Hubert Markl: Lernziel Mitmensch – Sachtextanalyse (Beispiel)

Wissen wir eigentlich, was die 1-Kind-1/2-Eltern-O-Großeltern-Schrumpffamilie für die Sozialentwicklung des Menschen bedeutet?

Lernziel Mitmensch

(1) Kultur im weitesten Sinne ist all das, was man von Artgenossen lernen muß, um (5) gut überleben und in einer Gemeinschaft bestehen zu können. Einfache Formen solcher Kultur, die durch Lerntradition weitergegeben werden, existierten schon lange vor dem Auftreten des Menschen. Vogelgesänge können solche Traditionen sein, aber auch viele generationenübergreifende Erfahrungen über Nahrungs- oder Wasserquellen, über Wanderwege oder Feinde. Doch was weiß die Nachtigall schon (10) von der Kunst der Fuge? So unscheinbar uns die kulturellen Leistungen von Tieren auch erscheinen mögen: Unsere eigene Kulturfähigkeit baut auf solchen Lerntraditionen auf.

(2)  Es ist wichtig zu erkennen, daß auch viele Tiere unfertig zur Welt kommen und unterweisungsbedürftig sind, damit sie ihr Leben meistern können. Am auffälligsten (15) ist dies bei Menschenaffen. Es hat die Biologen überrascht, daß ein im Zoo aufgewachsener Schimpanse keineswegs „von Natur aus“ weiß, wenn man ihn in die Wildnis zurückversetzt, was schmackhaft und bekömmlich ist, was Verdauungsbeschwerden verursacht oder welche Pflanzen und Tiere lebensgefährlich sein könnten. Biologen müssen ihnen – zum Beispiel durch nicht (20) immer angenehmes Vorkauen – mühselig beibringen, was sie in der natürlichen Gemeinschaft von Mutter, Geschwistern oder Gefährten gelernt hätten. Fast erstaunlicher noch war die Feststellung, daß manche Säugetiere sich nicht einmal paaren oder richtig mit den eigenen Neugeborenen umgehen können, geschweige denn ihren Platz in einer sozialen Gemeinschaft finden, wenn sie dies nicht von (25) Artgenossen erlernt haben. Isoliert von artgemäßer Sozialerfahrung, können sie selbst unter liebevoller menschlicher Obhut zu Verhaltenskrüppeln werden, zu Spottgeschöpfen fehlgebildeter Vermenschlichung.

(3)  All dies sollten wir berücksichtigen bei Überlegungen, wie junge Menschen am besten zu normalen Mitgliedern unserer Gesellschaft heranwachsen könnten. Zwar (30) fehlt es selten an Anweisungen, etwa was gut zu essen oder besser zu vermeiden sei (aber dennoch luxuriert die Süßigkeitenindustrie). Und Aufklärungsmissionare unterweisen bereits Zwölfjährige, mit welchen Techniken HIV-Ansteckung oder Empfängnis abzuwenden ist, oft bevor die Heranwachsenden den Sinn geschlechtlicher Zuwendung begreifen lernen. Aber es lohnt, darüber (35) nachzudenken, was es für die Entwicklung der Mitmenschlichkeit von Jugendlichen bedeutet:

(4)  1. wenn sie zum Beispiel als Einzelkinder heranwachsen, vielleicht auch noch in mehrfach zersplitterten Surrogatelternbeziehungen herumgestoßen werden, ohne die seit Jahrhunderttausenden für Menschen selbstverständliche Erfahrung engen (40) Umgangs mit vielen Geschwistern und Verwandten; 2. wenn sie als Kinder niemals Gelegenheit hatten, ein Neugeborenes in den Arm zu nehmen oder zu betreuen; 3. wenn sie niemals tagtäglich, jahraus, jahrein mit alten, gebrechlich werdenden Menschen zusammengelebt haben; 4. wenn sie selbst noch nie erlebt haben, wie Menschen sich ins Sterben fügen und wie ein Leben verlöscht. Solche (45) Erfahrungen waren früher für fast alle Menschen geradezu unvermeidlich, so daß man kaum über ihre Bedeutung für das normale Heranwachsen nachdenken mußte. Wissen wir eigentlich, was die 1-Kind-1/2-Eltern-0-Großeltern-Schrumpffamilie für die menschliche Entwicklung mit sich bringt?

(5)  Vielleicht wäre es ganz gut, auch diese Perspektive der Sozialentwicklung des (50) „modernen Menschen“ mitzubedenken, wenn heute zunehmend gefordert wird, daß jeder junge Mann und jede junge Frau ein Jahr lang zusammen mit anderen gemeinnützige Aufgaben erfüllen sollten. Allenthalben fehlen Kräfte, um Mütter bei der Betreuung ihrer Kinder zu unterstützen, um gefährdete Jugendliche nicht sich selbst zu überlassen, Behinderten zu helfen oder Alten und Kranken jene (55) Zuwendung zu geben, die ihr Leben trostloser Vereinsamung entreißt. Sollte Hilfe in diesen Bereichen nicht genauso gemeindienlich sein, wie ein Dienst zur Landesverteidigung, für UN-Friedenscorpseinsätze, für Krankenpflege oder für Schutz- und Pflegedienste zugunsten von Natur und Umwelt? Sollten all diese Aufgaben nicht für Jungen und Mädchen Herausforderungen zum sozialen (60) Erwachsenwerden sein?

(6)  Wir lernen nicht für die Schule, sondern für das Leben. Richtig. Aber wir lernen nicht nur durch die Schule, sondern auch durch das Leben, vor allem durch das Leben in der ganzen Wirklichkeit menschlicher Gemeinschaft. Vorgelebte. Beispiele und eigenes Tun lehren sozial verantwortliches Handeln viel einprägsamer als der (65) beste Ethikunterricht. Wenn junge Menschen nach zwölf Jahren überwiegend theoretischer Unterweisung in einem dreizehnten Jahr aktiv geübter Menschlichkeit auch ihren Charakter weiter zu entwickeln lernten – wäre das nicht eine überzeugendere Prüfung menschlicher Reife als bisher?

(7)  Wir werden zwar alle als Menschen geboren. Doch Mitmenschen zu werden, das (70) müssen wir erst mühsam lernen.

Hubert Markl (in: DIE ZEIT Nr. 43 vom 22. Oktober 1993, S. 44)

Erläuterungen (für eine Klassenarbeit in Klasse 10)

In der Wochenzeit „DIE ZEIT“ wurde alle zwei Wochen (unter der Überschrift „Die zwei Kulturen“) eine Glosse veröffentlicht, in der abwechselnd ein Naturwissenschaftler und ein Soziologe ein vermutlich frei gewähltes Thema von aktueller Bedeutung kommentierten. Die Absätze werden hier durch fette Ziffern gezählt, die Zeilen des Ursprungstextes durch in den Text eingeschobene Zahlen.

Erläuterungen zu Zeile

10 Fuge: mehrstimmiges Musikstück, in dem ein Thema variiert wird;

25 isolieren: absondern, trennen;

26 Verhaltenskrüppel (Metapher): Normalerweise spricht man bei  körperlicher  Missbildung von einem Krüppel, hier bei Störungen im Verhalten;

31 luxurieren: üppig wachsen;

32 Aufklärungsmissionare: Missionare widmen ihr Leben der Verbreitung des (christlichen) Glaubens.

38 mehrfach zersplittert: Hier spielt der Autor auf Ehescheidungen und deren Begleitumstände an (neue Partner).

38 Surrogat: Ersatzmittel, Behelf;

49 Perspektive: Sicht, Blickwinkel;

52 Hier endet das erste Argument; es folgen zwei weitere.

57 ff. Wehrdienst, Zivildienst etc. sind bereits eingeführte soziale Dienste.

57 Friedenscorps: Truppe, die im Auftrag der UN militärisch den Frieden sichern soll;

61 Zitat des lat. Sprichwortes: Non scholae, sed vitae discimus.

65 Ethik: Lehre vom richtigen (guten) Leben; Ethik ist ein Teil der Philosophie, ist in manchen Bundesländern als eigenes Fach für die Schüler eingerichtet, die sich vom Religionsunterricht abmelden bzw. nicht getauft sind.

68 Reife: Spiel mit den Bedeutungen von „Reife“ (Abitur als „Reifeprüfung“ – menschliche Reife).

1. Methode: Argumentationsansatz, – gang und -strategie bestimmen

Der Argumentationsansatz besteht in der These, dass humaner Umgang erlernt werden muss; dieser Ansatz wird durch Rückgriff auf Analogien aus dem Tierreich in (Absatz 1) und (2) sowie durch das Wortspiel mit einem lateinischen Sprichwort (Z. 61 ff.) gestützt. In seiner Argumentation geht Markl dann so vor, dass er gerade für die Gegenwart

a) Defizite in der Möglichkeit der Jugendlichen, humanen Umgang zu erlernen (4),

b) und Defizite bei der Hilfe für Bedürftige aufzeigt (Z. 52 ff.);

c) dass er auf bereits bestehende, allgemein akzeptierte Modelle ähnlicher Art hinweist (Z. 55 ff.).

Worin die Argumentationsstrategie besteht, ist schwer zu sagen; vielleicht wird man sie in dem Schritt vom Tierreich zum Menschen als Schluss a minore ad maius erkennen. Sicher gehört es zu Markls Strategie, seine Forderung nach Einführung eines Sozialen Jahrs nicht direkt zu stellen, sondern in rhetorische Fragen zu verpacken (Ende des 4., 5. und 6.Absatzes) und die Defizite in der Sozialentwicklung äußerst negativ zu bewerten (z.B. Schrumpffamilie).

(Der Vorteil dieser Methode liegt darin, dass im Abitur tatsächlich ähnliche Aufgaben gestellt worden sind, dass also eine entsprechende Aufgabenstellung zu bearbeiten vorbereitet wird; der Nachteil liegt darin, dass die Begriffe Argumentationsansatz, -gang und -strategie nicht streng definiert sind; für den beurteilenden Lehrer kann dies ein Vorteil, aber auch ein Nachteil sein. – Letztlich liegt hier eine Sparversion der 2. Möglichkeit vor.)

2. Methode: die Sprechakte Markls fortlaufend beschreiben

In seinem Kommentar „Lernziel Mitmensch“ (DIE ZEIT vom 22.10.1993) fordert Hubert Markl mehr oder weniger direkt, ein soziales Jahr für Jugendliche  einzuführen (Z. 50 ff.; 66 f.), und begründet diesen Vorschlag mit den Defiziten in der sozialen Entwicklung junger Menschen heute.

Markl leitet seine Überlegungen mit einer Definition von Kultur (Z. 4 f.) ein, die grundsätzlich auf Lernen bzw. auf Tradition beruhe (Abs. 1); dass dies so ist, zeigt er vor allem an Beispielen aus dem Tierreich (Abs. 1 und 2; vgl. „auch“ Z. 13). Später sagt er ausdrücklich (Z. 11 f.; 28 ff.), dass auch die Menschen ihre Kultur von den Vorfahren durch Lernen übernehmen (müssen).

An seine theoretisch-erklärende Einleitung knüpft er mit der Frage, „wie junge Menschen am besten zu normalen Mitgliedern unserer Gesellschaft heranwachsen könnten“ (Z. 28 f.), an; die Antwort auf diese Frage bildet den Hauptteil seiner Überlegungen.

Zunächst erklärt er mit teilweise recht deutlicher Bewertung, wieso heutige soziale Erziehung weithin ungenügend ist: Sie beschränke sich auf Anweisungen und – teilweise verfrühte – Unterweisungen (Z. 30 und 32, insgesamt Abs. 3) und vermittele aufgrund des Zustands der Familien nicht die notwendigen „Erfahrungen“ (Z. 45, insgesamt Abs. 4). Er macht sich dann (indirekt) die Forderung zu eigen, junge Erwachsene sollten ein Soziales Jahr ableisten; er begründet diese Forderung nicht nur mit den in (4) genannten Erfahrungsdefiziten (Z. 47 f.), sondern auch mit weiteren Gründen (Abs. 5: Hilfe sei nötig; sie sei genauso sinnvoll wie ähnliche Leistungen), und bewertet die Einführung des Sozialen Jahrs als Chance „zum sozialen Erwachsenwerden“ (Z. 59 f. vs. Z. 49 f.). Zum Schluss des Hauptgedankens begründet er die in (5) vorgetragene Forderung damit, dass durch praktisches Tun verantwortliches Handeln „einprägsamer“ (Z. 64) als im theoretischen Unterricht gelernt werde (Abs. 6), womit er indirekt auch auf die in (3) genannten Mängel anspielt.

Zum Schluss schreibt Markl eine Sentenz, die auf der Unterscheidung biologischen Menschseins von humaner Menschlichkeit beruht, welche gelernt werden müsse (Abs. 7); mit dieser allgemein gehaltenen Sentenz begründet er im weiteren Sinn seine Forderung, die bereits in der Überschrift „Lernziel Mitmensch“ mit dem aus der Unterrichtstheorie entlehnten Begriff „Lernziel“ angedeutet ist.

(Es wäre nicht schwer, diese Kurzanalyse sowohl logisch wie auch rhetorisch zu differenzieren und zu vertiefen. Es geht hier darum, zu zeigen, was Markl insgesamt begründen will und in welchen Schritten er sein Ziel zu erreichen sucht. Ein Vorteil dieser Art der Analyse liegt darin, dass beschreibende, erklärende und bewertende Aussagen als solche erfasst und von Forderungen unterschieden werden, dass also ein Abiturstandard gewährleistet ist. – Mit dieser Technik der Analyse überfordert man Schüler der Sekundarstufe I in der Regel; dort setzt man besser die 3. Möglichkeit ein.)

3. Methode: die Argumente Markls in Satzform erfassen

Markl  fordert, dass alle Jugendlichen in Deutschland ein soziales Jahr ableisten (Z. 82 f.).

Das erste seiner drei Argumente lautet folgendermaßen:

P1 Kultur ist das, was man von seinen Artgenossen lernen muss, um in einer Gemeinschaft bestehen zu können (Z. 4 f.). [P=Prämisse]

Z zu P1: Dies gilt bereits für die Tiere, auf deren Lernbedürfnis das unsere aufbaut (Z. 5 ff.).

P2 Derzeit gibt es in Deutschland große Defizite in der Weitergabe sozialer Fähigkeiten (Z. 37 ff.).

Z zu P2: Diese Mängel können nicht dadurch beseitigt werden, dass man Anweisungen gibt (Z. 30 ff.). [Der kursiv gesetzte Satz Z=Zusatz könnte auch zur Folgerung F gezogen werden.]

F Also ist es berechtigt, ein soziales Jahr einzuführen, um die Defizite durch die praktische Arbeit auszugleichen (Z. 49 ff.). [Statt F=Folgerung kann man auch K=Konklusio sagen/schreiben.]

Das zweite Argument geht vom Mangel an Arbeitskräften in Pflegeberufen aus:

P1 Es fehlen Arbeitskräfte im sozialen Bereich (Z. 52 ff.).

P2 Ein soziales Jahr ist aber ebenso gut (gemeindienlich) wie der Einsatz in der Bundeswehr oder bei verschiedenen Schutz- und Pflegediensten (Z. 55 ff.).

F Also ist es sinnvoll, den Mangel an sozial Tätigen durch Jugendliche auszugleichen.

Das dritte Argument berührt wieder das erste (menschlich reif werden):

P1 Bis zum Abitur geht man 13 Jahre zur Schule, um „die Reife“ zu erlangen.

P2 Durch das Leben lernt man aber besser als durch die Theorie, wie man sozial verantwortlich handelt (Z. 61 ff.), nämlich durch Vorbilder und durch eigenes Tun.

F Also ist es sinnvoll, nach dem theoretischen Schulunterricht ein praktisches soziales Jahr zu absolvieren, damit menschliche Reife erworben werden kann (6. Absatz).

[P2 müsste eigentlich differenziert entfaltet werden, etwa in einem Zusatz zu P2 („durch Vorbilder“ in einen Zusatz stecken, dagegen „durch eigenes Tun“ in P2 belassen.] Der Vorteil dieser Möglichkeit, Argumente in Satzform zu formulieren, besteht darin, dass man ziemlich genau feststellen kann, ob jemand die Argumentation wirklich erfasst hat; dass man ferner einzelne Sätze prüfen kann, also die Prämissen und Zusätze, und dann man anschließend die Logik des Folgerns prüft, also den Übergang von den Prämissen zu F. – Die hier skizzierte Lösung nebst der folgenden Erörterung ist das Ergebnis von Untersuchungen in mehreren 10. Klassen.)

Es folgen paradigmatisch Überlegungen zu Erörterung:

Einwände gegen die drei Argumente:

Beim ersten (zu P2) erhebt sich das Bedenken, dass die Defizite vielleicht nicht so groß sind, wie Markl  behauptet; wenn sie aber wirklich groß sind, können sie nicht in einem Jahr beseitigt werden – erst recht wenn vermutlich viele Jugendliche dieses Jahr nur als lästige Pflicht ableisten (zu F); durch den Dienst bei der Bundeswehr wächst ja auch in der Regel nicht die Liebe zum Vaterland. Die Frage ist also, ob das Ziel wirklich auf diesem Weg erreicht werden kann; vielleicht sind freiwillige soziale Dienste (etwa im Krankenhaus oder Altenheim) mindestens so effektiv wie ein Pflichtjahr.

Zum zweiten Argument ist zu fragen, ob ungelernte Hilfskräfte wirklich fehlende Sozialarbeiter ersetzen können (zu F); falls sie es aber könnten, würde so der Druck auf den Arbeitsmarkt für Sozialarbeiter wachsen, weil es ja genügend billige Arbeitskräfte gäbe, wodurch wiederum der Beruf selbst weniger attraktiv würde.

Speziell zum dritten Argument ist zu bedenken, dass nicht alle „Vorbilder“ wirklich Vorbilder sind (zu P2); auch die studierenden Lehrer spornen nicht alle zum Lernen an, was sie als Vorbilder ja tun müssten. – Für den Wert des eigenen Tuns gelten die gleichen Bedenken wie beim ersten Argument: Das eigene Tun ist nur dann bildend, wenn man es als eigenes Tun ansieht.

Fazit: Trotz mancher Bedenken wäre ein soziales Jahr aller Jugendlichen für die Gemeinschaft gerechter als die bisherige Regelung, dass nur ein Teil von ihnen Ähnliches leisten muss (Bundeswehr – Ersatzdienst); das soziale Jahr wird niemandem schaden – es wären aber große Organisationsprobleme zu lösen. Ob sie allerdings mit ihren „Kosten“ den Nutzen des Sozialdienstes aufwiegen, wäre gesondert zu prüfen.

(Dieses Beispiel zeigt, dass auch die Begriffe von Ziel und Mitteln, von Kosten und alternativen Mitteln für die Erörterung einer Maßnahme bekannt sein müssen.)

V. Ladenthin: Neue Medien – alte Technik – Erörterung (Beispiel)

Neue Medien – alte Technik

Die Erfindung des Computers wird gerne mit der des Buchdrucks verglichen. Der Gebrauch des Computers somit als epochale Befähigung wie das Lesen der Buchstabenschrift; Ersteres müsse deshalb an den Schulen ebenso gelehrt werden wie die anderen Kulturtechniken.
Folgt man dieser Argumentation, müsste allerdings auch die Führerscheinprüfung in der Regelschule abgenommen werden und das Einüben der Bedienung von Fahrkartenautomaten ebenso. Die Rede von der Kulturtechnik kann nicht begründen, dass man Computer und Internet auf den Lehrplan einer ordentlichen Regelschule setzen soll. Aber vielleicht haben wir die Rede ja missverstanden. Es geht nicht um die Geräte, sondern um das Bedienen selbst. Das Arbeiten mit dem Computer wird als eine Kulturtechnik verstanden, so wie das Lesen oder das Schreiben. Man versteht also Kulturtechnik als Synonym für »elementare Technik«. Hätte man das doch gleich gesagt! Das ist ja etwas ganz anderes. Man lernt deshalb nicht die Bedienung des Brotbackautomaten in der Schule, weil man die Elementartechnik des Lesens lernt, mit deren Hilfe man dann die Bedienungsanleitung verstehen können sollte.
Dann aber wäre zu fragen, ob die Bedienung des Computers wirklich eine elementare Technik ist wie Lesen und Schreiben.
Nun weiß jeder, der einmal vor einem Computer gesessen hat, dass das Bedienen eines Computers eine hoch komplexe Tätigkeit ist, ein Zusammenspiel von Kenntnissen (Welcher Knopfdruck hat welche Folge?), Fähigkeiten (Mal systematisch nachdenken, wo der Grund für die Meldung »Achtung! Systemfehler!« liegen könnte!), Geduld (zwölf Seitenangaben für das Stichwort »Speichern«) und Fertigkeiten (feinmotorischer Art beim Bedienen der Maus). Die Bedienung des Computers ist eine Tätigkeit, die sich in mehrere Elemente zerlegen lässt. Es ist demnach gerade keine elementare Technik.
Man muss (Kulturtechnik eins) lesen können – entweder die Wortsprache (Kulturtechnik eins a) oft noch Englisch verstehen können (Kulturtechnik eins a/Strich) oder die viel schwierigeren Piktogramme (Kulturtechnik eins b).
Man muss (Kulturtechnik zwei) Ausdauer haben, die 500 Seiten starke Bedienungsanleitung ganz durchzulesen. Man muss (Kulturtechnik drei) im System denken können (wenn/dann; entweder/oder). Man sollte eine gewisse Fingerfertigkeit haben (Kulturtechnik vier), um die Tastatur bedienen zu können.
Mehr elementare Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten muss man nicht beherrschen, um jeden Computer bedienen und im www überallhin surfen zu können. Jeder Computer lässt sich mit diesen vier elementaren Kulturtechniken – Lesen, Fremdsprache, systemisches Denken und Feinmotorik – erfolgreich bedienen. Es sind die notwendigen Bedingungen. Die hinreichenden Bedingungen sind je nach Computer anders. Man braucht sie erst, wenn man ein spezielles Programm benutzt – oder das Programmieren lernt.
Nun sind dies aber genau die Fähigkeiten, die man zum Bedienen des Backautomaten genauso braucht wie zum Öffnen einer Sardinenbüchse. Nicht der Computer also ist eine elementare Kulturtechnik sondern das Bedienen des Computers verlangt nach elementaren Kulturtechniken. Die aber kann man an jeder Schule lernen.
Wenn man also die Fähigkeit zum Umgang mit Computer und Internet gründlich fördern will, dann sollte man die Ausbildung in den vier wirklich elementaren Kulturtechniken fördern, nämlich (1) Sprache (dabei auch Kulturtechnik 1a: Englisch), Arbeitsdisziplin und Ausdauer (Kulturtechnik 2: Sekundärtugenden!), systemisches Denken, also Lernen am Modell, und Lernen von Modellen, wie es jeder vernünftige wissenschaftsorientierte Unterricht bot (Kulturtechnik 3) und Feinmotorik (Kulturtechnik 4).
Mehr beherrschen die, die Computer erfinden und bauen, auch nicht. Sie haben ihre Kenntnisse ja auch nicht am Computer erlernt, sondern erfanden den Computer durch das Zusammenspiel der vier Grundtechniken. Eifern wir ihnen nach! Übertreffen wir sie, indem wir die Kulturtechniken in Fächern wie Deutsch, Englisch, Mathematik und Physik, Sport oder Kunst (Feinmotorik beim Aquarellieren!) noch besser ausbilden!
Übrigens: Nach der Erfindung des Buchdrucks haben die Kinder an den Schulen nicht den Buchdruck gelernt, sondern das Lesen.

Volker Ladenthin,
Rheinischer Merkur, 6. Oktober 2000
[nach BILDUNG aktuell, ausgabe 8/2000, S. 15]

Erläuterungen zu Absatz
(2) synonym: Wort gleicher Bedeutung;
(4) Feinmotorik: Fähigkeit, kleine Bewegungen exakt auszuführen;
(5) Piktogramm: Bildzeichen;
(7) notwendige Bedingung: unerlässliche Bedingung / hinreichende Bedingung: [hier] zusätzliche Bedingung;
(9) Lernen von Modellen, z.B. Atom-Modell… Die Wissenschaftler denken in solchen vereinfachenden Modellen.

Analytische Bemerkungen:

In Ladenthins Aufsatz vom 6. Oktober 2000 kann man unterscheiden
– die Argumentation der Gegner,
– die Erörterung dieser Argumentation durch Ladenthin,
– das Argument Ladenthins,
– seine Analogie zwischen der Erfindung des Buchdrucks und des Computers.

Ich stelle zuerst Ladenthins Argument dar (P = Prämisse, Z = Zusatz, F = Folgerung; in Klammern hinter den Sätzen die Nummer des Absatzes):

P1: Der Umgang mit dem Computer ist eine komplexe Tätigkeit. (4)

Z1 zu P1: Sie setzt sich aus mehreren elementaren Kulturtechniken zusammen, wie Lesenkönnen usw. (4) – (7)

Z2 zu Z1: Komplexe Tätigkeiten sind nicht elementare Techniken. (4)

P2: In der Schule müssen (nur) die elementaren Tätigkeiten (Fähigkeiten) geübt werden. (9) und (10)

Z zu P2: Man lernt ja auch nicht das Bedienen von Backautomaten in der Schule. (8)

F: Deshalb soll in der Schule nicht der Umgang mit dem Computer, sondern es sollen die elementaren Kulturtechniken in den klassischen Schulfächern verstärkt geübt werden.

Erörterung:
Man muss zwei verschiedene Unterscheidungen treffen:
komplexe – einfache Tätigkeiten
elementare (allgemeine, grundlegende) – spezifische Fähigkeiten (Kulturtechniken)
Entscheidend ist die Einsicht, dass Ladenthin den Z2 macht, dass er also die „Gleichung“ aufstellt: Komplexe Tätigkeiten können nicht elementare Kulturtechniken sein. Dazu ist zweierlei zu sagen:
1. Auch Schreiben und Lesen, also die Lektüre Ladenthins und die Erörterung seiner Argumentation, ist ein komplexer Vorgang, sogar ein ziemlich komplexer; trotzdem sind Schreiben und Lesen elementare Kulturtechniken.
2. Die Gleichsetzung von „nichtkomplex“ (einfach) und elementar ist also falsch; durch die Qualifizierung „komplex“ kann nicht nachgewiesen werden, dass der Umgang mit dem Computer keine elementare Fähigkeit sei.
Daraus ergibt sich, dass aus P1 und P2 nicht F folgt.
Der gleiche Fehler beherrscht die Erörterung Ladenthins, in der er das Argument seiner Gegner widerlegt.
Mit dieser Widerlegung ist nicht erwiesen, dass der Umgang mit dem Computer eine elementare Fähigkeit ist, die in der Schule erlernt werden sollte; die Bedeutung dieser Fähigkeit (auch im Vergleich mit anderen Fähigkeiten – also in der optimalen Verwertung der „knappen“ Schulzeit) wäre gesondert zu prüfen.
Wie sind wir vorgegangen? Wir haben untersucht, wie Ladenthin die Begriffe „komplex“ und „elementar“ verwendet; er stellt sie einfach einander gegenüber, während sie nach unserer Einsicht jeweils andere Antonyme aufweisen und direkt nichts miteinander zu tun haben.

Auch die von Ladenthin formulierte Analogie ist falsch. Richtig sieht sie etwa so aus:
Erfindung des Buchdruck – des Computers
Bücher lesen – mit dem Computer arbeiten
Bücher drucken – Programme schreiben.

Bei Analogien und Bildern muss man gut aufpassen, weil sie so eingängig sind und weil wir es nicht gewohnt sind, die Logik von Bildern zu prüfen; aber auch der Gebrauch von Bildern und Analogien, rhetorisch wirksam, folgt einer zumindest begrenzt prüfbaren Logik.

Erörtern, Erörterung: das neue NRW-Format

In NRW wird derzeit eine neue Form der Erörterung eingeführt:
Den Schülern wird eine Reihe Argumente vorgegeben, mit denen eine bestimmte Maßnahme begründet werden soll; aber nicht alle Argumente der Liste sind als solche brauchbar, und es gibt mindestens ein Gegenargument darunter. Die Argumente werden in der Form von Stichworten (unvollständigen Sätzen) geliefert; die Schüler können auch selber noch welche ergänzen. – Aufgabe der Schüler ist dann, die besten Argumente auszusuchen, ihre Auswahl zu begründen, das stärkste Gegenargument (mit Begründung) auszusuchen und daraus (meist adressatenbezogen) eine Erörterung zu machen, wobei sie noch daauf hingewiesen werden, bitte Einleitung und Schluss nicht zu vergessen.

Dieses Format hat eine Reihe von Vorzügen – vor allem den, dass Schüler sich nicht Gegenargumente aus der Nase ziehen müssen, die ihnen nur deshalb eingefallen sind, weil sie „Gegenargumente“ heranziehen müssen. Aber:

Bei dieser Form zeigt sich erstens ein Problem deutlich, das ein Grundsatzproblem ist und bei allen Formen des mind-map-ähnlichen Arbeitens auftaucht: Stichworte sind oft unklar; der Gedanke bleibt zu unbestimmt, als dass man ihn überhaupt fassen und beurteilen könnte.
Ich möchte das an einem Beispiel zeigen: Wenn das Argument für eine Trennung der Geschlechter beim Schulsport lautet: „Mädchen schämen sich“, dann ist meines Erachtens unklar, was gemeint ist: 1. Schämen sich einige oder alle Mädchen?  2. Schämen sie sich, weil ihre sportlichen Leistungen in manchen Disziplinen schlechter als die der Jungen sind? Oder schämen einige sich, weil sie mit der Gestalt ihres Körpers unzufrieden sind und sich nicht relativ offen den Blicken der Jungen präsentieren wollen? 3. Aber würden sie in diesem Fall sich nicht auch schämen, so von den anderen Mädchen erblickt zu werden – was als Argument zur Forderung führen müsste, den Schulsport in diesem Alter ganz abzuschaffen?
Deshalb ergibt sich aus der Unklarheit der Phrase „Mädchen schämen sich“ für den Lehrer das Problem, wie er die Einschätzung der Geltung und der Relevanz dieses Arguments bewerten will. Ist die Lesart des Lehrers maßgeblich, auch wenn kein Schüler diese Lesart der Phrase kennt?
Eine Schwäche der Form selber sei, zweitens, noch genannt: Das neue Aufgaben-Format in NRW arbeitet mit „Meinungen“, die durch Argumente zu begründen sind. Aber die Meinung, man sollte im Schulsport Jungen und Mädchen trennen, besagt in Wahrheit, dass eine Maßnahme vorgeschlagen wird. Die Trennung ist eine Maßnahme, der als „Mittel“ dann verschiedene Ziele zur Begründung zugeordnet werden. Diese Logik ist aber nicht die Logik des rationalen Handelns, dass man nämlich geeignete Maßnahmen sucht, um Ziele verwirklichen zu können. Deshalb kann diese Form langfristig nur eine Vorübung im rationalen Erörtern sein; prinzipiell führt sie zu einem opportunistischen Argumentieren, weil einer erwünschten Maßnahme einfach Ziele zugeordnet werden, um so die Maßnahme zu begründen.
Um meine Einschätzung der in NRW geförderten Logik: gute Gründe für eine erwünschte Maßnahme zu finden, zu untermauern, verweise ich auf den Artikel Franziska Augesteins: Als die Menschenrechte schießen lernten (SZ 19. Mai 2009, S. 13). Frau Augstein weist nach, wie 1999 für ein militärisches Eingreifen der NATO in Albanien „gute Gründe“ zusammengetragen wurden – mit dem Ergebnis, dass wir heute immer noch vor einem Scherbenhaufen stehen.
Es kann nicht darum gehen, gute Gründe für eine erwünschte Maßnahme zu finden! Vernunft zeigt sich darin, dass bei einer vorgeschlagenen oder geplanten Maßnahme vom Ziel her gefragt wird, ob die Mittel geeignet sind, das Ziel zu erreichen, oder es ob für diesen Zwecke bessere Mittel gibt – und welche Nebenwirkungen der Einsatz dieser Mittel mit sich bringen wird. Allgemeiner formuliert: Vernunft zeigt sich darin, dass Folgen bedacht und Alternativen geprüft werden, aber nicht darin, dass Argumente aufgehäuft werden, um mit ihnen eine Maßnahme zu begründen. Wenn Argumente nur aufgehäuft werden, ist die Vernunft zur Hure des Wünschens und Wollens verkommen: ein nuttiges Denken! Ich schließe mich also der Polemik Platons gegen die käufliche Rhetorik der Sophisten an, welche beanspruchten, den schwächeren Grund (logos) zum stärkeren machen zu können.

Ich will zugeben: Es gibt einige Fälle, wo direkt gefordert werden kann, eine bestimmte Maßnahme sofort zu beenden – etwa Menschen zu foltern; in diesem Fall ist es klar, dass die Maßnahme des Folterns unmenschlich ist und gegen elementare Rechte verstößt. Die Feinheit besteht hier argumentativ allerdings darin, dass eine Maßnahme beendet werden soll – für jede Maßnahme, die erst durchgeführt werden soll, bleibt das Problem des richtigen (nuttig oder vernünftig?) Denkens bestehen.

Methodisch ergibt sich das NRW-Problem daraus, dass die Konzeption der Aufgabe hinter den heutigen Stand der Linguistik zurückfällt und so tut, als gelte es immer, Meinungen zu begründen. Wenn man nicht sieht, dass Erklärungen darauf geprüft werden, ob sie richtig sind; Forderungen darauf, ob sie berechtigt sind; Maßnahmen darauf, ob sie sinnvoll sind – wenn man das nicht sieht, muss man allerdings meinen, es würden immer nur Meinungen begründet … (Vgl. meine Darstellung: Grundbegriffe sprachlichen Handelns, denen dann Texttypen entsprechen, sowie meine Überlegung: Wozu und wie erörtern?!).

867. Man tut immer besser, dass man sich grad ausspricht, wie man denkt, ohne viel beweisen zu wollen: Denn alle Beweise, die wir vorbringen, sind doch nur Variationen unserer Meinungen, und die Widriggesinnten hören weder auf das eine noch auf das andere. (Goethe: Maximen und Reflexionen – wie ein Kommentar zum NRW-Format!)