Phantasie: Wär‘ ich ein Baum … (Kästner)

Im Anschluss an die Idee dieses Gedichts von Erich Kästner (Trostlied im Konjunktiv) habe ich mit mehreren 7.  Klassen am Gymnasium einen Aufsatztyp entwickelt, in dem grammatisch der Gebrauch des Konjunktivs II geübt wird: Wenn ich ein Baum wäre…
Das sachliche Problem besteht darin, dass ich kein Baum bin und dementsprechend nicht „wissen“ kann, wie es ist, wenn ich ein Baum wäre. Lösung des Problems: Bei Kästner kann der Baum ungehindert wahrnehmen, denken und sprechen wie ein Mensch – aber er nimmt nicht Blitz und Mäuse wahr, sondern das bewegte Leben und Treiben der Menschen; was er dabei von den Menschen wahrnimmt, bezieht er auf seine ruhige, beständige Existenz als Baum. Es werden also zwei Lebensformen verglichen; damit ist eine neue Perspektive auf das menschliche Leben eröffnet. Es wird ein  M a ß s t a b  gesetzt, an dem menschliches Tun und Treiben gemessen wird – gemessen vom Erzähler, der sich in die Baumsituation versetzt hat; der Erzähler kann nur das „als Baum“ erkennen, was er selber als Mensch irgendwie ahnt oder weiß. Der Baum nimmt wahr, was auf der Erde, der Maulwurf (Wenn ich ein Maulwurf wäre…), was in der Erde geschieht; eine Uhr (Wenn ich eine Uhr wäre…) betrachtet die Menschen dagegen eher unter dem Aspekt, wie sie mit der Zeit umgehen resp. in der Zeit leben, und so weiter. Du gibst der Uhr Verstand und Gefühl, sie gibt dir dafür den Standpunkt und die Perspektive.
Sinnvoll wird bei der Baumperspektive die eigene Phantasie eingesetzt, wenn man sich fragt: Wo steht der Baum? Was nimmt er wohl an seinem Platz vom Treiben der Menschen wahr? Wie nimmt er es wahr? Wenn man das schafft (v.a. bei Tieren), ist das eine Sonderleistung. Man darf und muss sich oft darauf beschränken, „den Baum“ (den Träger der neuen Perspektive) als allwissend zu setzen: Er weiß auch Dinge, die er nicht „wahrnehmen“ kann.
Die Aufgabe ist missverstanden, wenn man eine baumbezogene Kritik am Menschen vornimmt (z. B. „Der Mensch raubt mir die Früchte.“). Sie muss vielmehr als Möglichkeit zur Kritik typischer Verhaltensweisen der Menschen begriffen werden, etwa aus der Uhr-Perspektive: Warum hetzen und beeilen sich die Menschen so? Warum haben sie keine Geduld? Oder: Wie gehen die Menschen mit Hindernissen (anders als der Fluss) um? Was machen sie (anders als der Fluss), wenn sie zu viel Lebenskraft besitzen? Literarisch spricht man hier von der Erzähltechnik der Verfremdung.
Als Rahmen der Erzählung kann man eine Einheit nehmen: die Einheit eines Lebens, eines Tages, einer Handlung bzw. Handlungsfolge (Maulwurf hätte Hunger, ginge auf Nahrungssuche, verletzte sich, probierte etwas anderes, würde erneut enttäuscht, …, zöge das Fazit). Man kann auch ähnliche Existenzmöglichkeiten durchspielen: als Stoppuhr, als Bahnhofsuhr, als Sonnenuhr…
Zur Form: Ich fordere, dass bei starken Verben auf den Gebrauch der grammatisch möglichen würde-Form verzichtet wird. Außerdem fordere ich, dass mindestens zehn Konjunktive starker Verben im Aufsatz verwendet werden. Die Stammformen der wichtigen starken Verben müssen also beherscht (und entsprechend vorher besprochen und geübt) werden.

Phantasie: Wenn ich ein Stein wäre (ein Versuch)
Wenn ich ein Stein wäre, läge ich vielleicht irgendwo am Wegesrand; ich hätte nichts weiter zu tun, als still da zu liegen, ob es nun regnete oder die Sonne schiene. Ich bräuchte mich um nichts zu kümmern, weil ich nie Hunger oder Durst bekäme; sogar wenn die Hunde mich bepinkelten, könnte mich das kaum stören; der nächste Regen wüsche die brennende Beize wieder ab. Ich wunderte mich über die Menschen, die mich bloß als nutzloses Ding ansähen; die Geschäftsleute sausten an mir vorbei, um keinen Termin zu verpassen; Hausfrauen eilten noch schnell ins Geschäft, weil sie bemerkt hätten, dass noch Gemüse fehlt; sogar die Rentner hätten keine Zeit, wenn sie zum Seniorentreff eilten oder noch unbedingt Karten für eine Extrareise in den Bayrischen Wald kaufen müssten. Ich allein wäre aller Sorgen ledig und würde staunend dem hektischen Treiben zuschauen; nichts könnte mich aufregen.
Neben mir lägen oder stäken andere Steine im Boden; die einen wären etwas dicker, die anderen stärker abgeschliffen, manche sähen schon älter und verwittert aus, manche glänzten aufgrund ihrer kristallinen Struktur. Aber wir alle wären einfach Steine; keiner bildete sich etwas auf seine Härte ein, keiner wollte unbedingt oben liegen, keiner käme sich schöner vor als der andere. Anders als bei den Menschen gäbe es bei uns keinen Neid, keine Schönheitskonkurrenz und keine Schlankheitskuren; keiner bräuchte ins Fitnessstudio zu gehen, keiner würde ins Altersheim abgeschoben. Wir alle wüssten, dass wir Steine aus dem Bauch der Mutter Erde sind; wir wären und blieben miteinander befreundet.
Wenn ich ein Stein wäre, bräuchte ich keine Angst vor dem Tod zu haben. Die ganz alten Kollegen wüssten ein Geheimnis, das sie in den langen Winternächten murmelnd mitteilten: Kein einziger bleibt, wie er ist; jeder beginnt sein Leben kantig und neu, jeder wird im Lauf der Jahre abgeschliffen, jeder zerfällt; aber jeder Stein und jedes Sandkorn bleibt der Erde verbunden. Wir versuchten wohl, den Menschen unser Geheimnis mitzuteilen; aber sie wollten nicht auf uns hören. Sie jagten ihrer Jugend nach, klagten über Krankheiten und fürchteten das Alter, als ob sie nicht Kinder der Erde wären. Vollends verzweifelte ich, wenn ich ein Diamant wäre; die Menschen liebten mich mehr als ihre Geschwister – sie sind ja hart wie Stein. Fassungslos stände ich vor so viel Unverstand, wenn ich ein Stein wäre.

P.S. Nach einem kurzen Austausch mit der Kommentatorin Marie habe ich gemerkt, dass unter den Stichwörtern „Wär ich ein Baum“ oder „Wäre ich ein Baum“ viele Texte abgefasst sind; wenn man die genannten Suchwörter (ohne jede weitere Angabe!) eingibt, sieht man, wie fruchtbar Kästners Formel gewesen ist. 27. Sept. 2006 [Dieses P.S. aus dem Jahr 2006 zeigt, dass der ganze Beitrag älter und aus einem untergegangen Blog übernommen worden ist. Die Kommentatorin Marie gab es früher mal, ihr Kommentar ist mit dem alten Blog untergegangen.]

Es gibt übrigens ein Gedicht gleichen Titels von Ulla Hahn: http://www.onlinekunst.de/gedichte/ulla_hahn.html

P.S. Etwas ganz anderes ist das, was Daliah Lavi vor 50 Jahren in ihrem Schlager „Wär‘ ich ein Buch im Leben“ (https://www.youtube.com/watch?v=9cW_Fv7uS7k) gesungen hat: Dort wird das eigene Leben allegorisch ins Buchhafte übersetzt, das Buch als eigene Existenzform also nicht wahr- oder ernstgenommen.

Der Engländer Charles Foster hat jetzt ein Buch „Der Geschmack von Laub und Erde“ veröffentlicht (http://www.focus.de/kultur/buecher/literatur-ueber-den-versuch-ein-fuchs-zu-sein_id_6611120.html), in dem er beschreibt, wie er als Fuchs zu leben versuchte. Aber auch das ist etwas ganz anderes, als Kästner in seinem Gedicht ausdrückt.

4 thoughts on “Phantasie: Wär‘ ich ein Baum … (Kästner)

  1. Noberto, ich bin begeistert: Ich habe vorgeschlagen, zu Kästners Gedicht ein Parallelgedichte zu schreiben. Ein Beispiel findest Du in meinem Buch : Rita Zellerhoff (2013): Vielfalt der sprachlichen Bildung, Handlungsorientierte und erfahrungsoffene Wege zur Sprachkultur, Frankfur/M.: Peter Lang Edition, S. 155.

    • Liebe Frau Dr. Zellerhoff,
      da ich meinen Beitrag kostenlos zur Verfügung stelle, fände ich es fair, wenn Sie mir eine Kopie des Gedichtes schickten oder das Gedicht hier veröffentlichten, statt nur Reklame für Ihr Buch zu machen.
      Im Übrigen danke ich Ihnen für das Lob.

      • Lieber Norberto, das Gedicht habe ich in Erinnerung an die gegenseitige Zuneigung meiner Eltern geschrieben, die sich während der russischen Gefangnschaft meines Vaters beim Betrachten der Sterne verbunden fühlten:

        Trostlied in der Ferne

        wär´ich ein Stern
        blinkte vom Himmel herab zu dir,
        grüßte dich
        in der Ferne von mir.
        Du wärest zwar weit fort
        doch ich fühlt mich bei Dir

        Mit lieben Grüßen

        Rita Zellerhoff

  2. Liebe Frau Dr. Zellerhoff,

    vielen Dank für Ihre Bereitschaft, das persönliche Gedicht hier zu veröffentlichen! Es erinnert mich an „Wenn ich ein Vöglein wär‘ …“
    Kästners Gedicht ist mit seinem kritischen Potenzial anders gestrickt, es nimmt die fremde Perspektive unpersönlich ernster, baut sie aus.
    Gleichwohl sind die Gedichte im „Wenn ich wär'“-Gestus miteinander verbunden.

    Herzlichen Gruß nach Düsseldorf, norberto alias Norbert Tholen

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