Überprüfen und überarbeiten – Bedeutung

Wie man beim Überarbeiten zu neuen Einsichten kommen kann, möchte ich am Beispiel meiner Analyse von Rilkes Gedicht „Archaischer Torso Apolls“ zeigen (https://norberto42.wordpress.com/2014/08/09/rilke-archaischer-torso-apollos-interpretation/). Bei meiner Interpretation von 2014 habe ich mich auf die Ausführungen Aleida Assmanns und Michael Stahls (s. dort) verlassen. Heute habe ich nun die Ausführungen Stahls anhand verschiedener alter Wörterbücher und des Großen Meyers von 1905 (bei zeno.org) überprüft und für einseitig bzw. falsch befunden. Aufgrund dieser Überprüfung bin ich zu einem einfachen Verständnis des Gedichtes gekommen – hier ist die Passage, die heute neben kleineren Korrekturen neu hinzugekommen ist:

Was Michael Stahl sagt, stimmt nur zum Teil: Nicht „archaisch“ hatte um 1900 einen negativen Beigeschmack, sondern „archaistisch“ als „veraltet, altväterisch“ oder „Nachahmung von etwas Altertümlichem“, wogegen „archaisch“ das echt Altertümliche bezeichnete (Meyers Großes Konversations-Lexikon 1905). Auch „Torso“ war nur in der gängigen metaphorischen Bedeutung negativ; „in der Kunstsprache der Rumpf einer Bildsäule, der Kopf, Arme und Beine fehlen“ (Meyers 1905). Am wichtigsten ist allerdings, zu wissen, wofür Apollo(n) steht: „in der griech. Mythologie Sohn des Zeus und der Leto, die ihn nebst seiner Zwillingsschwester Artemis nach der verbreitetsten Sage auf der Insel Delos gebar. Seinem ursprünglichen Wesen nach erscheint A. als ein Gott des Lichtes in seiner heilsamen wie verderblichen Wirkung; zum eigentlichen Sonnengott an Stelle des Helios ist er erst im Laufe der Zeit geworden. Als den »Lichten«, »Leuchtenden« bezeichnet ihn sein Beiname Phöbos, zugleich als den »Reinen«, »Heiligen«; denn als Gott des reinen Lichtes ist er Feind aller Finsternis und alles ihr verwandten Unreinen, Unholden und Frevelhaften.“ (Meyers, 1905) Es kommt sehr wohl darauf an, dass Rilke vor einem Torso Apollos gestanden hat bzw. dass er den Torso für einen solchen des Gottes Apollon gehalten hat. – Mit diesem Wissen kann man den Gedankengang des Gedichts verstehen:

  • Apollos Torso hat keinen Kopf und keine Augen.
  • Aber er strahlt Licht aus und sieht dich an.
  • Deshalb musst du dein Leben ändern.

Dass der Torso Licht aussendet, ist mehrfach gesagt (glüht, V. 3; glänzt, V. 5; flimmert, V. 11; bricht aus wie ein Stern, V. 12 f.); dieses Glänzen wird als verhaltenes Schauen erkannt (V. 4 f.). Da nun Apollo der Gott des reinen Lichtes ist, fordert sein Blick dich dazu auf, selber rein zu werden, also dein Leben zu ändern. Diese Aufforderung entspricht dem späteren Aufruf Jesu zur Umkehr (Mk 1,15); während Jesus sich dafür jedoch auf die Nähe der Gottesherrschaft berief, ist Apollos Aufruf archaisch: Allein das strahlende Licht ist in sich der Appell, allem Dunklen zu entsagen und selber rein und klar zu werden. – In diesen Gedankengang muss man alle Beobachtungen zur Sprache des Gedichtes einordnen.

Wenn man prüft, was diese Ergänzung im Kontext der alten Analyse bedeutet, sieht man: Damit ist eigentlich erst das (einfache!) Verständnis des Gedichts erreicht. Wie wichtig diese Ergänzung ist, sieht man zum Beispiel in einem Vergleich mit der Seite https://www.mein-lernen.at/deutsch/rilke-archaischer-torso-apollos-interpretation: Dort sind mancherlei Beobachtungen zur sprachlichen Form genannt – und unabhängig davon, ob sie alle richtig sind, ist das Gedicht nicht verstanden, wie man am letzten Satz auf besagter Seite sieht; der Zusammenhang zwischen den Lichtphänomenen, der Gestalt Apollo und der Aufforderung, sein Leben zu ändern, wird nicht erkannt. Auch ich habe ihn erst gesehen, als ich Michael Stahls Ausführungen überprüft und die Änderungen reflektiert habe.

Eine solche Form des Überarbeitens ist natürlich etwas anderes, als wenn man bloß Rechtschreibung und Syntax einer eigenen Arbeit noch einmal kurz überfliegt…

Texte überarbeiten – ein Beispiel

Ich stelle zunächst den Entwurf „Verpasste Kindheit“ meines amerikanischen Freundes Merrill Lyew vor, der vor gut 40 Jahren mehrere Jahre in Deutschland gelebt hat. Es handelt sich um ein sogenanntes Drabble oder eine Miniaturgeschichte oder Fan Fiktion von genau 100 Wörtern, wenn man den Titel nicht mitzählt. Man führt den Leser in die Irre und am Ende ist die Pointe eine unerwartete Wende. „Vergangen“ ist dann die von mir überarbeitete Version.

 

Verpasste Kindheit 

Bei der Hochschulanmeldung wurde ich zunächst aufgefordert, erst einmal Platz zu nehmen und zu warten.

Kurze Zeit später betrat ein Polizist das Büro und bat mich, ihn auf das Revier zu begleiten, es gäbe dort eine wichtige Angelegenheit zu klären.

Arglos folgte ich dem Polizisten, weil ich mir keiner Schuld bewusst war und hoffte darauf, dass es sich lediglich um ein Missverständnis handeln könnte.

Ein älterer Offizier wühlte in staubigen Akten und zog kurz darauf ein vergilbtes Blatt hervor.

Es war ein Fahndungsplakat mit meinem Konterfei als fünfjähriges Kind.

Als gesuchter Kindesentführer stand unter einem Fahndungsfoto der Name meines Vaters…

 

Erläuterung:

Als Fehler sehe ich den Verstoß gegen die innere Logik der Fahndung an: Wenn jemand aktuell noch gesucht wird, muss das Fahndungsplakat griffbereit sein (im Regal), auch wenn es alt (vergilbt) ist.

Die Überschrift schien mir nicht zum Text zu passen, ich denke eher an „Zeitreise“ o.ä.: dass die Vergangenheit plötzlich gegenwärtig wird. Ich habe „Vergangen“ gewählt, weil das zwischen „Vergangenheit“ und „Vergehen“ (= Verbrechen) changiert.

Die anderen Änderungen betreffen Kleinigkeiten:

 

Vergangen

Im Sekretariat der Hochschule wurde ich gebeten, erst einmal Platz zu nehmen und zu warten. Kurze Zeit später betrat ein Polizist das Büro und forderte mich auf, ihn auf das Revier zu begleiten, es gebe dort eine wichtige Angelegenheit zu klären.

Arglos folgte ich dem Polizisten, weil ich mir keiner Schuld bewusst war; ich nahm an, dass es sich lediglich um ein Missverständnis handelte.

Im Polizeibüro holte ein älterer Wachtmeister eine Akte aus dem Regal und zeigte mir ein vergilbtes Blatt – ein Fahndungsplakat mit meinem Konterfei als fünfjähriges Kind. Unter einem Fahndungsfoto stand der Name des gesuchten Entführers: meines Vaters…

 

Merrill Lyew hat sich für den Titel „Die Anmeldung“ entschieden, weil „Vergangen“ sich so anhöre, als hätte sich der Vater am Kind vergangen. – Die Erzählung beruht auf einer Begebenheit in den USA, wo ein Vater nach der Scheidung sein Kind entführt hatte und untertauchen konnte; erst bei der Immatrikulation des Kindes sind die Behörden auf Unstimmigkeiten gestoßen.

Noch ein Beispiel: Ein Text Merrill Lyews:

Die Erbschaft

Herbert sitzt mit besorgtem Gesichtsausdruck, die zittrigen Hände im weißen Schopf, am Tisch im Esszimmer des kleinen Reihenhauses. Die dunkelblaue, nach Mottenkugeln riechende Jacke hängt an seinem hageren Körper wie ein ausgeleierter Kittel. Er wartet ungeduldig auf seinen Sohn, denn er will das Anliegen schnellstmöglich erledigen.

Günther hastet aus seinem Schlafzimmer zum Wandspiegel in der Diele. Schnell schiebt er seine Krawatte zurecht und glättet noch einmal sein Haar. Heute muss er gut aussehen, denn Susanne wartet auf ihn. Er kann es kaum erwarten. Deshalb schlägt er seinem Vater vor, ihn zuerst in Altenheim zu fahren und dann später noch einmal bei ihm vorbeizukommen. Schweren Herzens erklärt sich Herbert einverstanden, fügt aber mit weicher Stimme hinzu:

„Vergiss es bitte nicht, es ist sehr wichtig.“

Günther hört nur flüchtig hin.

„Ja, ja Vati“ erwidert er gelangweilt. „Ich komme bestimmt, du kennst mich doch. Jetzt müssen wir aber schnell zum Auto.“

Eine leichte Brise weht den Duft von frisch gemähtem Gras durch den Stadtpark. Susanne reagiert mit heftigem Niesen und rot werdenden Augen darauf. Sie wartete bereits auf der Parkbank am Brunnen, wo sie sich verabredet hatten.

„Ich merke schon, Du bist allergisch auf mich“, scherzt Günther als er auf sie zuläuft.

„Das glaube ich auch, du Witzbold.“

Susanne muss erneut niesen.

„Gehen wir ins Kino?“, fragt sie schniefend.

„Es ist ganz in der Nähe.“

„Was wird gezeigt?“

„Das Schloss“, antwortet die Kollegin.

Günther lässt sich kein zweites Mal bitten, trotzdem er in der Schulzeit das Originalwerk lesen musste. Für Susanne hätte er fast alles getan.
Es ist schon fast dunkel als die beiden aus dem Kino kommen.

Wieder zu Hause zieht Günther seine schwarzlackierten Schuhe aus, serviert sich ein Glas Scotch, setzt sich aufs Liegesofa und tastet nach der Fernsehfernbedienung auf dem Tisch dahinter. Da läutet ein Glockenschlag wie von Big Ben, es ist sein Handy.

„Ja, der bin ich“, antwortet Günther dem Anrufer freundlich. Plötzlich schaut er schreckensbleich mit weit geöffneten Augen ins Leere. Er muss heftig schlucken, um den Kloß in seinem Hals hinunterzuwürgen.

„Wie bitte?“, wispert er mit bebenden Lippen. „Wie… wieso tot? Ich …“

Sein vor Schwindel schwankender Blick fällt auf die Aktentasche, in der immer noch die unterschriftlose Erbschaftsurkunde seines Vaters steckt.

Die von mir überarbeitete Fassung:

Die Erbschaft

Herbert sitzt mit besorgtem Gesicht, die zittrigen Hände im weißen Haar, am Tisch im Esszimmer des kleinen Reihenhauses. Eine dunkelblaue, nach Mottenkugeln riechende Jacke hängt an seinem hageren Körper wie ein ausgeleierter Kittel. Er wartet ungeduldig auf seinen Sohn, denn er will sein Vorhaben möglichst bald erledigen.

Günther hastet aus seinem Schlafzimmer zum Wandspiegel in der Diele. Schnell schiebt er die Krawatte zurecht und glättet noch einmal sein Haar. Heute muss er gut aussehen, denn Susanne wartet auf ihn. Er kann es kaum erwarten, bei ihr zu sein. Deshalb schlägt er seinem Vater vor, ihn zuerst ins Altersheim zu bringen und dann später noch einmal bei ihm vorbeizuschauen. Schweren Herzens erklärt sich Herbert einverstanden, fügt aber mit weicher Stimme hinzu: „Vergiss es bitte nicht, es ist sehr wichtig; und vergiss die Tasche nicht!“ Günther hört nur flüchtig hin. „Ja, ja, Vati“, erwidert er unaufmerksam. „Ich komme bestimmt, du kennst mich doch. Jetzt müssen wir aber schnell zum Auto.“

Eine leichte Brise weht den Duft von frisch gemähtem Gras durch den Stadtpark. Susanne reagiert mit heftigem Niesen und geröteten Augen darauf. Sie wartet bereits zehn Minuten auf der Parkbank am Brunnen, wo sie sich treffen wollten.

„Ich merke schon, Du bist allergisch gegen mich“, scherzt Günther, als er auf sie zu geht. „Das glaube ich auch, du Witzbold.“ Susanne muss erneut niesen. „Gehen wir ins Kino“, fragt sie schniefend, „es ist ganz in der Nähe?“ „Was wird gezeigt?“ „Das Schloss“, antwortet die Kollegin. Günther lässt sich kein zweites Mal bitten, obwohl er in der Schulzeit dem Roman nichts abgewinnen konnte. Für Susanne hätte er fast alles getan.

Wieder zu Hause zieht Günther seine schwarzen Lackschuhe aus, serviert sich ein Glas Scotch, setzt sich aufs Liegesofa und tastet nach der Fernsehfernbedienung; er will sich ein wenig entspannen, ehe er zum Vater fährt. Da erklingt ein Glockenschlag wie von Big Ben, es ist sein Handy.

„Ja, der bin ich“, antwortet Günther dem Anrufer freundlich. Dann schaut er schreckensbleich mit weit geöffneten Augen ins Leere. Er muss heftig schlucken, um den Kloß in seinem Hals hinunterzuwürgen. „Wie bitte?“, wispert er mit bebenden Lippen. „Wie… wieso tot? Ich …“

Sein schwankender Blick fällt auf die Aktentasche, in der das Testament steckt, in dem nur noch Datum und Unterschrift seines Vaters fehlen.

Derzeit stört mich noch der Glockenschlag von Big Ben, der ist für ein Handy zu laut. Merrill hat dann meinen Text noch einmal leicht überarbeitet.

Schlink: Der Vorleser – Inhaltsangabe: Beispiel für Technik des Überarbeitens

Bei den Vorarbeiten für eine Lektürehilfe, die im Stark-Verlag erscheinen sollte, aber dann doch nicht zustande gekommen ist, habe ich mehrere Fassungen einer Inhaltsangabe vorgelegt – an diesem Beispiel kann man studieren, was es heißt, einen Text zu überarbeiten.

Inhaltsangabe
1. Fassung

Schlinks Roman „Der Vorleser“ ist 1995 erschienen; in ihm wird erzählt, welche Bedeutung Hanna in verschiedenen Epochen von Michaels Leben hatte.
Im ersten Teil (17 Kapitel) berichtet der Ich-Erzähler Michael Berg in einem deutlich erkennbaren, aber zeitlich nicht bestimmten Abstand („heute“, S. 8), wie er im Alter von 15 Jahren eher zufällig eine Frau von 36 Jahren namens Hanna Schmitz kennenlernt, die ihm bei einer Übelkeit beisteht und ihn bei einem Besuch verführt. Michael, Sohn eines Philosophieprofessors und Schüler der Untersekunda (Kl. 10), hat drei Geschwister; die Familie wohnt offensichtlich in Heidelberg. Die Liebesgeschichte bedeutet für ihn den Abschied von der Familie (S. 32 f.).
Das Eigentümliche der Beziehung zu Hanna besteht darin, dass die beiden in ihrer Liebesbeziehung ein Ritual entwickeln: vorlesen, duschen, miteinander schlafen. So wird er für Hanna zum Vorleser, der ihr deutsche Dramen und den „Taugenichts“, aber auch Tolstois „Krieg und Frieden“ im Lauf des Frühlings und des Sommers 1959 vorliest. Einen Höhepunkt bildet die Fahrradtour in den Odenwald, welche sie in den Osterferien unternehmen; durch die Beziehung zu Hanna wird Michael selbstsicher.
Nach der Versetzung in die Obersekunda (Kl. 11) lernt Michael neue Mitschüler kennen, darunter auch Sophie, die er neben Hanna mag (S. 64 ff.). Michael findet stärker als bisher Anschluss an seine Klasse; es beginnt aus seiner Sicht „der Gleitflug unserer Liebe“ (S. 67). Er empfindet es als Verrat, dass er sich in der Öffentlichkeit nicht zu Hanna „bekennt“. Einen Tag, nachdem er sie überraschenderweise im Schwimmbad gesehen hat, ohne zu ihr hin zu rennen, ist Hanna spurlos aus der Stadt verschwunden.
Die Erzählung wird häufig von Erinnerungen, Reflexionen und Erklärungen Michaels unterbrochen: wie das Haus aussah, in dem Hanna gewohnt hat (I 2); was an ihr ihn fasziniert hat (I 4); welches Muster sein Handeln und Denken bestimmt (I 5); warum er traurig wird, wenn er an diese Zeit denkt (I 9). Er lädt durch Fragen indirekt die Leser ein, sich mit seinen Problemen zu identifizieren: „Geht das allen so?“ (S. 64)

Im zweiten Teil des Romans (wieder 17 Kapitel) erzählt Michael, wie er sieben Jahre später, im Frühjahr 1966, als Jurastudent eher zufällig einen Prozess beobachtet, in dem neben anderen Frauen gegen Hanna als ehemalige Aufseherin in einem KZ verhandelt wird. Neben der Thematik, wie er nach sieben Jahren zu seiner ehemaligen Geliebten steht, tritt die Frage in den Vordergrund, wie man 20 Jahre nach Ende des Dritten Reiches die ehemaligen Täter verstehen oder verurteilen kann – oder konnte; der Erzähler nimmt auch aus seiner heutigen Sicht zu den Bemühungen der Studenten um „Aufarbeitung der Vergangenheit“ als einem anmaßenden Unterfangen Stellung (II 2).
Im Prozess wird bekannt, dass Hanna sich auch im KZ etwas von jungen Mädchen hat vorlesen lassen (II 7). Es werden die beiden Aspekte der Mithilfe bei Selektionen und der unterlassenen Hilfeleistung während eines Gefangenentransportes verhandelt; Hanna verteidigt sich ungeschickt und wird am härtesten bestraft. Michael entdeckt während des Prozesses, dass Hanna nicht lesen kann und dass sie deswegen auch Taten zugibt, die sie nicht getan haben kann (II 10) ; er bespricht mit seinem Vater, ob man in diesem Fall gegen den Willen eines Betroffenen die Wahrheit seiner Behinderung offen legen darf (II 12). Ferner berichtet Michael von dem gescheiterten Versuch, sich in einem kleinen KZ ein Bild von der Vergangenheit zu machen (II 14). – Der vorsitzende Richter, den Michael besucht (II 16), wird ausführlich als Person dargestellt; er ist ein seiner Sache sicherer Jurist, zu dem Michael später nicht werden will (III 4).

Im dritten Teil des Romans wird erzählt, wie Hanna in Michaels Leben fortlebt; die erzählten Ereignisse sind ziemlich genau datierbar: Michael setzt sein Studium fort (ab Sommer 1966), macht einen Skiurlaub im Winter 1967, erkrankt und lernt Gertrud kennen; als Referendar heiratet er sie, als sie schwanger wird; sie werden geschieden, als die Tochter Julia fünf Jahre ist (ca. 1973). Für die Frauen, mit denen er zu tun hat, ist Hanna sein Maßstab, dem sie nicht genügen (S. 164 ff.); nach seinem während des Prozesses erkennbaren Verhältnis zu Hanna wird er von einem früheren Kommilitonen gefragt (S. 169 f.). – Michael wird Rechtshistoriker, weil er an den Möglichkeiten der Rechtsprechung zweifelt (S. 171 ff.).
Nach der Trennung von seiner Frau liest Michael die „Odyssee“, spricht sie auf Kassette und schickt diese an Hanna, danach zehn Jahre lang weitere Titel (etwa ab 1974). Hanna lernt schreiben (ca. 1977) und schreibt Michael auch, aber er antwortet nicht.
Eine Woche vor Hannas Entlassung aus dem Gefängnis (1984) besucht Michael sie dort (III 8); er trifft eine alte Frau, die ihm fern steht und sich weigert, den Lebenden Rechenschaft für ihre Taten zu geben (S. 187). Michael bereitet alles für ein neues Leben Hannas in der Freiheit vor, doch sie erhängt sich am Morgen des Tages ihrer Entlassung. Die Anstaltsleiterin gibt ihm ein Bild von Hanna in ihrer Gefangenschaft (III 10). Im Herbst des Jahres öffnet ihm in New York eine überlebende Jüdin, der er Geld von Hanna bringt, die Augen darüber, dass Hanna ihm etwas angetan hat (S. 202).
Im letzten Kapitel (III 12) spricht Michael zehn Jahre später (1994) über Hannas Geschichte, wie er sie geschrieben hat: dass sie so geschrieben werden wollte, wie sie jetzt da steht, dass sie rund ist und ihn nicht mehr traurig macht. Dann widerspricht er sich selbst: „Vielleicht habe ich unsere Geschichte doch geschrieben, weil ich sie loswerden will, auch wenn ich es nicht kann.“ (S. 206)
Auch im dritten Teil des Romans gibt es wieder Reflexionen über Kollektivschuld (III 1), über das Recht und die Rechtsgeschichte (III 4), vor allem aber über sein Verhältnis zu Hanna: Er hat an seiner Liebe zu Hanna gelitten – aber dieses Leiden war „in gewisser Weise das Schicksal meiner Generation, das deutsche Schicksal“ (S. 163).

2. Fassung

Schlinks Roman „Der Vorleser“ ist 1995 erschienen; in ihm wird von Michael Berg im Rückblick erzählt, welche Bedeutung Hanna Schmitz in verschiedenen Epochen von Michaels Leben hatte.

Im ersten Teil (17 Kapitel) berichtet der Ich-Erzähler Michael Berg in einem deutlich erkennbaren, aber zeitlich nicht bestimmten Abstand („heute“, S. 8), wie er im Alter von 15 Jahren eher zufällig eine Frau von 36 Jahren namens Hanna Schmitz kennenlernt, die ihm bei einer Übelkeit beisteht und ihn bei einem Besuch verführt. Michael, Sohn eines Philosophieprofessors und Schüler der Untersekunda (Kl. 10), hat drei Geschwister; die Familie wohnt offensichtlich in Heidelberg. Die Liebesgeschichte bedeutet für ihn den Abschied von der Familie (S. 32 f.); ihre Liebe gerät in eine Krise, Hanna verschwindet plötzlich aus der Stadt.
Als Michael sich wegen einer heraufziehenden Gelbsucht im Herbst 1958 auf der Straße übergibt, säubert Hanna Schmitz ihn und bringt ihn nach Hause (I 1). Michael bedankt sich im Frühjahr 1959 dafür und lernt dabei Hannas Wohnung kennen (I 3); er schaut die Frau voller Begehren an und rennt weg, als Hanna das bemerkt (I 4). Als er sie erneut besucht, macht er sich total schmutzig, als er für sie Kohlen holt (I 6); er muss sich deshalb baden und wird anschließend von Hanna verführt. Er verliebt sich in Hanna und besucht sie täglich. Wichtig ist ein Streit am ersten Tag der Osterferien: Michael ist früh mit der Straßenbahn gefahren, weil Hanna als Schaffnerin arbeitet; sie beachtet ihn nicht, weil er im hinteren Waggon sitzt. Als er sich am Mittag bei ihr beschwert, weist sie ihn ab, was er nicht erträgt: Er unterwirft sich völlig, um ihre Liebe nicht zu verlieren (I 10).
Auf einer Radtour, die sie als „Mutter mit Sohn“ in den Osterferien unternehmen, ist Michael der Organisator; er wählt die Strecke und die Hotels aus und bestellt das Essen – verdeckte Hinweise darauf, dass Hanna nicht lesen kann. Einen deutlicheren Hinweis gibt es beim Streit in Amorbach, bei dem Hanna Michael mit einem Lederriemen schlägt: Michael will Hanna am frühen Morgen mit einer Rose überraschen und hat sich schriftlich „abgemeldet“; Hanna hat den Zettel „nicht gefunden“ und denkt, Michael habe sie verlassen. Die Versöhnung führt zu größerer Liebesinnigkeit (I 11). Michael besticht nach der Heimkehr seine Schwester durch Kleidung, die er stiehlt; so kann er während der Ferien mit Hanna allein sein. Einmal besucht sie ihn zu Hause, als seine Eltern in Urlaub sind (I 12)
Das Eigentümliche der Beziehung zu Hanna besteht darin, dass die beiden in ihrer Liebesbeziehung ein Ritual entwickeln: vorlesen, duschen, miteinander schlafen. So wird er für Hanna zum Vorleser, der ihr deutsche Dramen (Kabale und Liebe; Emilia Galotti) und den „Taugenichts“, aber auch Tolstois „Krieg und Frieden“ im Lauf des Frühlings und des Sommers 1959 vorliest – ein weiterer Hinweis auf Hannas Analphabetismus.
Nach der Versetzung in die Obersekunda (Kl. 11) lernt Michael neue Mitschüler kennen, darunter auch Sophie, die er neben Hanna mag (I 13). Michael findet stärker als bisher Anschluss an seine Klasse; es beginnt aus seiner Sicht „der Gleitflug unserer Liebe“ (I 14). Er empfindet es als Verrat, dass er sich in der Öffentlichkeit nicht zu Hanna „bekennt“; in der Nachbarstadt gehen sie gemeinsam ins Theater, sonst sehen sie sich nur in Hannas Wohnung. Hanna lebt im Sommer unter einem merkwürdigen Druck; einen Tag, nachdem er sie überraschenderweise im Schwimmbad gesehen hat, ohne zu ihr hin zu rennen (I 16), ist Hanna spurlos aus der Stadt verschwunden (I 17). Es stellt sich heraus, dass sie zur Fahrerin befördert werden sollte (I 17) – eine Parallele zur Beförderung bei Siemens im Jahr 1943 (II 3).
Die Erzählung wird häufig von Erinnerungen, Reflexionen und Erklärungen Michaels unterbrochen: wie das Haus aussah, in dem Hanna gewohnt hat (I 2); was an ihr ihn fasziniert hat (I 4); welches Muster sein Handeln und Denken bestimmt (I 5); warum er traurig wird, wenn er an diese Zeit denkt (I 9). Er lädt durch Fragen indirekt die Leser ein, sich mit seinen Problemen zu identifizieren: „Geht das allen so?“ (S. 64)

Im zweiten Teil des Romans (17 Kapitel) erzählt Michael, wie er sieben Jahre später, im Frühjahr 1966, als Jurastudent eher zufällig einen Prozess beobachtet, in dem neben anderen Frauen gegen Hanna als ehemalige Aufseherin in einem KZ verhandelt wird. Neben der Thematik, wie er nach sieben Jahren zu seiner ehemaligen Geliebten steht, tritt die Frage in den Vordergrund, wie man 20 Jahre nach Ende des Dritten Reiches die ehemaligen Täter verstehen oder verurteilen kann – oder konnte; der Erzähler nimmt auch aus seiner heutigen Sicht zu den Bemühungen der Studenten um „Aufarbeitung der Vergangenheit“ als einem anmaßenden Unterfangen Stellung (II 2). Das Urteil des Gerichts über Hanna fällt auch deshalb hart aus, weil sie ihren Analphabetismus auf jeden Fall verbergen will, den Michael als einziger plötzlich entdeckt. Michael erzählt, wie er nach dem Abitur Jura studiert hat und an einem Seminar über „Aufarbeitung der Vergangenheit“ teilnimmt (II 2); er sieht Hanna als Angeklagte (II 2) und stellt fest, dass ihr Schicksal ihn nicht berührt (II 3). Sie ist mit anderen Frauen angeklagt, in einem KZ an der Selektion mitgewirkt sowie eine Gruppe von Häftlingen auf einem Marsch nicht aus einer brennenden Kirche gerettet zu haben (II 5). Die Verhandlung läuft für Hanna nicht gut; sie taktiert ungeschickt und wird zur Hauptverantwortlichen gemacht (II 6 f.)
Im Prozess wird bekannt, dass Hanna sich auch im KZ etwas von jungen Mädchen hat vorlesen lassen (II 7). Sowohl durch das Buch einer Überlebenden wie durch den Bericht der SS wird der Tod der Häftlinge in der brennenden Kirche rekonstruiert (II 8 f.); es wird deutlich, wie sowohl die anderen Angeklagten als auch die Dorfbewohner froh sind, eine Hauptschuldige gefunden zu haben. Michael entdeckt während des Prozesses, dass Hanna nicht lesen kann und dass sie deswegen auch Taten zugibt, die sie nicht getan haben kann (II 10) ; er bespricht mit seinem Vater, ob man in diesem Fall gegen den Willen eines Betroffenen die Wahrheit seiner Behinderung offen legen darf (II 12), was der Vater verneint. Ferner berichtet Michael von dem gescheiterten Versuch, sich selber in dem kleinen KZ Struthof im Elsass ein Bild von den NS-Verbrechen zu machen (II 14); dieser Versuch scheitert, auch als er ihn später wiederholt. Während der Fahrt nach Struthof führt er ein merkwürdiges Gespräch mit einem Mann über Gründe, warum jemand andere tötet (II 14). – Der vorsitzende Richter, den Michael besucht, um ihn über Hannas Analphabetismus zu informieren, was er dann aber unterlässt (II 16), wird auch im privaten Auftreten dargestellt; er ist ein seiner Sache sicherer Jurist, was Michael später nicht werden will (vgl. III 4). Hanna wird am Ende als einzige zu lebenslanger Haft verurteilt, die anderen Frauen werden milder beurteilt.

Im dritten Teil des Romans wird erzählt, wie Hanna in Michaels Leben fortlebt, wie sie im Gefängnis lesen lernt und sich am Tag der Entlassung selbst tötet; Michael hat als Vorleser den Kontakt zu ihr wieder aufgenommen und hat auch ihre Rückkehr ins bürgerliche Leben vorbereitet, ohne sich jedoch persönlich auf Hanna einzulassen. Er leidet bis zuletzt an seiner Schuld gegenüber Hanna.
Michael setzt sein Studium fort (ab Sommer 1966), macht einen Skiurlaub im Winter 1967, erkrankt und lernt Gertrud kennen; als Referendar heiratet er diese, als sie schwanger wird; sie werden geschieden, als die Tochter Julia fünf Jahre ist (ca. 1973). Für die Frauen, mit denen er zu tun hat, ist Hanna sein Maßstab, dem sie nicht genügen; von einem früheren Kommilitonen wird er nach seinem angeblich während des Prozesses erkennbaren Verhältnis zu Hanna gefragt (III 3) – er weicht aus. Michael wird schließlich Rechtshistoriker, weil er an den Möglichkeiten der Rechtsprechung zweifelt (bis III 4).
Nach der Trennung von seiner Frau liest Michael wieder die „Odyssee“, spricht sie auf Kassette und schickt diese an Hanna, danach zehn Jahre lang weitere Titel (etwa ab 1974). Hanna lernt Lesen und Schreiben (ca. 1977) und schreibt Michael gelegentlich auch, aber er antwortet nicht, sondern schickt ihr nur die Kassetten, die er mit Werken der großen Literatur besprochen hat (III 5 f.).
Die Anstaltsleiterin bittet Michael schließlich um einen Besuch. Eine Woche vor Hannas Entlassung aus dem Gefängnis (1984) besucht Michael sie dort (III 8); er trifft eine alte Frau, die ihm fern steht und sich weigert, den Lebenden Rechenschaft für ihre Taten zu geben. Michael bereitet alles für ein neues Leben Hannas in der Freiheit vor, doch sie erhängt sich am Morgen des Tages ihrer Entlassung. Die Anstaltsleiterin gibt ihm ein Bild von Hanna in ihrer Gefangenschaft (III 10); sie habe sich zuerst wie in ein Kloster zurückgezogen, später aber sich ganz den andern entzogen; als sie lesen konnte, hat sie sich auch mit Literatur über die NS-Verbrechen befasst. Im Herbst des Jahres 1984 versucht in New York die Jüdin, die mit ihrer Mutter das Buch über den Untergang der Häftlinge in der Kirche geschrieben hatte und der er Geld von Hanna bringt, Michael die Augen dafür zu öffnen, dass Hanna ihm etwas angetan hat (III 12). Hannas Geld wird einer jüdischen Stiftung übertragen, ohne dass sie von der Jüdin „die Absolution“, also Vergebung erhielte.
Im letzten Kapitel (III 12) spricht Michael zehn Jahre später (1994) über seine und Hannas Geschichte, wie er sie geschrieben hat: dass sie so geschrieben werden wollte, wie sie jetzt da steht, dass sie rund ist und ihn nicht mehr traurig macht. Dann widerspricht er sich selbst: „Vielleicht habe ich unsere Geschichte doch geschrieben, weil ich sie loswerden will, auch wenn ich es nicht kann.“ (S. 206)
Auch im dritten Teil des Romans gibt es wieder Reflexionen über Kollektivschuld (III 1), über das Recht und den Sinn der Rechtsgeschichte (III 4), vor allem aber über sein Verhältnis zu Hanna: Er hat an seiner Liebe zu Hanna gelitten – aber dieses Leiden war „in gewisser Weise das Schicksal meiner Generation, das deutsche Schicksal“ (S. 163).

3. Fassung (Korrektur meiner 2. Fassung durch den Redakteur Andreas Bernhardt)

Schlinks Roman „Der Vorleser“ ist 1995 erschienen; in ihm wird von Michael Berg im Rückblick erzählt, welche Bedeutung Hanna Schmitz in verschiedenen Epochen seines Lebens hatte.

Im ersten Teil (17 Kapitel) berichtet der Ich-Erzähler Michael Berg in einem deutlich erkennbaren, aber zeitlich nicht bestimmten Abstand („heute“, S. 8), wie er im Alter von 15 Jahren eher zufällig eine Frau von 36 Jahren namens Hanna Schmitz kennenlernt, die ihm bei einer Übelkeit beisteht und ihn bei einem Besuch verführt. Michael, Sohn eines Philosophieprofessors und Schüler der Untersekunda (Kl. 10), wohnt mit seiner Familie offensichtlich in Heidelberg. Die Liebesgeschichte bedeutet für ihn den Abschied von der Familie (S. 32 f.); ihre Liebe gerät in eine Krise und Hanna verschwindet plötzlich aus der Stadt.
Als Michael sich wegen einer heraufziehenden Gelbsucht im Herbst 1958 auf der Straße übergibt, säubert die zufällig anwesende Hanna Schmitz ihn und bringt ihn nach Hause (I 1). Michael bedankt sich im folgenden Frühjahr 1959 dafür und lernt dabei Hannas Wohnung kennen (I 3); er schaut die energische und forsche Frau voller Begehren an, rennt aber weg, als Hanna das bemerkt (I 4). Bei einem erneuten Besuch macht er sich schmutzig, als er für sie Kohlen holt (I 6); er muss sich deshalb baden und wird anschließend von Hanna verführt. Der Jugendliche verliebt sich in Hanna und besucht sie fortan täglich, ja schwänzt sogar die Schule, um Zeit mit ihr verbringen zu können. Als sie jedoch sein Desinteresse an seiner schulischen Laufbahn wahrnimmt, weist sie ihn streng zurecht und verlangt von ihm, auf seine Versetzung in die 11. Klasse hinzuarbeiten. Wichtig ist ein Streit am ersten Tag der Osterferien: Michael ist früh mit der Straßenbahn gefahren, in der Hanna als Schaffnerin arbeitet; sie beachtet ihn allerdings nicht, weil er im hinteren Waggon sitzt. Als er sich am Mittag bei ihr wegen ihrer Gleichgültigkeit beschwert, weist sie ihn ab, was er nicht erträgt: Er unterwirft sich völlig, um ihre Liebe nicht zu verlieren (I 10), und gerät mehr und mehr in ein Hörigkeitsverhältnis.
Auf einer Radtour, die sie als „Mutter mit Sohn“ in den Osterferien unternehmen, ist Michael der Organisator; er wählt die Strecke und die Hotels aus und bestellt das Essen – verdeckte Indizien dafür, dass Hanna nicht lesen kann. Einen noch deutlicheren Hinweis gibt es bei einem Streit während ihres Ausflugs in Amorbach, bei dem Hanna so die Beherrschung verliert, dass sie auf Michael mit einem Lederriemen einschlägt: Michael will Hanna am frühen Morgen mit einer Rose überraschen und hat sich schriftlich „abgemeldet“; Hanna gibt vor, den Zettel „nicht gefunden“ zu haben. Tatsächlich konnte sie seine Notiz nicht lesen und denkt, Michael habe sie verlassen. Ihre Hilflosigkeit stürzt sie in panische Furcht und lässt sie überreagieren. Die Versöhnung führt zu größerer Liebesinnigkeit (I 11). Nach der Heimkehr besticht Michael seine Schwester mit Kleidung, die er stiehlt, um während der Ferien mit Hanna allein sein zu können. Einmal besucht sie ihn sogar zu Hause, als seine Eltern in Urlaub sind, doch fühlt sie sich in seiner angestammten Umgebung fremd und unwohl (I 12).
Das Eigentümliche der Liebesbeziehung zu Hanna besteht darin, dass die beiden ein Ritual entwickeln: vorlesen, duschen, miteinander schlafen. So wird Michael für Hanna zum Vorleser, der ihr deutsche Dramen („Kabale und Liebe“; „Emilia Galotti“) und den „Taugenichts“ von Joseph von Eichendorff, aber auch Tolstois monumentalen Roman „Krieg und Frieden“ im Lauf des Frühlings und des Sommers 1959 vorliest – ein weiterer Hinweis auf Hannas Analphabetismus.
Nach der Versetzung in die Obersekunda (Kl. 11) lernt Michael neue Mitschüler kennen, darunter auch Sophie, für die er Sympathie empfindet (I 13). Michael findet stärker als bisher Anschluss an seine Klasse und löst sich somit etwas aus der Fixierung auf Hanna; es beginnt aus seiner Sicht „der Gleitflug unserer Liebe“ (I 14). Und doch erscheint es ihm als Verrat, dass er sich in der Öffentlichkeit nicht zu seiner älteren Geliebten „bekennt“; in der Nachbarstadt gehen sie gemeinsam ins Theater, sonst sehen sie sich nur in Hannas Wohnung. Hanna lebt im Sommer unter einem merkwürdigen Druck; einen Tag, nachdem er sie überraschenderweise im Schwimmbad gesehen hat, ohne zu ihr hin zu rennen (I 16), ist Hanna spurlos aus der Stadt verschwunden (I 17). Es stellt sich heraus, dass sie zur Fahrerin befördert werden sollte (I 17) und vor dieser Aufgabe die Flucht ergriffen hat, um nicht als Analphabetin bloßgestellt zu werden – eine Parallele zur Beförderung bei Siemens im Jahr 1943 (II 3). Aus dem Glauben, dass er durch sein illoyales Verhalten seine Geliebte enttäuscht und verloren habe, erwächst ein starkes Schuldgefühl.
Die Erzählung wird häufig von Erinnerungen, Reflexionen und Erklärungen Michaels unterbrochen: wie das Haus aussah, in dem Hanna gewohnt hat (I 2); was ihn an ihr fasziniert hat (I 4); welches Muster sein Handeln und Denken bestimmt (I 5); warum er traurig wird, wenn er an diese Zeit zurückdenkt (I 9). Durch Fragen lädt er indirekt die Leser ein, sich mit seinen Problemen zu identifizieren: „Geht das allen so?“ (S. 64)

Im zweiten Teil des Romans (17 Kapitel) erzählt Michael, wie er sieben Jahre später, im Frühjahr 1966, als Jurastudent eher zufällig einen Prozess beobachtet, in dem neben anderen Frauen gegen Hanna als ehemalige Aufseherin in einem KZ verhandelt wird. Neben der Problematik, wie er nach sieben Jahren zu seiner früheren Geliebten steht, tritt die Frage in den Vordergrund, wie man 20 Jahre nach Ende des Dritten Reiches die Täter von damals verstehen oder verurteilen kann – oder konnte; der Erzähler bewertet auch aus seiner heutigen Sicht die Bemühungen der Studenten um „Aufarbeitung der Vergangenheit“ als ein anmaßendes Unterfangen (II 2). Das Urteil des Gerichts über Hanna fällt auch deshalb so hart aus, weil sie ihren Analphabetismus um jeden Preis verbergen will. Nur Michael erkennt als einziger plötzlich die Wahrheit.
Michael erzählt, wie er nach dem Abitur Jura studiert hat und an einem Seminar über die „Aufarbeitung der Vergangenheit“ teilnimmt (II 2); zu seiner Überraschung sieht er Hanna auf der Anklagebank bei einem KZ-Prozess (II 2), stellt aber nüchtern fest, dass ihr Schicksal ihn nicht berührt (II 3). Ihr wird zusammen mit anderen Frauen vorgeworfen, in einem Frauen-KZ an der Selektion mitgewirkt sowie eine Gruppe von Häftlingen nicht aus einer brennenden Kirche gerettet zu haben (II 5). Die Verhandlung läuft für Hanna nicht gut; sie taktiert ungeschickt und wird schließlich zur Hauptverantwortlichen gemacht (II 6 f.)
Im Prozess wird bekannt, dass Hanna sich auch im KZ etwas von jungen inhaftierten Mädchen hat vorlesen lassen (II 7), ihre wechselnden Vorleserinnen aber stets zurück nach Auschwitz und damit in den sicheren Tod geschickt hat. Sowohl durch das Buch einer Überlebenden wie durch den Bericht der SS wird der grausame Tod der Häftlinge in der brennenden Kirche rekonstruiert (II 8 f.). Im Laufe des Prozesses wird immer deutlicher, dass sowohl die anderen Angeklagten als auch die Dorfbewohner froh sind, in Hanna eine Hauptschuldige gefunden zu haben. Michael entdeckt während des Prozesses, dass Hanna Analphabetin ist und dass sie, um ihren Defekt zu verbergen, auch Taten zugibt, die sie nicht getan haben kann (II 10). Mit seinem Vater, dem Philosophieprofessor, bespricht er, ob man in diesem Fall gegen den Willen eines Betroffenen die Wahrheit seiner Behinderung offen legen darf (II 12), was der Vater aus Gründen der Selbstbestimmung verneint. Doch Hannas Fall lässt den jungen Juristen nicht los – in dem kleinen KZ Struthof im Elsass versucht er, sich selber ein Bild von den NS-Verbrechen zu machen (II 14), doch dieser Versuch scheitert, auch als er ihn später wiederholt. Während der Fahrt nach Struthof führt er ein merkwürdiges Gespräch mit einem Mann, der ihn als Anhalter mitnimmt, über die Gründe, warum jemand andere tötet (II 14). Für den Fahrer ist das Töten lediglich eine Arbeit wie andere auch; die Gleichgültigkeit, mit der der Mann aus dem Morden eine Art Pflichterfüllung macht, lässt Michael zu dem Schluss kommen, dass er selbst ein williger Mittäter gewesen ist. Nachdem es Michael nicht gelungen ist, sich Hanna über ihre Vergangenheit anzunähern, entschließt er sich, gegen den Rat seines Vaters zu ihren Gunsten in den Prozess einzugreifen. Er besucht den vorsitzenden Richter, um ihn über Hannas Analphabetismus zu informieren, lässt aber dann die Gelegenheit verstreichen und schweigt (II 16). Der Richter wird auch im privaten Auftreten dargestellt; er ist ein Jurist, der sich seiner Sache sicher ist – und damit für Michael ein Negativvorbild, der Typ des Juristen, wie er selbst später nicht werden will (vgl. III 4). Hanna wird am Ende als einzige zu lebenslanger Haft verurteilt, die anderen mitangeklagten Frauen erfahren eine mildere Behandlung.

Im dritten Teil des Romans wird erzählt, wie Hanna in Michaels Leben fortlebt, obwohl er den persönlichen Kontakt zu ihr meidet. Sie lernt im Gefängnis lesen und scheint ihre Vergangenheit aufarbeiten zu wollen. Michael hat als Vorleser den Kontakt zu ihr wieder aufgenommen und auch ihre Rückkehr ins bürgerliche Leben vorbereitet, ohne sich jedoch persönlich auf sie einzulassen. Am Tag der Entlassung tötet Hanna sich selbst. Michael leidet bis zuletzt an seiner Schuld gegenüber Hanna.
Die folgenden Jahre gibt Michael sehr gerafft wieder. Da sein Leben auf Hanna fixiert ist, werden die Geschehnisse, die nichts mit ihr zu tun haben, zur Nebensächlichkeit. Ab Sommer 1966 setzt er sein Studium fort. Bei einem Skiurlaub im Winter 1967 lernt er Gertrud kennen und verliebt sich. Als sie noch während seines Referendariats von ihm schwanger wird, heiratet er sie. Die Ehe scheitert jedoch und wird geschieden, als die Tochter Julia fünf Jahre ist (ca. 1973). Für die Frauen, mit denen er zu tun hat, bleibt Hanna sein Maßstab, dem sie nicht genügen. Von einem früheren Kommilitonen wird er nach seinem Verhältnis zu Hanna gefragt, das angeblich während des Prozesses zu erahnen war (III 3) – doch er weicht aus. Michael wird schließlich Rechtshistoriker, weil er an den Möglichkeiten der Rechtsprechung zweifelt (bis III 4).
Nach der Trennung von seiner Frau liest Michael wieder die „Odyssee“, eines seiner Lieblingsbücher, spricht sie auf Kassette und schickt diese an Hanna, knüpft also von sich aus an ihren abgerissenen Kontakt an. In den nächsten zehn Jahren folgen weitere Titel (etwa ab 1974). Hanna lernt schließlich selbst Lesen und Schreiben (ca. 1977) und schreibt Michael gelegentlich auch, aber er antwortet nicht, sondern schickt ihr nur die Kassetten, die er mit Werken der großen Literatur besprochen hat (III 5 f.).
Die Anstaltsleiterin bittet Michael schließlich um einen Besuch bei Hanna. Eine Woche vor Hannas Entlassung aus dem Gefängnis (1984) kommt Michael der Aufforderung nach (III 8); er trifft eine wenig gepflegte alte Frau, die ihm fern steht und sich weigert, den Lebenden Rechenschaft für ihre Taten zu geben. Dennoch bereitet Michael alles für ein neues Leben Hannas in der Freiheit vor, doch sie erhängt sich am Morgen des Tages ihrer Entlassung. Die Anstaltsleiterin vermittelt ihm ein Bild von Hanna in ihrer Gefangenschaft (III 10): Zuerst habe sie sich wie in ein Kloster zurückgezogen, um sich dann ganz den andern zu entziehen. Sobald sie lesen konnte, hat sie sich auch mit Literatur über die NS-Verbrechen befasst. Gemäß ihrem letzten Willen soll Michael ihre Ersparnisse jüdischen Opfern zugute kommen lassen. Im Herbst des Jahres 1984 übergibt er daher in New York der Jüdin, die mit ihrer Mutter das Buch über den Untergang der Häftlinge in der Kirche geschrieben hatte, das Geld und erzählt ihr seine Geschichte. Die Frau versucht Michael die Augen dafür zu öffnen, dass Hanna ihm in seiner Kindheit etwas angetan hat (III 12). Hannas Geld wird einer jüdischen Stiftung übertragen, ohne dass sie von der Jüdin „die Absolution“, also Vergebung erhielte.

4. Fassung (meine Korrektur der 3. Fassung)

Schlinks Roman „Der Vorleser“ ist 1995 erschienen; in ihm wird von Michael Berg im Rückblick erzählt, welche Bedeutung Hanna Schmitz in verschiedenen Epochen seines Lebens hatte.

Im ersten Teil (17 Kapitel) berichtet der Ich-Erzähler Michael Berg in einem deutlich erkennbaren, aber zeitlich nicht bestimmten Abstand („heute“, S. 8), wie er im Alter von 15 Jahren eher zufällig eine Frau von 36 Jahren namens Hanna Schmitz kennenlernt, die ihm bei einer Übelkeit beisteht und ihn bei einem Besuch verführt. Michael, Sohn eines Philosophieprofessors und Schüler der Untersekunda (Kl. 10), wohnt mit seiner Familie offensichtlich in Heidelberg. Die Liebeserfahrung bedeutet für ihn den Abschied von der Familie (S. 32 f.); ihre Liebe gerät in eine Krise und Hanna verschwindet plötzlich aus der Stadt.
Als Michael sich wegen einer heraufziehenden Gelbsucht im Herbst 1958 auf der Straße übergibt, säubert die zufällig anwesende Hanna Schmitz ihn und bringt ihn nach Hause (I 1). Michael bedankt sich im Frühjahr 1959, als er wieder gesund ist, dafür und lernt dabei Hannas Wohnung kennen (I 3); er schaut die energische und forsche Frau voller Begehren an, rennt aber weg, als Hanna das bemerkt (I 4). Bei einem erneuten Besuch macht er sich schmutzig, als er für sie Kohlen holt (I 6); er muss sich deshalb baden und wird anschließend von Hanna verführt.       Der Jugendliche verliebt sich in Hanna und besucht sie fortan täglich; er schwänzt sogar die Schule, um Zeit mit ihr verbringen zu können. Als sie jedoch sein Desinteresse an seiner schulischen Laufbahn wahrnimmt, weist sie ihn streng zurecht und verlangt von ihm, auf seine Versetzung in die 11. Klasse hinzuarbeiten. Wichtig ist ein Streit am ersten Tag der Osterferien: Michael ist früh mit der Straßenbahn gefahren, in der Hanna als Schaffnerin arbeitet; sie beachtet ihn allerdings nicht, weil er im hinteren Waggon sitzt. Als er sich am Mittag bei ihr wegen ihrer Gleichgültigkeit beschwert, weist sie ihn ab, was er nicht erträgt: Er unterwirft sich völlig, um ihre Liebe nicht zu verlieren (I 10), und gerät mehr und mehr in ein Hörigkeitsverhältnis.
Auf einer Radtour, die sie als „Mutter mit Sohn“ in den Osterferien unternehmen, ist Michael der Organisator; er wählt die Strecke und die Hotels aus und bestellt das Essen – verdeckte Indizien dafür, dass Hanna nicht lesen kann. Einen noch deutlicheren Hinweis gibt es bei einem Streit während ihres Ausflugs in Amorbach, bei dem Hanna so die Beherrschung verliert, dass sie auf Michael mit einem Lederriemen einschlägt: Michael will Hanna am frühen Morgen mit einer Rose überraschen und hat sich schriftlich „abgemeldet“; Hanna gibt vor, den Zettel „nicht gefunden“ zu haben. Tatsächlich konnte sie seine Notiz nicht lesen und denkt, Michael habe sie verlassen. Ihre Hilflosigkeit stürzt sie in panische Furcht und lässt sie blind zuschlagen. Die Versöhnung führt zu größerer Liebesinnigkeit (I 11). Nach der Heimkehr besticht Michael seine Schwester mit Kleidung, die er stiehlt, um in der letzten Ferienwoche mit Hanna allein sein zu können. Einmal besucht sie ihn sogar zu Hause, als seine Eltern in Urlaub sind, doch fühlt sie sich in der Professorenwohnung fremd und unwohl (I 12).
Das Eigentümliche der Liebesbeziehung zu Hanna besteht darin, dass die beiden ein Ritual entwickeln: vorlesen, duschen, miteinander schlafen. So wird Michael für Hanna zum Vorleser, der ihr deutsche Dramen („Kabale und Liebe“; „Emilia Galotti“) und den „Taugenichts“ von Joseph von Eichendorff, aber auch Tolstois monumentalen Roman „Krieg und Frieden“ im Lauf des Frühlings und des Sommers 1959 vorliest – ein weiterer Hinweis auf Hannas Analphabetismus.
Nach der Versetzung in die Obersekunda (Kl. 11) lernt Michael neue Mitschüler kennen, darunter auch Sophie, für die er Sympathie empfindet (I 13). Michael findet stärker als bisher Anschluss an seine Klasse und löst sich somit etwas aus der Fixierung auf Hanna; es beginnt aus seiner Sicht „der Gleitflug unserer Liebe“ (I 14). Und doch erscheint es ihm als Verrat, dass er sich in der Öffentlichkeit nicht zu seiner älteren Geliebten „bekennt“; in der Nachbarstadt gehen sie gemeinsam ins Theater, sonst sehen sie sich nur in Hannas Wohnung. – Hanna lebt im Sommer unter einem merkwürdigen Druck; einen Tag, nachdem er sie überraschenderweise im Schwimmbad gesehen hat, ohne zu ihr hin zu rennen (I 16), ist Hanna spurlos aus der Stadt verschwunden (I 17). Es stellt sich heraus, dass sie zur Fahrerin befördert werden sollte (I 17) und vor dieser Aufgabe die Flucht ergriffen hat, um nicht als Analphabetin bloßgestellt zu werden – eine Parallele zur Beförderung bei Siemens im Jahr 1943 (II 3). Aus dem Glauben, dass er durch sein „illoyales“ Verhalten seine Geliebte enttäuscht und verloren habe, erwächst ein starkes Schuldgefühl.

Die Erzählung seiner frühen Liebeserfahrung wird häufig von Erinnerungen, Reflexionen und Erklärungen Michaels unterbrochen: wie das Haus aussah, in dem Hanna gewohnt hat (I 2); was ihn an ihr fasziniert hat (I 4); welches Muster sein Handeln und Denken bestimmt (I 5); warum er traurig wird, wenn er an diese Zeit zurückdenkt (I 9). Durch Fragen lädt er indirekt die Leser ein, sich mit seinen Problemen zu identifizieren: „Geht das allen so?“ (S. 64)

Im zweiten Teil des Romans (17 Kapitel) erzählt Michael, wie er sieben Jahre später, im Frühjahr 1966, als Jurastudent eher zufällig einen Prozess beobachtet, in dem neben anderen Frauen gegen Hanna als ehemalige Aufseherin in einem KZ verhandelt wird. Neben dem Thema, wie er nach sieben Jahren zu seiner früheren Geliebten steht, tritt die Frage in den Vordergrund, wie man 20 Jahre nach Ende des Dritten Reiches die Täter von damals verstehen beziehungsweise verurteilen kann – oder konnte; der Erzähler bewertet aus seiner heutigen Sicht die Bemühungen der Studenten um „Aufarbeitung der Vergangenheit“ als ein anmaßendes Unterfangen (II 2). Das Urteil des Gerichts über Hanna fällt auch deshalb so hart aus, weil sie ihren Analphabetismus um jeden Preis verbergen will. Nur Michael hat als einziger plötzlich die Wahrheit erkannt.
Michael erzählt, wie er nach dem Abitur Jura studiert hat und an einem Seminar über die „Aufarbeitung der Vergangenheit“ teilnimmt (II 2); zu seiner Überraschung sieht er Hanna auf der Anklagebank bei einem KZ-Prozess (II 2), stellt aber nüchtern fest, dass ihr Schicksal ihn nicht berührt (II 3). Ihr wird zusammen mit anderen Frauen vorgeworfen, in einem Frauen-KZ an der Selektion mitgewirkt sowie eine Gruppe von Häftlingen nach der Räumung des KZs nicht aus einer brennenden Kirche gerettet zu haben (II 5). Die Verhandlung läuft für Hanna nicht gut; sie taktiert ungeschickt und wird schließlich zur Hauptverantwortlichen gemacht (II 6 f.)
Im Prozess wird bekannt, dass Hanna sich auch im KZ etwas von jungen inhaftierten Mädchen hat vorlesen lassen (II 7), ihre wechselnden Vorleserinnen aber stets zurück nach Auschwitz und damit in den sicheren Tod geschickt hat. Sowohl durch das Buch einer Überlebenden wie durch den Bericht der SS wird der grausame Tod der Häftlinge in der brennenden Kirche rekonstruiert (II 8 f.). Im Laufe des Prozesses wird immer deutlicher, dass sowohl die anderen Angeklagten als auch die Dorfbewohner froh sind, in Hanna eine Hauptschuldige gefunden zu haben. Michael entdeckt während des Prozesses, dass Hanna Analphabetin ist und dass sie, um ihre Schwäche zu verbergen, auch Taten zugibt, die sie nicht getan haben kann (II 10). Mit seinem Vater, dem Philosophen, bespricht er, ob man in diesem Fall gegen den Willen eines Betroffenen die Wahrheit über dessen Behinderung offen legen darf (II 12), was der Vater aus Gründen der Selbstbestimmung verneint. Doch Hannas Fall lässt den jungen Juristen nicht los –in dem kleinen KZ Struthof im Elsass versucht er, sich selber ein Bild von den NS-Verbrechen zu machen (II 14), doch dieser Versuch scheitert, auch als er ihn später wiederholt. Während der Fahrt nach Struthof führt er ein merkwürdiges Gespräch mit einem Mann, der ihn als Anhalter mitnimmt, über die Gründe, warum jemand andere tötet (II 14). Für den Fahrer ist Töten lediglich eine Arbeit wie andere auch; die Gleichgültigkeit, mit der der Mann aus dem Morden eine Art Pflichterfüllung macht, lässt Michael zu dem Schluss kommen, dass jener selbst ein williger Mittäter gewesen ist.
Nachdem es Michael nicht gelungen ist, sich Hanna über ihre Vergangenheit anzunähern, entschließt er sich, gegen den Rat seines Vaters zu ihren Gunsten in den Prozess einzugreifen. Er besucht den Vorsitzenden Richter, um ihn über Hannas Analphabetismus zu informieren, lässt aber dann die Gelegenheit verstreichen und schweigt (II 16). Der Richter wird auch im privaten Auftreten dargestellt; er ist ein Jurist, der sich seiner Sache sicher ist – und damit für Michael der Typ eines Juristen, wie er selbst später nicht werden will (vgl. III 4). Hanna wird am Ende als einzige zu lebenslanger Haft verurteilt, die anderen mitangeklagten Frauen erfahren eine mildere Behandlung.

Im dritten Teil des Romans wird erzählt, wie Hanna in Michaels Leben fortlebt, obwohl er keinen Kontakt zu ihr hat bzw. später den persönlichen Kontakt zu ihr meidet. Sie lernt im Gefängnis lesen und scheint ihre Vergangenheit aufarbeiten zu wollen. Michael hat als Vorleser über Jahre wieder eine Beziehung zu ihr aufgenommen und auch ihre Rückkehr ins bürgerliche Leben vorbereitet, ohne sich jedoch persönlich auf sie einzulassen. Am Tag der Entlassung tötet Hanna sich selbst. Michael leidet bis zuletzt an seiner Schuld gegenüber Hanna.
Die folgenden Jahre gibt Michael sehr gerafft wieder. Da sein Leben auf Hanna fixiert ist, erscheinen die Geschehnisse, die nichts mit ihr zu tun haben, als eher nebensächlich. Ab Sommer 1966 setzt er sein Studium fort. Bei einem Skiurlaub im Winter 1967 lernt er Gertrud kennen und verliebt sich. Als sie noch während seines Referendariats von ihm schwanger wird, heiratet er sie. Die Ehe scheitert jedoch und wird geschieden, als die Tochter Julia fünf Jahre ist (ca. 1973). Für die Frauen, mit denen er zu tun hat, bleibt Hanna sein Maßstab, dem sie nicht genügen. Von einem früheren Kommilitonen wird er nach seinem Verhältnis zu Hanna gefragt, das angeblich während des Prozesses zu erahnen war (III 3) – doch er weicht aus. Michael wird schließlich Rechtshistoriker, weil er an den Möglichkeiten der Rechtsprechung zweifelt (bis III 4).
Nach der Trennung von seiner Frau liest Michael wieder die „Odyssee“, eines seiner Lieblingsbücher, spricht sie auf Kassette und schickt diese an Hanna, stellt also von sich aus den abgerissenen Kontakt wieder her. In den nächsten zehn Jahren folgen weitere Bücher (etwa ab 1974). Hanna lernt schließlich selbst Lesen und Schreiben (ca. 1977) und schreibt Michael gelegentlich auch kurz, aber er antwortet nicht, sondern schickt ihr nur die Kassetten, die er mit Werken der großen Literatur besprochen hat (III 5 f.).
Die Anstaltsleiterin bittet Michael schließlich um einen Besuch bei Hanna. Eine Woche vor Hannas Entlassung aus dem Gefängnis (1984) kommt Michael der Aufforderung nach (III 8); er trifft eine wenig gepflegte alte Frau, die ihm fern steht und sich weigert, den Lebenden Rechenschaft für ihre Taten zu geben. Dennoch bereitet Michael alles für ein neues Leben Hannas in der Freiheit vor; doch sie erhängt sich am Morgen des Tages ihrer Entlassung. Die Anstaltsleiterin vermittelt ihm ein Bild von Hanna in ihrer Gefangenschaft (III 10): Zuerst habe sie sich wie in ein Kloster zurückgezogen, um sich dann ganz den andern zu entziehen. Sobald sie lesen konnte, habe sie sich auch mit Literatur über die NS-Verbrechen befasst. Gemäß ihrem letzten Willen soll Michael ihre Ersparnisse jüdischen Opfern zugute kommen lassen. Im Herbst des Jahres 1984 übergibt er daher in New York der Jüdin, die mit ihrer Mutter das Buch über den Untergang der Häftlinge in der Kirche geschrieben hatte, das Geld und erzählt ihr seine Geschichte. Die Frau versucht Michael die Augen dafür zu öffnen, dass Hanna ihm in seiner Jugend etwas angetan hat (III 12). Hannas Geld wird einer jüdischen Stiftung übertragen, ohne dass sie von der Jüdin „die Absolution“, also Vergebung erhielte.
Im letzten Kapitel (III 12) spricht Michael zehn Jahre später (1994) über seine und Hannas Geschichte, wie er sie geschrieben hat: dass sie so geschrieben werden wollte, wie sie nun da steht, dass sie rund ist und ihn nicht mehr traurig macht. Dann aber widerspricht er sich selbst: „Vielleicht habe ich unsere Geschichte doch geschrieben, weil ich sie loswerden will, auch wenn ich es nicht kann.“ (S. 206)
Auch im dritten Teil des Romans streut der Erzähler wieder Reflexionen über Kollektivschuld (III 1), über das Recht und den Sinn der Rechtsgeschichte (III 4), vor allem aber über sein Verhältnis zu Hanna ein: Er hat an seiner Liebe zu Hanna gelitten – aber dieses Leiden war „in gewisser Weise das Schicksal meiner Generation, das deutsche Schicksal“ (S. 163).