ich aber nicht für angemessen.

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Am 22. Mai 2016, dem Fest der heiligen Renata, eingeschobener Nachtrag :

„Spätestens seit Ende der Sechziger ist der Begriff der Emanzipation die Monstranz in der Prozession aller rechtgläubigen Pädagogen und Soziologen. In schulischen Richtlinien findet er sich bei der Formulierung von Erziehungszielen unangefochten auf den oberen Rängen. Daß er mit der Heilsbringermentalität eines pädagogischen Gesalbten unvereinbar ist, wird dabei regelmäßig übersehen. Von höherer Weisheit getrieben und ausgestattet mit den Werkzeugen ausgeklügelter Didaktik und Methodik, sind wir Lehrer nämlich eher geneigt, zu konditionieren als loszulassen, zu bearbeiten als arbeiten zu lassen, zu belehren als lernen zu lassen. Dazu zwei Beispiele.“ (http://www.zeit.de/1997/13/Die_Dressur_stolzer_Horden) Das ist der Anfang eines Aufsatzes unter der Überschrift „Die Dressur stolzer Horden. Laßt doch den Flegeln ihren Lauf! Zwischenruf eines genervten Schulleiters“, der 1997 in der ZEIT erschienen ist. An diesem Absatz kann man vielleicht zeigen, was die Rede vom Sinnabschnitt ausdrücken soll.

Zuerst habe ich nach Jahren – ich kenne den Text seit langem und habe ihn öfter in Kl. 10/11 zum Erörtern freigegeben – den Text folgendermaßen ‚gegliedert’: „Spätestens seit Ende der Sechziger ist der Begriff der Emanzipation die Monstranz in der Prozession aller rechtgläubigen Pädagogen und Soziologen. In schulischen Richtlinien findet er sich bei der Formulierung von Erziehungszielen unangefochten auf den oberen Rängen. Daß er mit der Heilsbringermentalität eines pädagogischen Gesalbten unvereinbar ist, wird dabei regelmäßig übersehen. / Von höherer Weisheit getrieben und ausgestattet mit den Werkzeugen ausgeklügelter Didaktik und Methodik, sind wir Lehrer nämlich eher geneigt, zu konditionieren als loszulassen, zu bearbeiten als arbeiten zu lassen, zu belehren als lernen zu lassen. / Dazu zwei Beispiele.“ Den Schlusssatz abzutrennen halte ich für unproblematisch; denn er leitet zum folgendem Text über („Erste Szene…“). Die ersten drei Sätze habe ich dabei unter dem Aspekt „religiöse Metaphern zur Abwertung pädagogischer Ziele“ zusammengefasst. Das scheitert jedoch daran, dass dann unklar ist, wer der pädagogische Gesalbte sein soll. Zweitens scheitert diese Einteilung am Adverb „nämlich“ im vorletzten Satz; denn dieser Satz hat bei meinem ersten Verständnis keine begründende Funktion: Wieso machen die Lehrer denn etwas falsch (belehren statt lernen lassen usw.)?

Die Lösung der Rätsel ergibt sich bei folgender Einteilung: „Spätestens seit Ende der Sechziger ist der Begriff der Emanzipation die Monstranz in der Prozession aller rechtgläubigen Pädagogen und Soziologen. In schulischen Richtlinien findet er sich bei der Formulierung von Erziehungszielen unangefochten auf den oberen Rängen. / Daß er mit der Heilsbringermentalität eines pädagogischen Gesalbten unvereinbar ist, wird dabei regelmäßig übersehen. Von höherer Weisheit getrieben und ausgestattet mit den Werkzeugen ausgeklügelter Didaktik und Methodik, sind wir Lehrer nämlich eher geneigt, zu konditionieren als loszulassen, zu bearbeiten als arbeiten zu lassen, zu belehren als lernen zu lassen. / Dazu zwei Beispiele.“ Dann zeichnet die „Heilsbringermentalität eines pädagogischen Gesalbten“ den normalen („guten“) Lehrer aus, der eben das Wesentliche falsch macht; dessen Mentalität ist jedoch mit der von den „fortschrittlichen“ Lehrern propagierten „Emanzipation“ der Schüler nicht vereinbar. – Diese Gliederung war wegen des Wechsels vom Singular (des pädagogischen Gesalbten) zum Plural „wir Lehrer“ nicht leicht zu erkennen; sie ist jedoch die einzig mögliche, die einen Gedankengang ergibt – den Widerspruch zwischen der allüberall gelobten Emanzipation und dem Selbstbewusstsein der pädagogisch (belehrend) agierenden Lehrer.

So, und jetzt kommt die Preisfrage: Soll man sagen, dieser Absatz bestehe aus drei Sinnabschnitten? Ich meine, man sagte besser, er bestehe aus drei Gedankenschritten oder zwei Gedanken und einer überleitenden Floskel: „Dazu zwei Beispiele“ möchte ich als isolierte Floskel keinen Sinnabschnitt nennen; anderseits gehört sie nicht mehr zum vorhergehenden Gedanken.

P.S. Die Analyse des Hauptarguments Mahlmanns dafür, dass Schüler nach Beendigung der Schulpflicht, also in der Sek. II frei über ihren Schulbesuch entscheiden sollen, findet man in dem Aufsatz https://norberto68.wordpress.com/2011/02/13/aufsatzunterricht-gliedern-erklaren-bewerten-erortern-kl-8-10-im-g9/, dort unter „Erörtern“ (also gegen Ende).

Im 2., 3. und 5. Absatz seines Aufsatzes führt Mahlmann Begriffe aus der Ökonomie ein (Angebot, Nachfrage, Kunden, Dienstleistungen, anbieten, kostet), ebenso im 8. Absatz (-angebot, Service, Bedürfnisse); im 6. und 9. Absatz werden juristisch-politische Begriffe verwendet: Recht, Pflicht, Aufgabe des Staates, Würde und Rechte des Individuums. Mit den ökonomischen Begriffen will er den Schulbesuch für die Zeit regeln, wenn der Schulpflicht Genüge getan ist. Solange der Schulbesuch Pflicht ist, müsse er kontrolliert werden; wenn er nicht mehr Pflicht ist, solle man ihn nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage regeln.

[Das ist übrigens nur in Grenzen möglich oder richtig: Schüler müssten sich dann ihre Lehrer auswählen (und unliebsame oder Flaschen abwählen) können; gute Lehrer müssten ihr Können über den Preis des Schulbesuchs vermarkten können, wenn die bei ihnen erzielten Leistungen auch einen Marktwert hätten und eine Flaschen-Zwei nicht gleich der ehrlich erzielten Zwei wäre!]

P.S. Noch ein Beispiel, wie problematisch eine Einteilung in Sinnabschnitte ist, liegt bei der Analyse von Schillers Gedicht „Der Spaziergang“ vor, wo verschiedene hochkarätige Fachleute zu unterschiedlichen Lösungen kommen: Einige gehen rein inhaltlich vor, Ziolkowski und ich beachten auch formale Aspekte des Sprechens (Sprechakte).

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Wenn man zusammenfasst, was sich zum Thema Sinnabschnitt bisher ergeben hat, könnte man sagen: Ein Sinnabschnitt ist ein Erzählschritt (in Erzähltexten) oder ein Gedankenschritt (in argumentierenden Texten), wobei beide Begriffe Metaphern aus dem Bildbereich des Weges bzw. des Gehens, also nicht exakt bestimmt sind.

Offen bleibt jedoch, ob man die Größe Sinnabschnitt oberhalb (wie bei den Erzählungen) oder unterhalb der Ebene der Absätze (wie hier bei Mahlmanns Aufsatz) ansetzen soll; erst wenn das geklärt = entschieden wäre, könnte man versuchen, den Begriff Sinnabschnitt weiter zu präzisieren.

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Großes P.S. Wer sich tiefer mit dem Problem der Sinnabschnitte befasst, erkennt, dass dahinter die Frage steht, wie ein Text strukturiert ist bzw. wie das Thema entfaltet wird. Der Begriff der Sinnabschnitte unterstellt (fälschlich), dass man mit dem Begriff Sinn aus der Umgangssprache die Einheit des Textes i.W. inhaltlich oder formal-schematisch erfassen könnte – ein Irrtum: Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie ein Thema entfaltet werden kann. Ich verweise auf einige kleine Aufsätze von mir, wo man das nachlesen kann:

https://norberto68.wordpress.com/2011/02/13/textbegriff-textlinguistik-gedichte-als-texte-verstehen/ (Textbegriff…)

https://norberto68.wordpress.com/2011/01/12/text-koharenz-thema/ (Text, Kohärenz, Thema) – bereits oben verlinkt

https://norberto68.wordpress.com/2011/02/13/text-thema-koharenz-textanalyse-3/ (Text – Thema – Kohärenz)

Sprachliches Handeln / Sprechakte

Sprachliches Handeln – eine kurze Einführung (zugleich Skizze eines planmäßigen Unterrichtens im Analysieren und Verfassen von Sachtexten, früher „Aufsatzunterricht“ genannt)

Was sich kompliziert anhört, ist in Wirklichkeit einfach – und wir kennen es alle: Wenn der Lehrer zu Anja sagt: „Anja, du bist eine tüchtige Rechnerin.“, dann hat er Anja gelobt. Dass er mit seiner Äußerung Anja lobt, ist sein sprachliches Handeln (Sprechakt) in diesem Moment. Solche sprachlichen Handlungen durchziehen den ganzen Tag unser Leben: Wir begrüßen einander, erzählen Witze zur Unterhaltung, beschweren uns, fragen und antworten, vertrösten Bittsteller und trösten die traurige Freundin …

Es gibt nun einige Akte sprachlichen Handelns, die wir nicht immer genau bezeichnen, die aber im Leben wie im Deutschunterricht eine so große Rolle spielen, dass wir die Begriffe ganz exakt fassen müssen (s. rechte Spalte):

Was steht an?          Was will (soll) der Hörer?        Was tut der Sprecher?

1. Daten                               etwas wissen                            mitteilen

2. eine Abfolge                   etwas wissen                            berichten

zusammenhängender

Ereignisse                        unterhalten werden                       erzählen

3. eine Menge

von Phänomenen;                sich vorstellen                         beschreiben

ein Einzelding

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4. Problem, un-                     verstehen                                   erklären

bekannte Zusammenhänge

5. Stellungnahme             bejahen / ablehnen                        bewerten

6. eine Handlung              etwas leisten, tun               [auf]fordern (bitten, werben)

7. eine Maßnahme                  mitmachen                             vorschlagen

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8. „Streit“, Unklarheit         überzeugt werden                  argumentieren, erörtern

Widersprüche

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Es werden hier einzelne Handlungen des Sprechers identifiziert – nur grundsätzlich, versteht sich: Man kann auch durch Drohungen jemanden zum Mitmachen bewegen. – Aus dem Hörer wird der Sprecher, wenn die Gesprächsrollen wechseln.

Es geht darum, verschiedene sprachliche Handlungen (des „Sprechers“) als solche zu begreifen; dazu wird aufgeführt, worauf diese Handlung beim Hörer hinauslaufen soll, was ihr Ziel ist. Und zu Beginn wird gesagt, was ansteht, worum es „inhaltlich“ geht.

Die Handlungen des Berichtens, Erzählens und Beschreibens sollten bis Klasse 7 richtig eingeübt sein, die anderen teilweise; um das Training des Erklärens, Bewertens usw. geht es in den folgenden Jahren; ferner muss das Vergleichen und das Sortieren (gliedern) geübt werden, und den krönenden Abschluss bilden das Argumentieren und Erörtern.

Christa Heilmann hat (in dem Sammmelband „Einführung in die Sprechwissenschaft“, hrgs. von Heinz Finkowski u.a., Leipzig 3. Auflage 1982, S. 158 ff.) unter der Überschrift „Denk-Sprech-Vorgang“ folgende Sprachverwendungarten in der Äußerung unterschieden:

  • Erzählen (mündliche Wiedergabe eines einmaligen Ereignisses, Vorfalls oder Geschehens)
  • Berichten (über einen einmaligen, selbstbeobachteten Vorgang; wahr, konkret und geordnet)
  • Beschreiben (auf wiederholbare Vorgänge, Gegenstände und Zustände gerichtet; deren wichtigste Eigenschaften und Merkmale herausarbeiten)
  • Beurteilen (bewertende Einschätzung eines Sachverhalts oder einer Leistung nach wesentlichen Merkmalen)
  • Definieren (alle wesnetlichen Merkmale und seiten eines Begriffs sprachlich dicht und dennoch eindeutig erfassen)
  • Referieren (vermittelnde Informierung von dem Hörer/Leser nicht zugänglichen Dokumenten oder Texten)
  • Kommentieren (Ursachen, Beziehungen und historische Zusammenhänge von Ereignissen oder Sachverhalten präsentieren)

P. S. Eine interessante Seite zur Gesprächsanalyse ist übrigens https://www.tu-chemnitz.de/phil/ifgk/germanistik/gf/; man kann sich als Gast anmelden und dann im Programm arbeiten.

Hubert Markl: Lernziel Mitmensch – Sachtextanalyse (Beispiel)

Wissen wir eigentlich, was die 1-Kind-1/2-Eltern-O-Großeltern-Schrumpffamilie für die Sozialentwicklung des Menschen bedeutet?

Lernziel Mitmensch

(1) Kultur im weitesten Sinne ist all das, was man von Artgenossen lernen muß, um (5) gut überleben und in einer Gemeinschaft bestehen zu können. Einfache Formen solcher Kultur, die durch Lerntradition weitergegeben werden, existierten schon lange vor dem Auftreten des Menschen. Vogelgesänge können solche Traditionen sein, aber auch viele generationenübergreifende Erfahrungen über Nahrungs- oder Wasserquellen, über Wanderwege oder Feinde. Doch was weiß die Nachtigall schon (10) von der Kunst der Fuge? So unscheinbar uns die kulturellen Leistungen von Tieren auch erscheinen mögen: Unsere eigene Kulturfähigkeit baut auf solchen Lerntraditionen auf.

(2)  Es ist wichtig zu erkennen, daß auch viele Tiere unfertig zur Welt kommen und unterweisungsbedürftig sind, damit sie ihr Leben meistern können. Am auffälligsten (15) ist dies bei Menschenaffen. Es hat die Biologen überrascht, daß ein im Zoo aufgewachsener Schimpanse keineswegs „von Natur aus“ weiß, wenn man ihn in die Wildnis zurückversetzt, was schmackhaft und bekömmlich ist, was Verdauungsbeschwerden verursacht oder welche Pflanzen und Tiere lebensgefährlich sein könnten. Biologen müssen ihnen – zum Beispiel durch nicht (20) immer angenehmes Vorkauen – mühselig beibringen, was sie in der natürlichen Gemeinschaft von Mutter, Geschwistern oder Gefährten gelernt hätten. Fast erstaunlicher noch war die Feststellung, daß manche Säugetiere sich nicht einmal paaren oder richtig mit den eigenen Neugeborenen umgehen können, geschweige denn ihren Platz in einer sozialen Gemeinschaft finden, wenn sie dies nicht von (25) Artgenossen erlernt haben. Isoliert von artgemäßer Sozialerfahrung, können sie selbst unter liebevoller menschlicher Obhut zu Verhaltenskrüppeln werden, zu Spottgeschöpfen fehlgebildeter Vermenschlichung.

(3)  All dies sollten wir berücksichtigen bei Überlegungen, wie junge Menschen am besten zu normalen Mitgliedern unserer Gesellschaft heranwachsen könnten. Zwar (30) fehlt es selten an Anweisungen, etwa was gut zu essen oder besser zu vermeiden sei (aber dennoch luxuriert die Süßigkeitenindustrie). Und Aufklärungsmissionare unterweisen bereits Zwölfjährige, mit welchen Techniken HIV-Ansteckung oder Empfängnis abzuwenden ist, oft bevor die Heranwachsenden den Sinn geschlechtlicher Zuwendung begreifen lernen. Aber es lohnt, darüber (35) nachzudenken, was es für die Entwicklung der Mitmenschlichkeit von Jugendlichen bedeutet:

(4)  1. wenn sie zum Beispiel als Einzelkinder heranwachsen, vielleicht auch noch in mehrfach zersplitterten Surrogatelternbeziehungen herumgestoßen werden, ohne die seit Jahrhunderttausenden für Menschen selbstverständliche Erfahrung engen (40) Umgangs mit vielen Geschwistern und Verwandten; 2. wenn sie als Kinder niemals Gelegenheit hatten, ein Neugeborenes in den Arm zu nehmen oder zu betreuen; 3. wenn sie niemals tagtäglich, jahraus, jahrein mit alten, gebrechlich werdenden Menschen zusammengelebt haben; 4. wenn sie selbst noch nie erlebt haben, wie Menschen sich ins Sterben fügen und wie ein Leben verlöscht. Solche (45) Erfahrungen waren früher für fast alle Menschen geradezu unvermeidlich, so daß man kaum über ihre Bedeutung für das normale Heranwachsen nachdenken mußte. Wissen wir eigentlich, was die 1-Kind-1/2-Eltern-0-Großeltern-Schrumpffamilie für die menschliche Entwicklung mit sich bringt?

(5)  Vielleicht wäre es ganz gut, auch diese Perspektive der Sozialentwicklung des (50) „modernen Menschen“ mitzubedenken, wenn heute zunehmend gefordert wird, daß jeder junge Mann und jede junge Frau ein Jahr lang zusammen mit anderen gemeinnützige Aufgaben erfüllen sollten. Allenthalben fehlen Kräfte, um Mütter bei der Betreuung ihrer Kinder zu unterstützen, um gefährdete Jugendliche nicht sich selbst zu überlassen, Behinderten zu helfen oder Alten und Kranken jene (55) Zuwendung zu geben, die ihr Leben trostloser Vereinsamung entreißt. Sollte Hilfe in diesen Bereichen nicht genauso gemeindienlich sein, wie ein Dienst zur Landesverteidigung, für UN-Friedenscorpseinsätze, für Krankenpflege oder für Schutz- und Pflegedienste zugunsten von Natur und Umwelt? Sollten all diese Aufgaben nicht für Jungen und Mädchen Herausforderungen zum sozialen (60) Erwachsenwerden sein?

(6)  Wir lernen nicht für die Schule, sondern für das Leben. Richtig. Aber wir lernen nicht nur durch die Schule, sondern auch durch das Leben, vor allem durch das Leben in der ganzen Wirklichkeit menschlicher Gemeinschaft. Vorgelebte. Beispiele und eigenes Tun lehren sozial verantwortliches Handeln viel einprägsamer als der (65) beste Ethikunterricht. Wenn junge Menschen nach zwölf Jahren überwiegend theoretischer Unterweisung in einem dreizehnten Jahr aktiv geübter Menschlichkeit auch ihren Charakter weiter zu entwickeln lernten – wäre das nicht eine überzeugendere Prüfung menschlicher Reife als bisher?

(7)  Wir werden zwar alle als Menschen geboren. Doch Mitmenschen zu werden, das (70) müssen wir erst mühsam lernen.

Hubert Markl (in: DIE ZEIT Nr. 43 vom 22. Oktober 1993, S. 44)

Erläuterungen (für eine Klassenarbeit in Klasse 10)

In der Wochenzeit „DIE ZEIT“ wurde alle zwei Wochen (unter der Überschrift „Die zwei Kulturen“) eine Glosse veröffentlicht, in der abwechselnd ein Naturwissenschaftler und ein Soziologe ein vermutlich frei gewähltes Thema von aktueller Bedeutung kommentierten. Die Absätze werden hier durch fette Ziffern gezählt, die Zeilen des Ursprungstextes durch in den Text eingeschobene Zahlen.

Erläuterungen zu Zeile

10 Fuge: mehrstimmiges Musikstück, in dem ein Thema variiert wird;

25 isolieren: absondern, trennen;

26 Verhaltenskrüppel (Metapher): Normalerweise spricht man bei  körperlicher  Missbildung von einem Krüppel, hier bei Störungen im Verhalten;

31 luxurieren: üppig wachsen;

32 Aufklärungsmissionare: Missionare widmen ihr Leben der Verbreitung des (christlichen) Glaubens.

38 mehrfach zersplittert: Hier spielt der Autor auf Ehescheidungen und deren Begleitumstände an (neue Partner).

38 Surrogat: Ersatzmittel, Behelf;

49 Perspektive: Sicht, Blickwinkel;

52 Hier endet das erste Argument; es folgen zwei weitere.

57 ff. Wehrdienst, Zivildienst etc. sind bereits eingeführte soziale Dienste.

57 Friedenscorps: Truppe, die im Auftrag der UN militärisch den Frieden sichern soll;

61 Zitat des lat. Sprichwortes: Non scholae, sed vitae discimus.

65 Ethik: Lehre vom richtigen (guten) Leben; Ethik ist ein Teil der Philosophie, ist in manchen Bundesländern als eigenes Fach für die Schüler eingerichtet, die sich vom Religionsunterricht abmelden bzw. nicht getauft sind.

68 Reife: Spiel mit den Bedeutungen von „Reife“ (Abitur als „Reifeprüfung“ – menschliche Reife).

1. Methode: Argumentationsansatz, – gang und -strategie bestimmen

Der Argumentationsansatz besteht in der These, dass humaner Umgang erlernt werden muss; dieser Ansatz wird durch Rückgriff auf Analogien aus dem Tierreich in (Absatz 1) und (2) sowie durch das Wortspiel mit einem lateinischen Sprichwort (Z. 61 ff.) gestützt. In seiner Argumentation geht Markl dann so vor, dass er gerade für die Gegenwart

a) Defizite in der Möglichkeit der Jugendlichen, humanen Umgang zu erlernen (4),

b) und Defizite bei der Hilfe für Bedürftige aufzeigt (Z. 52 ff.);

c) dass er auf bereits bestehende, allgemein akzeptierte Modelle ähnlicher Art hinweist (Z. 55 ff.).

Worin die Argumentationsstrategie besteht, ist schwer zu sagen; vielleicht wird man sie in dem Schritt vom Tierreich zum Menschen als Schluss a minore ad maius erkennen. Sicher gehört es zu Markls Strategie, seine Forderung nach Einführung eines Sozialen Jahrs nicht direkt zu stellen, sondern in rhetorische Fragen zu verpacken (Ende des 4., 5. und 6.Absatzes) und die Defizite in der Sozialentwicklung äußerst negativ zu bewerten (z.B. Schrumpffamilie).

(Der Vorteil dieser Methode liegt darin, dass im Abitur tatsächlich ähnliche Aufgaben gestellt worden sind, dass also eine entsprechende Aufgabenstellung zu bearbeiten vorbereitet wird; der Nachteil liegt darin, dass die Begriffe Argumentationsansatz, -gang und -strategie nicht streng definiert sind; für den beurteilenden Lehrer kann dies ein Vorteil, aber auch ein Nachteil sein. – Letztlich liegt hier eine Sparversion der 2. Möglichkeit vor.)

2. Methode: die Sprechakte Markls fortlaufend beschreiben

In seinem Kommentar „Lernziel Mitmensch“ (DIE ZEIT vom 22.10.1993) fordert Hubert Markl mehr oder weniger direkt, ein soziales Jahr für Jugendliche  einzuführen (Z. 50 ff.; 66 f.), und begründet diesen Vorschlag mit den Defiziten in der sozialen Entwicklung junger Menschen heute.

Markl leitet seine Überlegungen mit einer Definition von Kultur (Z. 4 f.) ein, die grundsätzlich auf Lernen bzw. auf Tradition beruhe (Abs. 1); dass dies so ist, zeigt er vor allem an Beispielen aus dem Tierreich (Abs. 1 und 2; vgl. „auch“ Z. 13). Später sagt er ausdrücklich (Z. 11 f.; 28 ff.), dass auch die Menschen ihre Kultur von den Vorfahren durch Lernen übernehmen (müssen).

An seine theoretisch-erklärende Einleitung knüpft er mit der Frage, „wie junge Menschen am besten zu normalen Mitgliedern unserer Gesellschaft heranwachsen könnten“ (Z. 28 f.), an; die Antwort auf diese Frage bildet den Hauptteil seiner Überlegungen.

Zunächst erklärt er mit teilweise recht deutlicher Bewertung, wieso heutige soziale Erziehung weithin ungenügend ist: Sie beschränke sich auf Anweisungen und – teilweise verfrühte – Unterweisungen (Z. 30 und 32, insgesamt Abs. 3) und vermittele aufgrund des Zustands der Familien nicht die notwendigen „Erfahrungen“ (Z. 45, insgesamt Abs. 4). Er macht sich dann (indirekt) die Forderung zu eigen, junge Erwachsene sollten ein Soziales Jahr ableisten; er begründet diese Forderung nicht nur mit den in (4) genannten Erfahrungsdefiziten (Z. 47 f.), sondern auch mit weiteren Gründen (Abs. 5: Hilfe sei nötig; sie sei genauso sinnvoll wie ähnliche Leistungen), und bewertet die Einführung des Sozialen Jahrs als Chance „zum sozialen Erwachsenwerden“ (Z. 59 f. vs. Z. 49 f.). Zum Schluss des Hauptgedankens begründet er die in (5) vorgetragene Forderung damit, dass durch praktisches Tun verantwortliches Handeln „einprägsamer“ (Z. 64) als im theoretischen Unterricht gelernt werde (Abs. 6), womit er indirekt auch auf die in (3) genannten Mängel anspielt.

Zum Schluss schreibt Markl eine Sentenz, die auf der Unterscheidung biologischen Menschseins von humaner Menschlichkeit beruht, welche gelernt werden müsse (Abs. 7); mit dieser allgemein gehaltenen Sentenz begründet er im weiteren Sinn seine Forderung, die bereits in der Überschrift „Lernziel Mitmensch“ mit dem aus der Unterrichtstheorie entlehnten Begriff „Lernziel“ angedeutet ist.

(Es wäre nicht schwer, diese Kurzanalyse sowohl logisch wie auch rhetorisch zu differenzieren und zu vertiefen. Es geht hier darum, zu zeigen, was Markl insgesamt begründen will und in welchen Schritten er sein Ziel zu erreichen sucht. Ein Vorteil dieser Art der Analyse liegt darin, dass beschreibende, erklärende und bewertende Aussagen als solche erfasst und von Forderungen unterschieden werden, dass also ein Abiturstandard gewährleistet ist. – Mit dieser Technik der Analyse überfordert man Schüler der Sekundarstufe I in der Regel; dort setzt man besser die 3. Möglichkeit ein.)

3. Methode: die Argumente Markls in Satzform erfassen

Markl  fordert, dass alle Jugendlichen in Deutschland ein soziales Jahr ableisten (Z. 82 f.).

Das erste seiner drei Argumente lautet folgendermaßen:

P1 Kultur ist das, was man von seinen Artgenossen lernen muss, um in einer Gemeinschaft bestehen zu können (Z. 4 f.). [P=Prämisse]

Z zu P1: Dies gilt bereits für die Tiere, auf deren Lernbedürfnis das unsere aufbaut (Z. 5 ff.).

P2 Derzeit gibt es in Deutschland große Defizite in der Weitergabe sozialer Fähigkeiten (Z. 37 ff.).

Z zu P2: Diese Mängel können nicht dadurch beseitigt werden, dass man Anweisungen gibt (Z. 30 ff.). [Der kursiv gesetzte Satz Z=Zusatz könnte auch zur Folgerung F gezogen werden.]

F Also ist es berechtigt, ein soziales Jahr einzuführen, um die Defizite durch die praktische Arbeit auszugleichen (Z. 49 ff.). [Statt F=Folgerung kann man auch K=Konklusio sagen/schreiben.]

Das zweite Argument geht vom Mangel an Arbeitskräften in Pflegeberufen aus:

P1 Es fehlen Arbeitskräfte im sozialen Bereich (Z. 52 ff.).

P2 Ein soziales Jahr ist aber ebenso gut (gemeindienlich) wie der Einsatz in der Bundeswehr oder bei verschiedenen Schutz- und Pflegediensten (Z. 55 ff.).

F Also ist es sinnvoll, den Mangel an sozial Tätigen durch Jugendliche auszugleichen.

Das dritte Argument berührt wieder das erste (menschlich reif werden):

P1 Bis zum Abitur geht man 13 Jahre zur Schule, um „die Reife“ zu erlangen.

P2 Durch das Leben lernt man aber besser als durch die Theorie, wie man sozial verantwortlich handelt (Z. 61 ff.), nämlich durch Vorbilder und durch eigenes Tun.

F Also ist es sinnvoll, nach dem theoretischen Schulunterricht ein praktisches soziales Jahr zu absolvieren, damit menschliche Reife erworben werden kann (6. Absatz).

[P2 müsste eigentlich differenziert entfaltet werden, etwa in einem Zusatz zu P2 („durch Vorbilder“ in einen Zusatz stecken, dagegen „durch eigenes Tun“ in P2 belassen.] Der Vorteil dieser Möglichkeit, Argumente in Satzform zu formulieren, besteht darin, dass man ziemlich genau feststellen kann, ob jemand die Argumentation wirklich erfasst hat; dass man ferner einzelne Sätze prüfen kann, also die Prämissen und Zusätze, und dann man anschließend die Logik des Folgerns prüft, also den Übergang von den Prämissen zu F. – Die hier skizzierte Lösung nebst der folgenden Erörterung ist das Ergebnis von Untersuchungen in mehreren 10. Klassen.)

Es folgen paradigmatisch Überlegungen zu Erörterung:

Einwände gegen die drei Argumente:

Beim ersten (zu P2) erhebt sich das Bedenken, dass die Defizite vielleicht nicht so groß sind, wie Markl  behauptet; wenn sie aber wirklich groß sind, können sie nicht in einem Jahr beseitigt werden – erst recht wenn vermutlich viele Jugendliche dieses Jahr nur als lästige Pflicht ableisten (zu F); durch den Dienst bei der Bundeswehr wächst ja auch in der Regel nicht die Liebe zum Vaterland. Die Frage ist also, ob das Ziel wirklich auf diesem Weg erreicht werden kann; vielleicht sind freiwillige soziale Dienste (etwa im Krankenhaus oder Altenheim) mindestens so effektiv wie ein Pflichtjahr.

Zum zweiten Argument ist zu fragen, ob ungelernte Hilfskräfte wirklich fehlende Sozialarbeiter ersetzen können (zu F); falls sie es aber könnten, würde so der Druck auf den Arbeitsmarkt für Sozialarbeiter wachsen, weil es ja genügend billige Arbeitskräfte gäbe, wodurch wiederum der Beruf selbst weniger attraktiv würde.

Speziell zum dritten Argument ist zu bedenken, dass nicht alle „Vorbilder“ wirklich Vorbilder sind (zu P2); auch die studierenden Lehrer spornen nicht alle zum Lernen an, was sie als Vorbilder ja tun müssten. – Für den Wert des eigenen Tuns gelten die gleichen Bedenken wie beim ersten Argument: Das eigene Tun ist nur dann bildend, wenn man es als eigenes Tun ansieht.

Fazit: Trotz mancher Bedenken wäre ein soziales Jahr aller Jugendlichen für die Gemeinschaft gerechter als die bisherige Regelung, dass nur ein Teil von ihnen Ähnliches leisten muss (Bundeswehr – Ersatzdienst); das soziale Jahr wird niemandem schaden – es wären aber große Organisationsprobleme zu lösen. Ob sie allerdings mit ihren „Kosten“ den Nutzen des Sozialdienstes aufwiegen, wäre gesondert zu prüfen.

(Dieses Beispiel zeigt, dass auch die Begriffe von Ziel und Mitteln, von Kosten und alternativen Mitteln für die Erörterung einer Maßnahme bekannt sein müssen.)

Prantl / Böckenförde: Interview über das Kopftuchverbot – logische Textanalyse (Beispiel)

„Das Kopftuch ist ein Stück Integration“

(Interview mit dem ehemaligen Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde – SZ 17. Juli 2006)

SZ: Eine muslimische Lehrerin muss ihr Kopftuch im Unterricht nicht ablegen: Dieses Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart gegen das baden-württembergische Kopftuch-Gesetz hat soeben wieder für viel Wirbel gesorgt. Weiß man nicht schon seit einem einschlägigen Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom Oktober vergangenen Jahres, dass ein generelles Kopftuchverbot mit dem Grundgesetz schwer vereinbar ist?

Böckenförde: Und auch dieses Urteil des Bundesverwaltungsgerichts hatte nur die Verfassungslage, wie sie das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen hat, bestätigt: Eine Gleichbehandlung aller Glaubensrichtungen ist unerlässlich.

SZ: Gleichbehandlung heißt Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandeln. Warum muss eine zugewanderte Religion, der nur die Minderheit der Bevölkerung angehört, genauso behandelt werden wie die in Geschichte und Traditionen des Landes verwurzelten Religionen?

Böckenförde: Weil das Grundgesetz nicht zwischen privilegierten und weniger privilegierten Religionen unterscheidet. Auf der Grundlage der Religionsfreiheit als Menschenrecht gilt das Gebot strikter Gleichbehandlung aller Glaubensgemeinschaften.

SZ: Wird die Kopftuch-Causa in anderen Bundesländern besser geregelt?

Böckenförde: Nein. Baden-Württemberg ist vorangegangen, andere Länder haben das im Wesentlichen übernommen. Das ist ein Trend und der wird, fürchte ich, anhalten und zur Verdrängung der Offenheit für Religion in der Schule führen: Der Gesetzgeber kann das Nonnenhabit nicht erlauben, aber das muslimische Kopftuch generell untersagen. Die Ordenstracht ist ja nicht, wie Frau Schavan einmal gemeint hat, eine Berufskleidung, sondern Ausdruck dessen, dass man sein Leben Gott geweiht hat.

SZ: Das Ordenskleid wird in einem feierlichen religiösen Akt, der Einkleidung, angezogen. Dieser Akt betrifft den innersten Kern von Religion. So innig ist der religiöse Bezug beim muslimischen Kopftuch nicht.

Böckenförde: Das kann man sicher so sagen. Aber: Wenn schon das Nonnenhabit als Ausdruck einer so intensiven religiösen Einstellung und Gesinnung an der Schule allgemein zugelassen ist, dann kann etwas, dessen religiöser Bezug weniger intensiv ist, also das Kopftuch, nicht generell verboten werden. Es gilt die Erst-recht-Logik.

SZ: Ist das Grundgesetz geschichtsblind? Spielt das Hergebrachte, die Geschichte, die vertraute Kultur verfassungsrechtlich denn gar keine Rolle?

Böckenförde: So ist es nicht. Natürlich ist eine geschichtliche Prägung da und anerkannt. Auch in der säkularisierten Form ist unsere Kultur vielfach – noch – christlich geprägt: Es ist der Sonntag arbeitsfrei und nicht der Freitag, und so kann es auch bleiben und mit vielen anderen Dingen ist es ähnlich. Aber ich kann nicht, weil die Religionsfreiheit als Menschenrecht gewährleistet ist, dieses Recht und damit andere Religionen unter Kulturvorbehalt stellen.

SZ: Muss Religionsausübung aber nicht irgendwie sozialverträglich sein?

Böckenförde: Gewiß muss die Religionsausübung sozialverträglich sein. Aber das darf nicht zum Anlass genommen werden, andere Religionen auszuschließen oder zu diskriminieren. Sie müssen sozusagen hineinintegriert werden in eine christlich geprägte Kultur. Natürlich kann ich erwarten, dass muslimische Mitbürger keinen Anstoß nehmen an den Wegekreuzen, die wir hier überall finden. Sie sind Ausdruck der Prägung unserer Kultur. Gott sei Dank ist ja auch die katholische Kirche, die sich lange schwer getan hat mit der Religionsfreiheit, jetzt zu ihrem konsequenten Verfechter geworden, und der verstorbene Papst Johannes Paul II. hat ja auch ausdrücklich ein Plädoyer für den offenen neutralen Staat gehalten. Und zwar eben als Ausdruck dessen, dass die Religionsfreiheit ein Menschenrecht ist und der Staat dafür sorgen müsse, dass jede Glaubenüberzeugung sich privat und öffentlich entfalten könne innerhalb der Ordnung des Zusammenlebens.

SZ: Nun ist ja die Heimat des verstorbenen Papstes, Polen, nicht gerade ein Beispiel für den offen neutralen Staat?

Böckenförde: Der verstorbene Papst hat einige feste Grundsätze gehabt, an denen er nicht hat rütteln lassen. Und dazu gehört das Eintreten für die Religionsfreiheit als Menschenrecht. Vielleicht war das auch die Erfahrung, die er aus der Verfolgung und Ermordung der Juden hatte. Er hat ja auch die Judenverfolgung in Polen miterlebt. Das hat er ja auch in seiner Antrittsenzyklika gesagt, wer aus der Nähe von Auschwitz kommt, der hat ein besonderes Engagement für die Menschenrechte.

SZ: Wenn wir an den Grundsätzen, die für Sie der offen neutrale Staat beinhaltet, den gegenwärtigen staatskirchenrechtlichen Zustand in Deutschland messen, erfüllt er dann das, was Sie unter offener Neutralität verstehen? Was ist denn daran neutral, dass der Staat die Kirchensteuer einzieht?

Böckenförde: Wenn die Kirchen die Stellung einer Körperschaft des öffentlichen Rechts haben, was ja nur ein äußeres Gewand ist, in dem sie in der Rechtsordnung auftreten können, dann ist das ja anderen Religionsgemeinschaften nicht verschlossen. Andere Religionsgemeinschaften, die die Gewähr der Dauer und die Rechtstreue bieten, können diesen Status auch erlangen. Und den staatlichen Einzug der Kirchensteuer verweigert der Staat ja auch anderen Religionsgemeinschaften nicht, wenn sie diesen Status haben.

SZ: Wenn die Muslime sich entsprechend organisieren würden, sodass sie als öffentlich-rechtliche Körperschaft anerkennungsfähig sind, dann spräche nichts dagegen, dass der Staat auch eine Islamsteuer einzieht?

Böckenförde: Natürlich nicht.

(…)

SZ: Es gibt eine Form des Bekenntnisses, die mit unserer Grundordnung kollidiert – etwa dann, wenn Muslime oder Gläubige anderer Religionsgemeinschaften sich weigern, die Kinder am Schulunterricht, am Sexualkundeunterricht, am Sportunterricht, an gemeinsamen schulischen Aktivitäten von Jungen und Mädchen teilnehmen zu lassen.

Böckenförde: Die Schulpflicht der Kinder gehört zu unserer Ordnung und Artikel 7 steht nicht ohne Grund im Grundrechtskatalog des Grundgesetzes. Hier kann und muss ein Ausgleich zwischen der Religionsfreiheit und dem schulischen Erziehungsauftrag, der ebenfalls verfassungsrechtlich fundiert ist, gefunden werden. Ich meine, man ist hier mit den Befreiungen von bestimmten Fächern in den letzten Jahren etwas zu weit gegangen.

SZ: Ihr Eintreten für die offene Neutralität ist, wenn ich Sie recht verstehe, auch eine Art Integrationsmodell?

Böckenförde: Ja. Unsere Gesellschaft ist eine plurale, das können und wollen wir nicht abschaffen – und um hier zu integrieren, darf ich die Menschen nicht von ihren Wurzeln abschneiden. Sie müssen auf dieser Grundlage in die gemeinsame Ordnung des Zusammenlebens einbezogen und anerkannt werden. Wer das verkennt, verwechselt Integration mit Assimilation. Allerdings dürfen wir erwarten, dass sie die Grundregeln der gemeinsamen Ordnung akzeptieren.

SZ: Das Kopftuch der muslimischen Lehrerin ist also gar kein Mittel der Desintegration?

Böckenförde: In der Tat, das Kopftuch einer muslimischen Lehrerin, die diese gemeinsame Ordnung anerkennt und sich entsprechend verhält, ist ein Stück Integration, nicht Desintegration. Die oftmals berufene auch politische Wahrnehmung oder Komponente des islamischen Kopftuchs steht dem nicht entgegen. Abgesehen davon, dass diese zum Teil erst medial herbeigeführt und hochgepuscht wird, widerlegt jede kopftuchtragende muslimische Lehrerin, die selbstständig und eigenverantwortlich ihren Beruf ausübt, durch sich selbst die Vorstellung von der im Islam unterdrückten Frau.

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Interview: Heribert Prantl

(Der Text ist um etwa ein Viertel gekürzt; in dieser gestrichenen Passage geht es weithin um die Frage, ob die Gebetsrufe des Muezzins die gleiche Lautstärke wie das Läuten der Kirchenglocken haben dürfen.)

Erläuterungen:

In Baden-Württemberg ist 1998 die Lehramtskandidatin Fereshda Ludin nicht als Lehrerin eingestellt worden, weil sie in der Schule ein Kopftuch tragen wollte; diese Entscheidung ist 2006 vom Verwaltungsgericht Stuttgart aufgehoben worden.

Kopftuch-causa: juristischer Streit um das Kopftuchtragen.

Eine Enyklika ist ein Brief des Papstes an alle Katholiken.

Körperschaften öffentlichen Rechts sind Verbände, die staatliche Zwecke unter Staatsaufsicht wahrnehmen.

Die von Prantl formulierten Einwände werden vermutlich nicht von ihm als einem liberalen Juristen vertreten; er trägt nur mögliche Einwände vor, um Böckenförde Gelegenheit zu geben, sie zu entkräften.

Als Argumentationsansatz könnte man die wesentliche Gleichberechtigung der Religionen benennen,

als Argumentationsstrategie vielleicht den Rückgriff aufs Grundgesetz, vielleicht auch die Berücksichtigung von Einwänden.

Die 2. Methode fällt in diesem Fall als Möglichkeit aus, weil ein Interview dem Autor nicht die Entwicklung eines Gedankengangs im strengen Sinn erlaubt.

P1 und P2 sind die Prämissen des Arguments, F ist die Folgerung daraus, Z ein Zusatz zu einer Prämisse oder der Folgerung.

Aufgabe: Böckenfördes Argument in Äußerung (1)-(4) formulieren:

P1 Christliche Nonnen dürfe als Lehrerinnen in der Schule Ordenshabit tragen.

Z zu P1: Der religiöse Bezug ist beim Habit größer (deutlicher) als beim muslimischen Kopftuch.

P2 Aus der Religionsfreiheit (Grundgesetz) ergibt sich das Gebot strikter Gleichbehandlung aller Religionen.

F Deshalb müssen muslimische Lehrerinnen (erst recht) im Unterricht ein Kopftuch tragen dürfen.

Aufgabe: von Prantl ab Frage (5) vorgebrachte Einwände formulieren:

Prantl bringt folgende Einwände vor:

Das Grundgesetz ist geschichts- und traditionsblind (wenn es alle Religionen gleich stellt).

Die Religionsausübung muss sozialverträglich sein (niemand darf daran Anstoß nehmen).

Der Staat zieht Kirchensteuer ein, aber keine Islamsteuer (also: faktische Ungleichheit).

Der Islam verträgt sich nicht mit unserer Grundordnung (Teilnahme von Kindern am Sexualkunde- und Sportunterricht verweigert).

Aufgabe: das Argument Böckenfördes in den drei letzten Äußerungen formulieren:

P1 Um Menschen in unsere plurale Gesellschaft zu integrieren, darf man sie nicht von ihren Wurzeln abschneiden.

P2 Ein Kopftuch zu tragen gehört für eine Muslima zu ihrer religiösen Identität („Wurzel“).

Z zu P2: Die Wahrnehmung des Kopftuchs als politisches Zeichen (Unterdrückung der Frau) wird von jeder berufstätigen Lehrerin widerlegt.

F Daher bedeutet es ein Stück Integration, wenn muslimische Lehrerinnen im Unterricht ein Kopftuch tragen dürfen.

Z zu F: Bedingung für diese Erlaubnis ist lediglich, dass sie die Ordnung des GG anerkennen.

Otto Wels: Rede vom 23. März 1933 vor dem Reichstag

Analyse des Aufbaus (TTS 1999, S. 409 ff.)
In seiner Rede vom 23. März 1933 vor dem Reichstag in Berlin begründet Otto Wels, warum die SPD das von der Regierung vorgelegte Ermächtigungsgesetz („Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“) ablehnt.
Zu Beginn redet er die Abgeordneten an (Z. 1) und stimmt dann zunächst den außenpolitischen Forderungen nach deutscher Gleichberechtigung, wie sie der Reichskanzler erhoben hat, zu (Z. 2-29); Wels erinnert an eine Äußerung der SPD vom 23. Juli 1919, welche Hitlers Forderung ergänze (Z. 30-49).
In einem zweiten Teil schwenkt Wels zur Innenpolitik, wo die gleiche Maxime wie in der Außenpolitik gelte („Aus einem Gewaltfrieden kommt kein Segen“, Z. 50), und begründet dadurch, dass er das Ermächtigungsgesetz ablehnt:
1. In Deutschland gilt nicht mehr gleiches Recht für alle, weil Sozialdemokraten verfolgt werden (Z. 53-67).
2. Kritik an der Regierung in Parlament und Presse wird ausgeschaltet (Z. 69-83).
Wels fordert die Nazis auf, die beiden von ihm kritisierten Missstände abzustellen (Z. 84-100).
Im nächsten Abschnitt bestreitet er den Nazis das Recht, von einer nationalen Revolution zu sprechen (Z. 101/04, Z. 120 ff.) und sich nationalsozialistisch zu nennen (Z. 104-119). Wels grenzt die Sozialdemokraten von den Nazis ab (Z. 104 ff., Z. 127 ff.), beruft sich auf Leistungen der SPD in der Vergangenheit (Z. 127 ff.) und erklärt, was seine Partei „heute“ tut, statt dem vorgelegten Gesetz zuzustimmen (Z.143 ff.): an das Rechtsbewusstsein des deutschen Volkes (gegen das Unrecht der Nazis) appellieren (Z. 148-151).
In einem vierten Teil seiner Rede beschwört Wels die Grundsätze des Rechtsstaates (der Weimarer Verfassung) und der politischen Kultur (Z. 152-160), bestreitet das Recht der Nazis auf (durch ein Ermächtigungsgesetz legitimierte) entgegengesetzte Politik (Z. 160 ff.) und spricht die Hoffnung auf die Zukunft der SPD trotz Verfolgung aus (Z. 164 ff.).
Den Abschluss bildet ein Gruß an alle Sozialdemokraten in Deutschland und der Ausblick auf eine hellere Zukunft (Z. 168-172).

*** Dies ist die erste Fassung, die nach ihrer Aufzeichnung an wenigen Stellen sprachlich korrigiert worden ist.
Nachdem ich dies geschrieben habe, frage ich mich: Warum hört Wels nicht nach dem zweiten Teil seiner Rede (ja – aber) auf? Ich denke, dass er mit dem dritten Abschnitt zu einer grundsätzlichen Kritik an den Nazis ansetzt, nachdem er zuvor nur begründet hat, warum die SPD ein bestimmtes wichtiges Gesetz ablehnt; die Zustimmung zu einem außenpolitischen Grundsatz Hitlers kann als Versuch verstanden werden, mit Hilfe eines von den Nazis selbst vertretenen Grundsatzes das Ermächtigungsgesetz abzulehnen. – In dieser Sicht besteht die Rede aus zwei Teilen: einer konkreten Stellungnahme zu einem Gesetz und einer grundsätzlichen Kritik.

Erste rhetorische Analyse der Rede von Otto Wels
Diese Analyse gilt zwei Fragen: 1. Wie werden die Parteien in der geschichtlichen Situation von Wels gruppiert? 2. Welche Strategie verfolgt Wels? (In der 2. Frage ist die nach den dominierenden rhetorischen Mitteln eingeschlossen).
Wels sieht zwei Gruppen im Wesentlichen gegeneinander gestellt: Die Regierung der Nationalsozialisten und die SPD. Die erste Gruppe wird durch den Reichskanzler vertreten (Z. 3 f., Z. 19), sie bildet die Regierung (Z. 54), besteht aus den Regierungsparteien (Z. 68 f.); letztlich sind die Nazis mit einer gewissen Bitterkeit als „meine Herren“ angesprochen (Z. 99, Z. 101). Dem steht seine eigene Partei, „wir Sozialdemokraten“ (Z. 4 f. u.ö.), gegenüber; einmal hebt Wels einen eigenen Beitrag zur Politik besonders hervor (ich als erster Deutscher, Z. 9 f.). Mir fällt auf, dass Wels die Deutschnationalen, die mit ihren 8% der NSdAP zur absoluten Mehrheit verhalfen, und das Zentrum, das mit seinen Stimmen die Zweidrittelmehrheit für das Ermächtigungsgesetz sichert, nicht anspricht; offensichtlich erwartet Wels nicht, durch seine Rede jemanden umzustimmen. Er will, so muss man es deuten, Zeugnis vor der Geschichte ablegen und dem deutschen Volk noch einmal die letzten Maßstäbe politischer Vernunft zeigen.
Wie ist das Verhältnis dieser beiden Gruppen, von denen allein Wels spricht? Es ist ein schwieriges Verhältnis: Einmal sind die Sozialdemokraten eine Fraktion im Reichtstag und damit den Nazis parlamentarisch sowohl verbunden als auch konfrontiert (Z. 1 ff.); zum anderen werden Sozialdemokraten von den Nazis verfolgt (Z. 63 ff.). Wels argumentiert demgemäß auf mehreren Ebenen: Er diskutiert die erbetene Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz nach bestimmten Grundsätzen; er kritisiert aber auch die Verfolgung der SPD und die in Deutschland beginnende Gewaltherrschaft. Diese Doppelstrategie wird mit verschiedenen Mitteln verfolgt:
* Wels zitiert von den Nazis vertretene Prinzipien (Z. 2 f., Z. 21 f.);
* er beruft sich auf die Verfassung der Republik (Z. 70 ff.);
* er beruft sich auf weitere anerkannte Prinzipien humanen Lebens (Z. 33 ff., Z. 157 ff.); diese drei Strategien sichern einen Rahmen, innerhalb dessen man mit Nazis (vielleicht noch) diskutieren kann.
* er prüft, ob die Nazis national, also dem Volk verpflichtet sind (Z. 51 ff., Z. 122 ff.);
* er prüft, ob sie sich mit Recht „sozialistisch“ nennen (Z. 104 ff.).
Den Zerstörungen, welche die Nazis anrichten (Z. 104 ff.), stellt er Leistungen der SPD für den Wiederaufbau Deutschlands nach dem 1. Weltkrieg entgegen (Z. 127 ff.). Über beiden Parteien sieht er das Volk als die tragende Größe, die Verfassung als die geltende Rechtsordnung und ethische Prinzipien als Garanten der Menschlichkeit. [Das alles könnte noch detaillierter ausgeführt werden; es könnte auch bedacht werden, was die über den Anlass hinausgehende Kritik an willkürlicher Verfolgung in einer Rede vor dem Reichtstag bedeutet.]
Die erste Strategie Wels‘, mit der er begründet, dass die SPD das Ermächtigungsgesetz ablehnt, besteht in dem Aufweis, dass die von Nazis außenpolitisch vertretenen Grundsätze der Idee des Ermächtigungsgesetzes (also ihrer Innenpolitik) widersprechen: Stichwort ist „Gewaltfrieden“ (Z. 50). Die Grundsätze werden in zwei Beispielen vorgebracht (Gleichberechtigung, Theorie von den ewigen Siegern und Besiegten, Z. 19 ff.); mit dem Ermächtigungsgesetz widersprechen die Nazis also ihren eigenen Grundsätzen, wie Wels zeigt.
Die zweite Strategie besteht im Nachweis der Illegalität der Verfolgung (Z. 54 ff.) und der Zensur (Z. 92 ff.), als deren Zementierung er das Ermächtigungsgesetz bewertet; „vogelfrei“ (Z. 61) markiert den mittelalterlichen Zustand der Rechtlosigkeit. Gleichzeitig weist Wels offensichtlich erhobene Vorwürfe gegen die SPD zurück (Z. 88 ff.). Gegen alle Vorwürfe reklamiert er – das ist vielleicht die dritte Strategie: immerhin wiederholt er das entscheidende Stichwort (Ehre, Z. 34, Z. 62) – den Fortbestand der Ehre für die SPD.
Einen weiteren Widerspruch im Handeln weist er den Nazis in ihrem Anspruch nach, eine nationale Revolution voranzutreiben (Z. 101 ff. – „nennen“ betont schon, dass dieser Anspruch falsch ist), und zwar indem er der Zerstörung die positiven Leistungen der SPD (Wiederaufbau, Befreiung, Recht, politischer Aufstieg kleiner Leute) und den Nazis das Volk gegenüberstellt (Z. 120 ff.), wiederum im Zusammenhang mit dem Ermächtigungsgesetz. Wichtig und rhetorisch geschickt ist diese Strategie, weil die Nazis sich gerade auf das Volk (v.a. in der Begriffsprägung „Volksgemeinschaft“, vgl. http://www.dhm.de/lemo/html/nazi/innenpolitik/volk/index.html; zu „Gemeinschaft“ vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Gemeinschaft) zur ontischen oder mythischen Rechtfertigung ihrer Politik beriefen.
Die letzte Strategie besteht in einer Entfaltung der Idee und der Praxis des Sozialismus (ab Z. 104): Gegen den Anspruch der Nazis, nationalsozialistisch zu sein, stellt Wels die Tatsache, dass die Sozialisten verfolgt werden, ebenso wie das Verlangen nach dem Ermächtigungsgesetz (Z. 110 ff.); gegen die Zerstörungen der Nazis hebt er die sozialistischen Leistungen hervor, von denen auch die Nazis profitieren (in der Karriere Adolf Hitlers, Z. 127 ff.). Gegen das staatliche Unrecht und die bloßen machtpolitischen Tatsachen stellt er die großen Ideen, zu denen auch der Sozialismus gehört (ab Z. 143 ff.).
Der Widerspruch ist also die beherrschende Strategie von Otto Wels: die den Nazis nachgewiesenen Widersprüche zwischen Anspruch und Handeln, zwischen Verfassung und Handeln, zwischen humanen Ideen und Handeln. Von rhetorischen Mätzchen ist Wels‘ Rede frei; die Situation war zu ernst, um nicht ausschließlich auf den fundamentalen Widerspruch zwischen Recht und Handeln (Wirklichkeit) hinzuweisen.
Auf die Bedeutung einzelner Wörter ist schon hingewiesen worden; hier sollen noch einmal wichtige Begriffe genannt werden: Gewaltfrieden, Gewalttaten; Recht – vogelfrei; Allmacht – Kontrolle, Bewegungsfreiheit der Presse; entfesselte Bewegung; positive Leistungen – Wirtschaftselend – Mitverantwortung; das Rad der Geschichte zurückdrehen; Ideen, die ewig und unzerstörbar sind; hellere Zukunft. Alle diese Begriffe lassen sich leicht dem Gegensatz Nazis – SPD, Recht – Unrecht zuordnen.
[Manche Feinheiten der Rede sind nicht zu verstehen, ohne dass man sich in der Zeitgeschichte genauestens auskennt: Wie groß waren die Verfolgungen? Welche Zeitungen waren im März 1933 schon verboten? Welche Vorwürfe wurden gegen die SPd erhoben, vgl. Z. 88 ff.?]
Obwohl die Rede vor dem Parlament gehalten worden ist, gehört sie nicht dem Typ der Beratungsrede (genus deliberativum) an: Alle Parteien hält Wels offenbar in der Sachfrage für entschieden; eher entspricht sie dem Typus der Gerichtsrede, weil Wels die Regierung bzw. die Nazis anklagt und die SPD verteidigt (vor dem Volk und der Geschichte als richtenden Instanzen, vgl. Z. 123 ff. und 164 ff.), in gewisser Weise auch die Stärken der Verfassung und die von der SPD vertretenen Werte rühmt (genus demonstrativum): eine große und angesichts unmittelbar drohender Verfolgung auch mutige Rede eines Mannes, der aufrecht der Verfolgung entgegensieht!
*** Die einzige Analyse, die ich im www zur Rede Wels‘ gefunden habe, kann man irgendwo in einem HA-pool kaufen; ob sie etwas taugt, weiß ich nicht.
Viele Hinweise (Links, Artikel) auf den unmittelbaren historischen Kontext findet man bei http://www.gavagai.de/skandal/HHD0815.htm oder http://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/156904/80-jahre-ermaechtigungsgesetz-22-03-2013.

Brandt: Rede zum Moskauer Vertrag vom 12. August 1970 – Analyse

Erste Analyse
Nachdem Brandt den Moskauer Vertrag unterzeichnet hat, wendet er sich über das Fernsehen an alle Deutschen (der Bundesrepublik: Mitbürger), um ihnen die Bedeutung des Vertrags zu erklären und um die Bedenken und Einwände der CDU-Anhänger (im weiten Sinn) aus dem Weg zu räumen. Da er über das Medium Fernsehen spricht, kann er Reaktionen der Zuschauer nicht wahrnehmen, muss also sorgfältig und vorsichtig argumentieren und um Zustimmung zu seiner neuen Ostpolitik werben.
Aufbau:
Nach der Begrüßung (Z. 1) würdigt (auch: erklärt, bewertet) er zunächst die Bedeutung des Vertrags (Z. 2-10): Mit ihm werde das Verhältnis zum Osten neu begründet. Zur Begründung dieser Ostpolitik beruft er sich auf seine eigene Regierungserklärung als der „Richtlinie“ (Z. 19) seiner Politik, die insgesamt einem „Friedenswerk“ (Z. 19) verpflichtet sei (Z. 11-20).
Im folgenden Teil (bis Z. 50) würdigt er den Vertrag ausführlicher, weist dabei zugleich Einwände der CDU-Anhänger und -Politiker zurück:
1. Der Vertrag stellt einen Erfolg dar, weil er nach dem (auch für den Osten) katastrophalen Krieg die Beziehungen zu den Staaten im Oster verbessert (Z. 21 ff.); damit widerspricht er dem Einwand, der Vertrag stelle einen Ausverkauf dar.
2. In ihm werden die Beziehungen zur Sowjetunion verbessert,
3. ebenso die Beziehungen zur DDR entspannt;
beides erfolge im Interesse des ganzen deutschen Volkes (v.a. die Entspannung im Verhältnis zur DDR, Stichwort „Mauer“) – damit weist er den Einwand zurück, es würden Interessen der Ostdeutschen aufgegeben (Z. 35 ff.).
4. Der Vertrag dient auch Europa (Z. 44 ff.); ausdrücklich spricht Brandt von „Rußland“ statt „Sowjetunion“, um die Bindung dieses Staates an die europäische Geschichte Geschichte beweisen zu können: Es werde ein „Ausgleich der Interessen“ hergestellt (Z. 49), was ja ein Merkmal fairer Politik ist. Damit weist er den Einwand zurück, die europäische Einigung werde durch eine Wendung nach Osten beeinträchtigt.
Im folgenden Abschnitt (Z. 51 ff.) nimmt Brandt direkt zu Einwänden Stellung:
– „Preisgabe deutschen Landes“: Nichts gehe verloren, was nicht durch den Krieg verspielt worden ist (Z. 51 ff.);
– „Verhältnis der BRD zum Westen wird gefährdet“: Dieses Verhältnis werde nicht gefährdet (Z. 58 ff.);
– „Europäische Einigung verliert an Bedeutung“: Die Einheit Europas werde vorangetrieben (Z. 61 ff.).
Zum Schluss zieht Brandt ein Fazit (Z. 64-66): Der Vertrag dient dem Frieden, dient Europa und „uns allen“ [wobei offen ist, wer zu „uns“ gehört]. Es folgt der abschließende Gruß nach Deutschland (Z. 67).
Rhetorische Analyse:
Insgesamt erkenne ich vier dominierende Strategien Willy Brandts in dieser Rede. Sein Hauptanliegen scheint mir zu sein, die von CDU und Vertriebenenverbänden vorgebrachten Bedenken zu zerstreuen; dem dient ein ganzer Abschnitt seiner Rede (Z. 51 ff., aber auch bereits Z. 21 ff.). Dem dient auch der Hinweis, dass er sich (wie die meisten seiner Zuhörer, Z. 21!) „frei vom Wunschdenken“ weiß, was er also dem politischen Gegner zuschiebt. Hier ist auch die einzige Stelle, wo er pointiert „ich“ sagt, während er zuvor von der Bundesregierung gesprochen hat (Z.11 ff.); er beansprucht die Zustimmung der „meisten Deutschen“, weist dem Gegner also eine Minderheitsposition zu. Auch das Stichwort der „Nüchternheit“ (Z. 23) und der Hinweis auf die Lage, wie sie in Europa besteht (Z. 10, als Folge des Krieges, Z. 55 f.), unterstreichen seine Anspruch auf Realpolitik und die Absage an die Träumereien der politischen Gegner.
Die zweite Strategie dient ebenfalls seiner Rechtfertigung: Er ordnet den Abschluss des Vertrags in die politische Geschichte ein (Z. 5-10), deren einzelne Abschnitte auch vom CDU-Kanzler Adenauer gestaltet worden sind. [Man könnte diesen Gedanken auch der 1. Strategie zuordnen.]
Die dritte Strategie besteht darin, die Chancen aufzuzeigen, die durch den Vertrag geschaffen werden: Es ist vor allem der Frieden nach dem Kalten Krieg (und statt eines mehrmals drohenden Atomkrieges), von dem Brandt wiederholt spricht (Z. 16, 19, 54, 66), und der ihm korrespondierende gegenseitige Verzicht auf Gewalt (Z. 9, wobei der Weltkrieg den Kontrast und Ausgangspunkt bildet, Z. 32 ff.). Dem Frieden entspricht das Verhältnis einer Partnerschaft (Z. 48), ein Ausgleich der Interessen (Z. 49), auch der Zusammenschluss Europas (Z. 66, 44 ff.).
Die vierte Strategie besteht in der Bewertung des Vertrags als Erfolg deutscher Politik (wiederholt, Z. 27 und 29). In den Metaphern, dass der Vertrag einen entscheidenden Schritt (auf einem Weg, Z. 30) darstellt und dass in ihm „ein neues Blatt“ im Buch der Geschichte aufgeschlagen wird (Z.52 f.), wird die Bedeutung des Vertrags bildhaft umschrieben. [Die Metaphern könnte man auch der 3. Strategie zuschlagen: Frieden nach dem Krieg und Kalten Krieg als weiterer Schritt oder als neues Blatt.]

Nachtrag,
zwei Wochen später geschrieben, nachdem ich 17mal geschlafen und 24 Klausuren zum Thema korrigiert habe:
Ich sehe jetzt stärker, dass die Rede dem genus demonstrativum angehört; Brandt hält eine Rede zur Feier des Tages, also zur Feier des Vertragsabschlusses. [Nebenher sei bemerkt, dass es sich um den Abschluss, nicht um die Abschließung eines Vertrags handelt – bei Türen mag es die letztere geben.] Demgemäß wird weithin die Bedeutung des Vertrags gewürdigt und erklärt; damit wird der Vertrag oder das Verhandlungsergebnis bewertet, aber nicht aufgewertet – im Hinblick auf die bald darauf tagende KSZE kann man den Vertrag kaum überbewerten!
Die Auseinandersetzung mit der CDU oder den Vertriebenenverbänden rückt für mich jetzt stärker in den Hintergrund; ich sehe sie nur noch in Z. 21 ff. (Vorwurf, Brandt sei mit seinen politischen Hoffnungen ein Spinner) und in Z. 51 ff. (Einwände, der Vertrag gefährde die Westbindung und die europäische Einigung – dazu indirekt bereits Z. 44 ff.!). Auch die Einordnung in die politische Geschichte sehe ich jetzt unter dem Aspekt, dass Brandt die Bedeutung des Vertrags sowohl als Fortsetzung der Adenauerschen Politik (Z. 6 f.) wie als Neuanfang (Z. 30 ff.) würdigt.
Auch den Aufbau sehe ich jetzt ein bisschen anders: Nach der Anrede der Zuhörer würdigt Brandt zunächst den Vertrag („ein wichtiger Augenblick“ der Nachkriegsgeschichte, Z. 3 f.; Aufgabe erfüllt, Z. 11 ff.; Erfolg, Z. 21-28, mit Begründung dieses Urteils in Z. 29 ff.; geschichtliche Wandlung, Z. 24 f.; neues Blatt in der Geschichte, Z. 52); danach erklärt er seine Bedeutung für die Ost-, Deutschland- und Europapolitik (Z. 30-50). Viele Schüler haben nicht verstanden, dass mit dem Rückblick auf die europäische Geschichte („Russland“ statt „Sowjetunion“!) die Zughörigkeit der SU zu Europa begründet und die mit ihr zu machende Deutschlandpolitik (Z. 35 ff.) in den Rahmen der Europapolitk gestellt wird.
Viele Schüler sehen eine Art wir-Strategie Brandts; es fällt sicher auf, dass nie von den anderen (wohl allerdings von der SU und von den östlichen Völkern) gesprochen wird – das ist dem genus demonstrativum aus Anlass eines guten Vertrages geschuldet. Wenn man genau untersucht, wer mit „wir“ gemeint ist, kommt man auf die Bürger der BRD (Z. 4), eventuell alle Deutschen (Z. 13), die Regierung (Z. 19), die Leute oder die Deutschen oder die Europäer (Z. 23 f.), Bürger und Regierung (Z. 25 f.), wir in (West)Europa (Z. 47, 49) und ein ganz umfassendes „wir“ (Z. 66). Es erscheint also fraglich, ob man hier von einer eigenen Strategie sprechen kann.
Noch eine Kritik an den Schülerlösungen: Der Rückgriff auf die Regierungserklärung ist sicher kein Autoritätsargument, da es ja seine eigenen Regierungserklärung ist (Z. 12 ff.); vielmehr klingt da eher ein Selbstlob an: Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht (vgl. Z. 11 f.)!
Die Schüler haben auch noch einige rhetorische Figuren gefunden, etwa die geminatio (Z. 19), die Wiederholung (Z. 27/29, mit Emphase vorgetragen), die Anapher „nur wenn“ (Z. 47 f.), Lauras argumentum ad populum (? Z. 41 f.) – das alles sind schöne Beobachtungen, die man in die Betrachtung der Strategien einbauen kann.

Die Analyse der Rede Brandts war politisch-historisch durch eine Untersuchung der Regierungserklärung Adenauers zum Mauerbau 1961 und der Rede Walter Scheels zum Tag der deutschen Einheit 1978 (Pelster: Reden, Redesituationen, Redekritiken, 1980) vorbereitet worden.

Aufgabenstellung einer Klausur im Grundkurs Deutsch 12:

Analyse einer politischen Rede – drei Schulstunden
Rede Willy Brandts vom 12. 8. 1970 (zum Moskauer Vertrag)
Aufgabenstellung:
Analysieren Sie die Rede Brandts, indem Sie ihren Aufbau und Brandts rhetorische Strategien beschreiben!

Erläuterungen:
Ende 1969 bildete die SPD mit der FDP erstmals eine sozialliberale Koalition (unter Führung von W. Brandt und W. Scheel); Bundeskanzler Brandt verzichtete auf die Hallstein-Doktrin und erkannte die Existenz zweier deutscher Staaten an, die aber füreinander „nicht Ausland seien“; er traf sich mit dem Ministerpräsidenten der DDR, Willi Stoph, in Erfurt und Kassel.
1970 schloss die Regierung den Moskauer Vertrag (12. 8.) und den Warschauer Vertrag über Gewaltverzicht und territoriale Unverletzlichkeit aller Staaten in Europa auf der Basis der bestehenden Grenzen [d.h. praktisch Verzicht auf die ehemaligen deutschen Ostgebiete Pommern, Schlesien, Preußen usw.] ab; in einem begleitenden Brief bekräftigte die Bundesregierung ihr Ziel, friedlich auf die Einheit Deutschlands hinzuarbeiten; auch waren die Verträge, die 1972 gegen heftigen Widerstand der CDU in Kraft traten, an eine für die Bundesrepublik „befriedigende“ Berlinregelung gebunden.

Hilfsmittel: alle Arten deutscher Wörterbücher