Produktives Schreiben: eine neue Perspektive einnehmen

Gehen wir von einem Beispiel aus meiner Praxis aus, der Lektüre des Jugendbuchs „Meine Spur löscht der Fluß“ (1978) von Othmar Franz Lang. Das haben wir in einer 8. Klasse des Gymnasiums gelesen: Ein junger Indianer ist der letzte Überlebende seines Stammes, er wird halbverhungert gefunden und aufgepäppelt. Im Roman wird erzählt, wie er die fremde Welt der Weißen erlebt: ihr Essen, ihre Hygiene, ihre Eisenbahn usw. – das alles erlebt und beschreibt er in den Kategorien seines indianischen Lebens. Damit macht er es dem Leser möglich, seine eigene westliche Kultur als fremd oder als nicht selbstverständlich und gottgegeben zu sehen, weil der Indianerjunge ein sympathischer Kerl ist, mit dem man mitfühlt. Die Aufgabenstellung einer Klassenarbeit vom 16.10.1987 lautete so:

Die Schüler sollen in Anlehnung an O. F. Lang, Meine Spur löscht der Fluß, Eigentümlichkeiten der Industriekultur aus der Perspektive des Indianers Ishi darstellen können.

Du hast die Wahl zwischen folgenden Themen:

– Wie ich zum ersten Mal in einer Schule beim Unterricht war.

– Wie ich beim Friseur war.

– Wie am Museum eine neue Straße gebaut wurde.

Die Themen stammen also aus Feldern, die die Schüler aus eigener Erfahrung kennen; die Aufgabenstellung war natürlich an mehreren Beispielen (Ishi im Schwimmbad usw.) eingeübt worden. – Leider gibt es das bewegende Buch nur noch antiquarisch zu kaufen. Die Fragestellung „Wie sieht unsere Lebensweise in fremder Perspektive oder mit fremder Brille betrachtet aus?“ ist heute aber aktueller denn je; viele Migranten erleben in Deutschland täglich eine Welt, die ihnen in mancherlei Hinsicht fremd und oft unverständlich ist und in die man sich hineinversetzen muss, um ihnen und ihren Problemen gerecht zu werden. Wie man das praktisch im Unterricht umsetzt, überlasse ich gern den jungen Kollegen

Ich nenne noch ein paar Beispiele aus der großen Literatur, wo in der Regel Fremde nach Europa kommen oder ein Europäer in die Fremde reist (Besprechung der Titel in meinem Blog norberto42:

Voltaire: Amabeds Briefe

Voltaire: Das Naturkind

U. Eco: Industrie und sexuelle Repression in einer norditalienischen Gesellschaft (in: Platon im Striptease-Lokal)

Stefan Themerson: Prof. Mmaa’s Vorlesung (dort auch Verweis auf Weckhrlin, Andersen u.a.), wo sogar die Termitensicht auf den Menschen präsentiert wird.

Ich habe den Perspektivenwechsel aber auch benutzt, um schnöde den Gebrauch des Konjunktivs II einzuüben (Kl. 7: Variationen zu „Wär ich ein Baum“ von Erich Kästner, s.)

https://norberto68.wordpress.com/2011/02/21/phantasie-war-ich-ein-baum-kastner/

https://norberto68.wordpress.com/2019/10/14/produktiv-schreiben-in-der-sek-i-erprobte-beispiele/

Zur Theorie des Fremdverstehens siehe diese Artikel aus dem Hogrefe:

Fremdverstehen

[engl. understanding of others], [FSE, SOZ], das Konzept des Fremdverstehens hat maßgeblich Alfred Schütz (1974) in seiner theoretischen Betrachtung von Verstehensprozessen innerhalb alltäglicher Kommunikationssituationen herausgearbeitet (Kommunikation): Innerhalb dieser nimmt ein Kommunikant (ego) stets eine Deutung dessen vor, was ihm von einem anderen Kommunikanten (alter) mitgeteilt wird. Jeder der beiden Kommunikanten kommuniziert dabei auf der Basis des eigenen Wissenshintergrundes (Relevanzsystems), das semantisch-indexikal angelegt ist (Indexikalität): Die zu verstehende Mitteilung, die der eine Gesprächsbeteiligte kommuniziert, kann der andere Gesprächsbeteiligte nur verstehen, indem sie an das eigene Relevanzsystem adaptiert wird. Verstehen ist kognitionspsychol. betrachtet also die Übersetzung des zu Verstehenden in das eigene, semantisch-indexikale Relevanzsystem. Verstehen stellt damit immer das Verstehen von Fremdem dar, denn alles, was außerhalb unseres eigenen Relevanzsystems existiert, ist uns grundsätzlich fremd. Genau diese Tatsache wird jedoch in alltäglichen Kommunikationsprozessen bewusst ausgeblendet: Wie Alfred Schütz (1974) betont hat, wird nur mit der Reziprozität der Perspektiven, welche zwei idealisierende Unterstellungen umfasst, nämlich die Idealisierung der Vertauschbarkeit der Standpunkte und die Idealisierung der Kongruenz der Relevanzsysteme, Kommunikation praktisch möglich. Alfred Schütz hat in diesem Zusammenhang pointiert, dass Fremdverstehen somit stets eine Selbstauslegung bleibt, da wir eben nur mit unserem Relevanzsystem verstehen können. Verstehen ist damit immer nur als eine relative Annäherung an das Fremdzuverstehende aufgrund von Idealisierungen sowie Annahmen in Hinblick auf eine sozial geteilte Welt und von praktischen Aushandlungen sowie akzeptierten kommunikativen Basisregeln möglich. https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/fremdverstehen

Perspektivität, Perspektivismus

[engl. perspective, point of view; lat. perspicere hindurchschauen, deutlich sehen],[HIS, PHI],bez. die Abhängigkeit der Wahrnehmungen und der Urteile von der Position des wahrnehmenden bzw. urteilenden Individuums. Als Begriffe der Erkenntnistheorie gehen Perspektive, Standpunkt und Horizont auf Leibniz zurück. Er erläutert den Gedanken der Perspektive an einem Bsp., «wie eine und dieselbe Stadt, von versch. Seiten betrachtet, jew. ganz anders erscheint». Gustav Theodor Fechners Bsp. ist ein Kreis: «Wenn Jemand innerhalb eines Kreises steht, so liegt dessen konvexe Seite für ihn ganz verborgen; wenn er außerhalb steht, umgekehrt die konkave Seite unter der konvexen Decke. Beide Seiten gehören ebenso untrennbar zus., als die geistige und leibliche Seite des Menschen und diese lassen sich vergleichsweise auch als innere und äußere Seite fassen … Aber der Kreis ist nur ein Bild und es gilt die Frage nach der Sache.»

Im Unterschied zu Spinozas Zwei-Attribute-Lehre (Doppel-Aspekt-Lehre), nach welcher Geist und Materie zwei Seiten ein- und derselben Sache sind (una eademque res) postulierte Leibniz außerdem, dass psych. Vorgänge aus den Motiven und Zwecksetzungen, die körperlichen Vorgänge nach dem Kausalprinzip zu erklären sind. Diese Idee wurde als psychophysischer Parallelismus von Wundt genauer ausgeführt, wobei er keine metaphysische Lehre i. S. zweier Substanzen, Seele und Materie, meint, sondern zwei sich wechselseitig ergänzende Betrachtungsweisen einer lebendigen Einheit nach grundversch. Kategorien (Kategorienlehre) und Methoden.

Perspektive bedeutet, ein Objekt, eine Person, eine Idee von einem best. Standpunkt aus zu betrachten, und der Begriff impliziert, dass auch eine andere oder mehrere Perspektiven möglich sind. Der Begriff wird in der Ps. nicht nur hinsichtlich der visuellen Wahrnehmung (Perspektive) verwendet, sondern in der Persönlichkeits- und Sozialpsychologie, in der Kulturpsychologie, in Piagets genetischer Erkenntnistheorie (Entwicklung, Stufentheorie nach Piaget). Am häufigsten zu finden ist die Perspektive von Innen und Außen, von Erleben und Verhalten (das traditionelle Subjekt-Objekt-Problem, Perspektive der Ersten Person und der Dritten Person in der Theory of Mind). Ausdrücke wie Perspektive und Horizont sind charakteristisch für die von Husserl und Merleau-Ponty entworfene Phänomenologie (s. auch Graumann, 1960).

Perspektivität/Perspektivismus ist die erkenntnistheoret. Grundhaltung und die phil. Überzeugung, dass eine fundamentale Abhängigkeit der Erkenntnis von dem Standpunkt (Bezugssystem) und den Eigenschaften des betrachtenden Individuums besteht. Der perspektivistische Objektivismus setzt eine obj. Wirklichkeit voraus, die aufgrund der unterschiedlichen Standpunkte und Eigenschaften der Betrachter unterschiedlich aufgefasst wird, während der perspektivistische Subjektivismus eine Vielfalt der Wirklichkeiten behauptet (s. Nietzsche und Vaihinger). Der sprachphil. Perspektivismus Wittgensteins verweist auf sie sprachlichen Gepflogenheiten («Sprachspiele»), die das Bezugssystem mitbestimmen. Der Perspektivismus ist dem Pluralismus, Relativismus und auch dem Konstruktivismus verwandt, kann jedoch eine strengere Fassung erhalten, indem die Kategorien (Kategorienlehre) der Bezugssysteme und die indiv. Standpunkte def., die wechselseitige Ergänzung der Perspektive zu einem Gesamtbild verlangt und der zur Erfassung der vollen Wirklichkeit notwendige Perspektivwechsel (Perspektivenübernahme) betont werden. Die Unterscheidung von koexistierenden Bezugssystemen dient der wiss.theoret. Ordnung der komplizierten Bezüge. Die Einheit in der Vielfalt (unitas in multitudine, Leibniz) und unitas multiplex (William Stern) zu erfassen, legt multireferenzielles Denken, die Koordination von kategorial versch. Bezugssystemen und das entspr. multimeth. (Multi-Methodalität) Vorgehen nahe. https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/perspektivitaet-perspektivismus

Perspektivenübernahme

[engl. perspective adoption/taking], [EW], Fähigkeit, den Standpunkt einer anderen Person, der sich vom eigenen unterscheiden kann, bewusst einzunehmen, ohne den eigenen zu verlieren. Kognitive Voraussetzung für die Perspektivenübernahme ist die Fähigkeit zur Dezentrierung. Die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme bei Wahrnehmungsinhalten, wie sie im Drei-Berge-Versuch von Piaget gemessen wird, entwickelt sich i. d. R. im sechsten Lebensjahr; weniger komplexe Formen der Perspektivenübernahme – auch bzgl. Meinungen, Emotionen und Bedürfnissen – können aber schon bei 3- bis 4-jährigen Kindern beobachtet werden. Mit dem Auftreten der Perspektivenübernahme verschwindet der Egozentrismus des Kindes. https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/perspektivenuebernahme

Vgl. auch

https://de.wikipedia.org/wiki/Perspektivismus (Perspektivismus)

https://www.buecher-wiki.de/index.php/BuecherWiki/Erzaehlperspektive (Erzählperspektive)

Storm: Der eine fragt… Kleiner Lesekurs für Alphabeter

In der von Theodor Hertel besorgten Ausgabe von Storms Werken findet man unter „Sprüche“i zwei kurze Gedichte, die nach der Datierung durch den Herausgeber im Juli 1858 verfasst worden sind. Deren erstes lautet:

Der eine fragt: Was kommt danach?

Der andere fragt nur: Ist es recht?

Und also unterscheidet sich

der Freie von dem Knecht.

Das Verständnis des Sinnspruchs ist umstritten (vgl. die Anmerkung 291 bei Christian Demandt); deshalb wollen wir ihn methodisch exakt lesen, um seinen Sinn jenseits bloßer Vermutungen zu ermitteln. Zugleich sind diese Überlegungen eine Anleitung, einen Text bewusst zu lesen, statt sich auf bloße Assoziationen zu einzelnen Wörtern zu verlassen.

Es ist von zwei Fragen bzw. Fragenden die Rede. Unbestimmt ist zunächst, wann sie wen fragen. Aufgrund ihrer Fragen füllen wir diese erste Leerstelle so: Sie fragen sich selbst, ehe sie etwas tun, was jenseits alltäglicher Routine liegt, weshalb man nachdenkt, wie man handeln soll.

Die Frage „Was kommt danach?“ zielt auf die Folgen der Handlung; sie weist eine weitere Leerstelle auf: Was kommt danach [für mich, oder: überhaupt]? Wie man diese Leerstelle füllt, entscheidet über das Verständnis des Spruchs; wählt man „für mich“, hat man die Frage eines Opportunisten vor sich, der nur auf seinen Vorteil bedacht ist; wählt man „überhaupt“, hört man die Frage eines Menschen, den man im Sinn Max Webers als Verantwortungsethiker bezeichnen könnte, weil er die Folgen seines Handelns für andere bedenkt. Welches die richtige Wahl ist, kann man bis jetzt noch nicht entscheiden.

Die zweite Frage „Ist es recht?“ wird oft missverstanden, weil Leser nicht zwischen dem Substantiv „Recht“ und dem Adjektiv „recht“ unterscheiden. Das Adjektiv „recht“ bedeutet „gerade; richtig; angemessen“ii. Etwas differenzierter steht in Hermann Pauls Wörterbuch: 1) Grundbedeutung „gerade“; 2) richtig (Gegensatz: unrecht und falsch); 3) speziell ist recht, was dem Gesetzen oder Geboten der Sittlichkeit entspricht (Gegensatz „unrecht“, nicht „falsch“); es folgen vier weitere Bedeutungen.iii Wir haben auf Wörterbücher zurückgegriffen, die den Sprachgebrauch Theodor Storms erfassen, da sie wenige Jahrzehnte nach 1858 erschienen sind; gerade die dritte bei Paul genannte Bedeutung von „recht“ kommt hier in Frage – Maßstab des Handelns sind dem Fragenden die Gebote der Sittlichkeit (und nicht die Gesetze des Staates, also das Recht).

Um die Leerstelle in der ersten Frage zu füllen, müssen wir den Kontext dieser Frage beachten, d.h. die Sätze als Text lesen; sie stellt nämlich das Gegenteil der zweiten Frage dar, was sich einmal aus der einschränkenden Partikel „nur“ ergibt, vor allem aber aus dem Gegensatz „der Freie / der Knecht“, denen die beiden Fragen zugeordnet werden – welche die des Freien ist, werden wir später untersuchen. Wenn wir also die beiden Fragen als Gegensätze auffassen müssen, können wir sie so umschreiben: „Egal, was recht ist – was kommt danach“ und „Was ist recht – egal, was danach kommt?“ Weil im Gedicht nur von zwei einzelnen Menschen die Rede ist, wird man die erste Frage so verstehen dürfen: „Was kommt für mich danach, was kommt für mich dabei heraus – egal, was recht ist?“

Auch der erweiterte Kontext des Gedichtes spricht für dieses Verständnis. Ich berufe mich auf ein anderes Gedicht Storms, das er im Oktober 1854 verfasst hat, „Für meine Söhne“. Dort heißt es in der ersten Strophe:

Hehle nimmer mit der Wahrheit!

Bringt sie Leid, nicht bringt sie Reue;

das ist, auf einen besonderen Fall angewandt, die Mahnung, recht zu handeln, ohne auf die Folgen zu achten. Dass der eigene Vorteil nicht der richtige Maßstab des Handelns ist, sagt Storm auch in den beiden letzten Strophen des gleichen Gedichts:

hüte deine Seele

vor dem Karrieremachen und

Halte fest: du hast vom Leben

Doch am Ende nur dich selber.

Das alles sind Lebensregeln im Sinn des Sprichwortes „Tue recht und scheue niemand.“ Dieses Sprichwort gehört zum noch einmal erweiterten Kontext des Gedichts, das zu einem breiten Strom europäischer Ethik und Lebensweisheit gehört, aus dem Sokratesiv, Jesus und andere herausragen.

So bleibt als letzte Frage die, wer von den beiden der Freie und wer der Knecht ist. „Knecht:“ bedeutetv ursprünglich Knabe, Knappe; später steht es im Gegensatz zu „Herr“, wird dann durch „Diener“ verdrängt, ist aber in der Landwirtschaft noch üblich. Anderseits bedeutet „Knecht“ seit alters auch „Unfreier“, leibeigener Knecht, bildlich etwa „der Sünde Knecht“ und dergleichen. Das Wörterbuch und der Gegensatz zu „Freier“ legen nahe, hier ebenfalls die negative metaphorische Bedeutung anzunehmen.

Wir haben also einen doppelten Gegensatz vor uns, dessen Paare durch „also“ (= „so“) einander als gleichartig zugeordnet werden:

der eine: danach? – der andere: recht?

der Freie                  – der Knecht

Rhetorisch könnte man die Zuordnung als Parallelismus lesen, dann wäre der eine der Freie und der andere der Knecht; man kann das Verhältnis der Paare aber auch als Chiasmusvi ansehen, dann ist der eine der Knecht und der andere der Freie.

Die Rhetorik lässt also beide Lesarten zu, so dass man vom Sinn her entscheiden muss, wer der Freie ist: Ist es derjenige, der nach den Maßstäben des Sittengesetzes handelt, oder ist es derjenige, der die Folgen seines Handelns kalkuliert? Kein Zweifel, der andere ist der Freie; der eine ist ein Knecht seines Gewinnstrebens, dem ethische Maßstäbe gleichgültig sind. Wessen Knecht wäre auch derjenige, der sich am Sittengesetz orientiert und dabei Nachteile, vielleicht sogar den Verlust des Lebens wie Sokrates riskiert?

Zweifellos stellt das Gedicht eine Mahnung dar, wie ein Freier statt als Knecht zu leben. Diese Mahnung steht in der großen Tradition europäischer Lebensweisheit: Sie besagt, dass man als Mensch erst frei wird, wenn man sich von der animalischen Sorge um den eigenen Vorteil (Was ist gut für mich?) befreit, den Blick weitet und sich fragt: Was ist richtig? Was ist gut für alle Menschen?

Diese Lesart kann nicht ernsthaft bezweifelt werden, wenn man die methodischen Schritte bedenkt, mit denen wir sie gefunden haben. Solches methodisch kontrollierte Lesen muss geübt werden – wir haben dazu diese Übung angestellt, in der ich reale Verständnisschwierigkeiten aufgegriffen habe (vgl. die Ergebnisse der Suche im Netz unter „Storm: Der eine fragt“!).

Methodisches Fazit:

Wir haben auf den Ebenen der Wörter, der Sätze und des Textes operiert. Um die Bedeutung der Wörter zu ermitteln, haben wir auf Wörterbücher und die grammatischen Kategorieren Adjektiv/Substantiv zurückgegriffen.

Um die Bedeutung der Sätze zu ermitteln, haben wir Leerstellen aufgespürt und gefüllt, außerdem den Zusammenhang der Sätze als Text beachtet. Dabei haben wir auf die Rhetorik zurückgegriffen.

Sinn gibt es auf der Ebene des Satzes, vor allem jedoch des Textes. Um den exakt zu bestimmen, haben wir den Text in seiner Struktur beschrieben und in einen Kontext gestellt – hier in den eines anderen Gedichtes des Autors und in die europäische Tradition der Gattung Sinnsprüche und Lebenslehren.

Zum Kontext gehört auch die Situation, in der ein Text geäußert wird; dazu konnten wir in diesem Fall nichts sagen; die literarische Gattung der Sinnsprüche musste ausreichen, um das sprachliche Handeln der Sprechers zu bestimmen.

i Storms Werke. Herausgegeben von Theodor Hertel. Kritisch durchgesehene und erläuterte Ausgabe. Erster Band. Leipzig und Wien o.J. (Vorwort datiert: Dezember 1918), S. 92

ii Moriz Heyne: Deutsches Wörterbuch, Dritter Band 1895, s.v. „recht“; alte Wörterbücher finden Sie in meinem Blog https://norberto42.wordpress.com aufgelistet und verlinkt.

iii Deutsches Wörterbuch von Hermann Paul, 1897

iv Apologie 28 b. Die Mahnungen der großen Lehrer stellen sich gegen die gängige Praxis: Angesichts der Bestrafung von Klagen „ist es sehr begreiflich, daß die Sclaven, wenn sie hinsichtlich ihrer Lage und des Charakters ihres Herrn befragt werden, fast ohne Ausnahme erwiedern: sie seien zufrieden und hätten einen guten Herrn. (…) Sie verhehlen die Wahrheit lieber, ehe sie die Consequenzen auf sich nehmen, welche aus dem Aussprechen derselben erwachsen können, und geben sich darin als ächte Mitglieder der menschlichen Gesellschaft kund.“ (Frederick Douglass: Sklaverei und Freiheit. Autobiographie, 1860, S. 86)

v Deutsches Wörterbuch von Hermann Paul, 1897; vgl das Zitat in der vorhergehenden Fußnote!

vi Von Chiasmus spricht man, wenn parallele Sätze kreuzweise entgegengesetzt (also in der Fom des griechischen Buchstabens Chi, etwa X) angeordnet sind; der Chiasmus dient vor allem dem Hervorheben von Gegensätzen. Beispiel: „Die Welt ist groß, klein der Verstand.“

Eine Erzählung verstehen – wie geht das?

Zugleich ein Beitrag zur Analyse von Borchert: Das Brot.

Am Beispiel von Borcherts Erzählung „Das Brot“ möchte ich exemplarisch untersuchen, welche Aspekte oder Dimensionen des Verstehens es dabei gibt. Ich beziehe mich auf die Textausgabe http://www.geschichte-projekte-hannover.de/filmundgeschichte/deutschland_nach_1945/ruckblickende-kurzfilme/die-filme-2/das-brot-2.html (Zeilenzählung der Seite, die nach Anklicken des Druckersymbols oben rechts angezeigt wird bzw. beim Ausdrucken vorliegt: 47 Zeilen).

  1. Die Bedeutung von Wörtern muss man kennen oder aus dem Kontext erschließen, damit man den Satz versteht. Der Satz (das Syntagma) ist die erste Dimension des Verstehens. Satz: „als sie mit der Hand über das Bett neben sich fuhr“ (Z. 2 f.); „fahren“ hat laut „Duden. Deutsches Universalwörterbuch“ (7. Aufl.) 11 Hauptbedeutungen, hier passt die Bedeutung 9.b) „[mit einer schnellen Bewegung] über, durch etwas streichen, wischen, eine schnelle Bewegung machen“. Wenn ich diese Bedeutung von „fahren“ kenne oder ahne, verstehe ich den genannten Satz (Wörter kann man also nicht verstehen, man kann nur ihre Bedeutung/en kennen).
  2. Aus den Sätzen in ihrer Abfolge kann man das erzählte Geschehen oder die beschriebene Situation verstehen (Z. 1-6, meistens aus den paradigmatischen Alternativen): wachte sie auf (eine Frau, hat geschlafen) / „Ach so!“ (personal erzählt: ihre Sicht) / in der Küche (vs. Schlafzimmer) / zu still (verlangt eine Erklärung) / das Bett neben sich … leer (hat einen Mann, der fehlt) / „Das war es“ (setzt „Ach so!“ und „zu still“ fort: Sie erklärt sich etwas.) / durch die dunkle Wohnung (bereitet „Licht“ vor) / „In der Küche trafen sie sich.“ (verfrühte Erklärung des Erzählers!) / Die Uhr… (Datierung) / „etwas Weißes“ (bereitet die Lösung vor) / „Sie machte Licht.“ (ermöglicht die Lösung) / „Sie standen sich im Hemd gegenüber. Nachts. Um halb drei. In der Küche“: Das ist die groteske Situation, in die schrittweise eingeführt wird; grotesk deshalb, weil Paare nachts normalerweise nebeneinander im Bett liegen. – Diese groteske Situation wird in zwei Schritten aufgelöst; das ergibt die Struktur der Erzählung (s.u.).
  3. In dieser Situation kann/muss man die Bedeutung von Ereignissen verstehen, d.h. verschiedene Sätze aufeinander beziehen. Beispiel: „Sie sah, dass er sich Brot abgeschnitten hatte.“ (Z. 7, mit nachfolgender Erklärung) <-> „‚Ich dachte, hier wär was’, sagte er und sah in der Küche umher.“ (Z. 11) Was die Frau sieht, widerspricht dem, was der Mann sagt (was sie hört); die Frau „sieht“ also, dass er lügt, was in Z. 17 ausdrücklich gesagt wird.
  4. „‚Ich habe auch was gehört’, antwortete sie…“ (Z. 12) – das ist ein zweideutiger Satz, weil sie damit sein Rumoren (Z. 1 f.) meint, während er das als Bestätigung seiner Lüge auffassen könnte. Der Leser kann diese Zweideutigkeit verstehen, der Mann nicht. – Die Frau wiederholt später ihren Satz (Z. 21), gibt ihm dort aber eine andere Bedeutung, was dem Leser durch die Fortsetzung „aber es war wohl nichts“ und den Erzählerkommentar „Sie kam ihm zu Hilfe (Z. 22) deutlich wird. Der Leser versteht, wie die Frau die groteske Situation entschärft.
  5. In oder aus der Situation der nächtlichen Begegnung und dem Lügen des Mannes ist es denkbar, dass einzelne Wendungen eine tiefere Bedeutung gewinnen. Ich denke dabei an die Wendung, das sie „im Hemd“ standen, was wiederholt gesagt wird (Z. 5, 12, 14). Sie finden beide, dass der jeweils andere im Hemd älter als sonst aussieht – hier wird also die Wahrheit offenbar („So alt wie er war.“, Z. 13), während der lügende Mann die Wahrheit nicht erkennt (vgl. Z. 14 f.). Die Kleidung verbirgt am Tag das wahre Alter, welches „im Hemd“ sichtbar wird.
  6. Der Erzählerkommentar „Sie kam ihm zu Hilfe.“ (Z. 22) hilft dem Leser, das Agieren der Frau zu verstehen.
  7. Die Struktur der Erzählung ist dadurch bestimmt, dass zunächst eine groteske Situation beschrieben wird (s. oben 2.), die dann in zwei Schritten (vgl. 6.) aufgelöst wird: Bis Z. 39 wird erzählt, wie die Frau sich bemüht, in der Nacht mit der Lüge ihres Mannes klarzukommen, und das auch mühsam schafft (er kann essen, sie kann schlafen, Z. 37-39). Dann wird nach einem Zeitsprung (V. 40) erzählt, welche Konsequenzen sie aus seinem heimlichen Brotdiebstahl zieht und wie sie wieder in ein normales Leben kommen.
  8. Welche Themen und Motive in dieser Struktur „arbeiten“, erkennt man am Kontrast Dunkel-Licht und am Wortfeld des Sehens: sehen, ansehen, aufsehen, aussehen. Die Kontraste und das Wortfeld sind miteinander im Zusammenspiel von Wahrheit und Lüge verschränkt, auch wenn sie hier analytisch gesondert untersucht werden: a) Zuerst ist es dunkel in der Wohnung, dann macht sie Licht (Z. 5). Im Licht erkennt man die groteske Situation und sie entdeckt die Lüge ihres Mannes; mit ihr kann sie dann leben, als sie wieder das Licht löscht (Z. 26). Am Abend ist es hell, aber sie geht von der Lampe weg (Z. 42), bis die neue Aufteilung des Brotes als richtig oder begründet von beiden akzeptiert ist – eine Konsequenz ihres Umgangs mit seiner Lüge. Dann setzt sie sich unter die Lampe an den Tisch (Z. 47). b) Die Wendungen des Sehens behandle ich kurz: „Sie sah“ (Z. 7, plus folgende Erklärung) die Wahrheit. Sie sah von dem Teller weg (Z. 10, dem Beweisstück des Diebstahls und der Lüge). Er sah (zur Bestärkung seiner Lüge) in der Küche umher (Z. 11). Sie fand, dass er im Hemd älter aussah als tagsüber (Z. 12 f.: „So alt wie er war.“). Sie sieht ziemlich alt aus, dachte er (Z. 13 f., mit falscher Erklärung). Sie sah ihn nicht an (Z. 17). Er sah sinnlos umher (Z. 19, vgl. Z. 11). Er sah zum Fenster hinaus (Z. 24, vgl. Z. 19). Sie will nicht nach dem Teller (Beweis seiner Lüge) sehen (Z. 25, vgl. Z. 10 und 17). – Als es dunkel ist (Z. 29), wird das Sehen durch das Hören ersetzt (unecht, Z. 34; sie hörte, Z. 37; sie atmete absichtlich tief und regelmäßig, Z. 37 f.). – Am Abend brennt die Lampe, aber sie ging von der Lampe weg (Z. 42, damit er sie bei ihrem Lügen nicht sah). Sie sah, wie er sich tief über den Teller beugte (Z. 44) und nicht aufsah (Z. 44, um sie nicht ansehen zu müssen). Erst nach einer Weile setzte sie sich unter die Lampe, also gut sichtbar ins Licht (Z. 47).
  9. Was wollte der Autor Borchert mit dieser Erzählung „sagen“? Das geht aus der Erzählung nicht hervor; dazu müsste man das Gesamtwerk und Äußerungen des Autors heranziehen.
  10. Was haben die Leser aus dieser Erzählung 1946 und in den folgenden Jahren gehört? Auch das geht nicht aus dem Text hervor; man könnte das Handeln der Frau vorbildlich finden (selbstloser Verzicht zugunsten des geliebten Mannes), man könnte es auch kritisch sehen (Klischee der opferbereiten Frau, Vorrecht des Mannes). Wie die Leser einen Text verstehen, kann man nur durch empirische Untersuchungen herausfinden.

Vgl. auch die Aufgaben zu dieser Kurzgeschichte (https://norberto42.wordpress.com/2016/11/08/aufgaben-zu-wolfgang-borchert-das-brot/), welche man nach dieser Analyse vielleicht überarbeiten müsste.

mindmapping – ein Mythos ist zerstört

Es gibt viele Leute, die das Mindmappen nicht genug loben können; ich war immer skeptisch, weil es sich dabei um ein nicht „sauber“ gegliedertes, nicht methodisch reflektiertes Sammeln handelt: Von den vier S (suchen, sammeln, sortieren, schreiben) werden nur die beiden ersten und eventuell das vierte realisiert, das wichtige dritte aber nicht.

Nun gibt es eine Untersuchung, die meine Skepsis bestätigt: http://www.wissenschaft-online.de/artikel/1061261; auch in der SZ stand heute die gleiche Meldung. Besser als Mindmappen ist der Versuch, etwas systematisch gegliedert zu erfassen; wenn man sich über Gesichtspunkte des Erfassens Rechenschaft gibt, ist man in der Phase des Verstehens angelangt, wohin man mit dem Mindmappen als einem reproduzierenden Verfahren nicht unbedingt kommt.

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Respekt: Bereits am 23. Januar ist dieser Beitrag in http://wiki.zum.de/Mindmapping erwähnt! Das könnte mich dazu verführen, die drei dort genannten Anleitungen zum Mindmappen kritisch zu untersuchen – mal sehen.

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Ich habe den ersten im Mindmap-Wiki empfohlenen Link geöffnet und möchte im Hinblick auf den brainman-Kommentar zu der dort gebotenen Mm-Einführung in Mm-Form Stellung nehmen:

Mind Mapping: Ein Schnellkurs

1. Ideen als Stichworte: Hier wird „Mindmapping“ als Thema vorgegeben; aber das ist kein Thema, sondern eben nur ein Stichwort. Themen könnten sein:

– Wie geht Mindmapping?

– Einführung in die Technik des Mindmapping

– Mindmapping im Vergleich mit anderen Techniken des Gliederns u.ä.

Unklar ist bei der Verwendung von Stichwörtern, was gemeint ist, also z.B. „Farben“: Kann man oder soll man Farben verwenden? Was besagt ein Pfeil, „siehe“ oder „daraus folgt“? Ein Pfeil ist ja nicht definiert!

Gedanken werden in Sätzen entfaltet, nicht in Stichworten!

2. Unklarheit in der Gliederung: „Akzeptanzprobleme“ (= Es bestehen Akzeptanzprobleme.) stellen keine Kritik am Mindmapping dar, sondern ergeben sich vielleicht aus der Kritik.

3. Was unter „Vorteile“ steht, ist nicht alles typisch fürs Mm. Verschiedene Aspekte und schriftliche Fixierung gibt es auch in der normalen Gliederung. „Ideen aufschreiben“ gehört nicht zu „allgemeine Vorteile“; der Zusammenhang der beiden Stichwörter ist unklar.

4. Wenn eine hierarchische Gliederung gelingt (Ich behaupte: Sie ist in Form der Stichwort-Notierung tendenziell unsauber!), stellt sie nichts anderes als eine normale Gliederung dar; vgl. den Anfang meines Aufsatzes über den Aufsatzunterricht unter https://norberto68.wordpress.com/2011/02/13/aufsatzunterricht-gliedern-erklaren-bewerten-erortern-kl-8-10-im-g9/.

5. Fazit: Die Mindmap ist die Vorstufe einer richtigen Gliederung, kann diese aber nicht ersetzen. Die Stichworte unterhalb des Themas müssen als Sätze formuliert werden, damit man ihre Zugehörigkeit zum Thema prüfen und sie selber in der richtigen Reihenfolge anordnen kann. (24. Januar 2011)

Um dies zu belegen, lade ich eine Datei zum Thema „Zweifel“ hoch, die ich als Unterrichtsergebnis im Netz gefunden habe – und ich frage alle mindmap-Verteidiger: Was zum Teufel besagen die Striche, die das zentrale Wort „Zweifel“ mit anderen Wörtern verbinden? Dienen die Striche nicht bloß dazu, die Unfähigkeit, die den Strichen entprechenden Beziehungen zu benennen, zu verschleiern? [Datei: bedeutung_des_zweifels]

Ein anderes Beispiel für eine nichtssagende Mindmap: https://www.mindmeister.com/de/211366084/gegenstr-mungen-zum-naturalismus-sthetizismus-symbolismus-neoklassik-neoromtanik-impressionismus – hier sind Schlagworte (Stichworte) aufgelistet, aber was besagen sie? Nichts, es sind nur Stichworte. Ständen da Sätze, gäbe es wenigstens Aussagen.