Analysieren heißt, einen Text als „gemacht” ansehen und in Thema und Aufbau zu begreifen suchen. Bei Sachtexten tut der Autor etwas, bei Erzählungen unmittelbar „der Erzähler“, erst mittelbar der Autor. Die alte Frage nach der Intention des Autors (Wozu?) stellen wir zurück hinter die Frage, was die sprachlich handelnde Größe tut / getan hat und wie sie das gemacht hat. Wenn wir uns bei der Analyse auf den Inhalt beziehen, hat dies nicht den Zweck der Inhaltswiedergabe; der Inhalt wird als bekannt vorausgesetzt. Wir müssen also von der Verwendung der Fabeln (s. meinen Aufsatz „Fabeln früher“!) ausgehen, um ihren Aufbau zu verstehenen
Für die antike Fabel ist die Konfrontation gegensätzlicher Handlungsweisen (oder -prinzipien) wesentlich. Sie können in zwei Figuren verkörpert sein; es kann aber auch sein, dass nur ein einziges Prinzip von einer Figur im Handeln realisiert wird und das gegensätzliche entsprechend hinzugedacht werden muss. Es wird über „richtig oder falsch?“ durch (Miss-)Erfolg oder durch ein kluges Wort entschieden [entweder so, dass jemand den Dummen belehrt, oder so, dass der Dumme seinen Fehler nachträglich einsieht und das falsche Prinzip formuliert!]. Dementsprechend geht es in einer Fabel nicht um das, was zu tun moralisch gut ist, sondern was menschlich klug ist.
Bei der Analyse lehrhafter Fabeln müsste man also den konkreten Fall kennen, auf den sie sich beziehen (Bewertung zweier Handlungsweisen in einer Entscheidungssituation), oder man muss sie als Anweisung für typische, häufig vorkommende Fälle begreifen; dann unterscheiden sie ein richtiges/falsches Handlungsprinzip für diesen Situationstyp. Wir müssen also einen allgemeinen Situationsbezug aus der Entscheidung und den vorkommenden Handlungsprinzipien rekonstruieren.
Man kann dementsprechend drei oder vier feste Elemente der Fabel unterscheiden: Ausgangssituation, Handlung, Entscheidung (und evtl. Verallgemeinerung, Lehre, Anwendung: Epimythion). – Im Fach Latein wird der Aufbau einer Fabel dagegen häufig so beschrieben: Exposition (Einleitung: Situation) – Aktion (einer Figur) – Reaktion – Lehre; die „Lehre“ kann auch am Anfang stehen oder fehlen.
Ist diese Beschreibung rein formal am Aufbau orientiert (und oft nicht genau durchzuführen), geht eine an der „Logik“ der Fabel orientierte Beschreibung von der Frage aus: Über welches Prinzip (oder auch: über wessen Prinzip) wird (wo und wie) entschieden? [Diese analytischen Überlegungen sind im Kommunikationsschema beheimatet: Wer will wem wie was vermitteln? (Typische Situation, gegensätzliche Handlungsprinzipien, Entscheidung für das richtige Prinzip)] Es wird meist nützlich sein, sich bei dieser Untersuchung an die eventuell angehängte Verallgemeinerung zu halten; diese kann aber auch den Text verfehlen, wenn sie später erst angehängt worden ist.
Die „Handlung“ ist dann die Phase des erzählten Geschehens, in der die beiden Handlungsprinzipien einander konfrontiert werden oder das einzige realisierte Prinzip in einer Aktion vorgeführt wird. Das ihr voraufgehende Geschehen ist die Ausgangssituation. Es ist denkbar, dass es keine ausdrücklich formulierte Ausgangssituation gibt; sie ist dann in der bloßen Existenz zweier unterschiedlicher (gegensätzlicher) Figuren gegeben.
Nach diesen Vorüberlegungen kann man zeigen, wozu es gut sein soll, Fabeln in Klasse 11 zu untersuchen:
1. Man kann die Bedeutung des Aufbaus eines Textes für das Verständnis sowie die Problematik verschiedener Konzeptionen vom „Aufbau“ eines Textes vorführen.
2. Da Fabeln kurze Texte sind, kann man in kurzer Zeit viele kennen lernen. Das macht es möglich auch den Wandel von Motiven (etwa von „Wolf und Lamm“) und dessen Bedingtheit (Änderung im Situationsbezug, spielerische Variation) aufzuzeigen.
3. Ferner ist es möglich, die Geschichte einer Gattung von der Antike bis in die Gegenwart zu verfolgen: Fabeln wurden ursprünglich in der öffentlichen Auseinandersetzung zur Argumentation verwendet, wie wir von Aristoteles wissen. Sie dienten als Beispiel, mit dem in einem konkreten Fall eine Handlungsweise der Hörer als falsch / richtig begründet wurde. Heute werden Fabeln so nicht mehr verwendet; sie dienen entweder zur allgemeinen Belehrung (etwa für Kinder), allgemein zur politisch-sozialen Kritik (wie bei Lessing) oder zur literarischen Unterhaltung; sie wenden sich an Leser.
Nur am Rande sei angemerkt, dass auch Schüler in Klasse 11 sich oft schwertun, einfache Fabeln angemessen zu verstehen.
Für die schriftliche Darstellung der Analyse ergibt sich:
1. Die Darstellung („Aufsatz“) muss nicht dem Verlauf der eigenen Analyse folgen (kann dies nur in Ausnahmefällen tun!), sondern deren Ergebnis geordnet bzw. gegliedert darstellen.
2. Es genügt nicht, in einer Liste den sogenannten Fabelelementen Textstücke in Zeilenangaben zuzuordnen (oder den Inhalt nachzuerzählen). Was begriffen ist, soll in Sätzen ausgesprochen werden.
3. Wenn es mehrere Möglichkeiten gibt, einen Text zu verstehen, ist eine Analyse umso besser, je mehr dieser Möglichkeiten sie vorstellt, erklärt und diskutiert.
(Als Klausurthema nehme ich gern den Fall, dass eine bekannte Fabel von einem anderen Autor neu verabeitet worden ist: Fabeln im Vergleich, z.B. „Der Tanzbär“ von Gellert und Lessing; Äsop: „Der Hase und die Schildkröte“ gegenüber Thurber: „Die Schildkröte und der Hase“; Phaedrus: Fuchs und Rabe, gegenüber Waalkes: „Das Märchen vom Fuchs und dem Raben“). Die Analysen dieser Fabeln findet man, wenn man ‚Titel +norberto42′ eingibt.
Coenen, Hans Georg: Die Gattung Fabel. Vandenhoeck & Ruprecht 2000.
Leibfried, Erwin: Fabel. C.C. Buchner 1984
Pelster, Theodor: Epische Kleinformen, 1976, S. 55 ff.
Die Abgrenzung der verschiedenen kleinen Formen „lehrhaften“ Erzählens ist schwierig und braucht hier nicht geleistet zu werden; die Theorien hierzu sind nur begrenzt brauchbar – am besten liest man viele Fabeln!
Für das Verständnis von Fabeln könnte Peter von Matt: Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist, 2006, hilfreich sein; im viertenTeil handelt er „Vom Fuchs“ als der zentralen Fabelfigur, jedoch unter dem Aspekt der Intrige. Er zieht viele Werke der Weltliteratur heran, die auf dem Intrigenhandeln des Fuchses aufbauen, von der Philosophie (Macchiavelli) bis zum Drama; das ist zwar nicht (immer) systematisch gedacht – so gehört m.E. der Trickster nicht hierhin – aber doch für den Leser anregend!
Vgl. auch http://fabeln.blogbox24.de/!
In Ergänzung dazu möchte ich versuchen, zur griechischen Fabel einen Zugang über die Theorie des Aristoteles zu gewinnen.
Nach Aristoteles (Rhetorik II) wurden Fabeln in der Antike als Mittel, etwas zu beweisen, verwendet; sie gehören zu den Beispielen, auf die man sich beruft, und zwar zu den (bloß) erdachten. Das macht er am Beispiel der Fabel des Stesichoros deutlich:
Situation:
In Himera steht eine politische Entscheidung an:
Das Volk hat Phalaris zum Heerführer gewählt.
Soll es ihm nun auch noch eine „Leibwache“ geben?
Stesichoros erzählt dazu in Himera eine Fabel:
Das Pferd war vom Hirsch geschädigt worden,
wollte sich rächen und bat den Menschen um Hilfe;
der Mensch versprach, ihm zu helfen, falls es sich einen Zügel anlegen ließe.
* Als das Pferd darin einwilligte, musste es dem Menschen dienen, statt sich am Hirsch rächen zu können.
Anwendung durch Stesichoros:
Seht zu, dass ihr in eurer Absicht, an euren Feinden Rache zu nehmen, nicht das gleiche Schicksal wie das Pferd erleidet…
Um nicht der Rhetorik dieser Fabel zu erliegen, sondern sie zu durchschauen, suchen wir fiktiv eine Alternative:
Ein Parteigänger des Phalaris erzählt dagegen folgende Fabel:
Ein Ritter hatte ein edles Pferd gekauft;
damit es dem gut erging, baute er ihm einen schönen Stall.
Doch um die Wiesen und das Gelände zum Schutz des Pferdes einzuzäunen, war er zu geizig.
* Da kam ein Rudel Wölfe und fiel das Pferd auf der offenen Weide an, ehe es den Stall erreichen konnte.
Anwendung durch besagten Parteigänger:
Seht zu, dass ihr in eurem Geiz nicht das gleiche Schicksal erleidet wie jener Ritter…
Auswertung dieser Analyse:
Durch die Fabel wird die Entscheidungssituation identifiziert. Stesichoros definiert die Alternative: die Freiheit behalten / sich Zügel anlegen lassen (schönes Bild!); die Absicht, sich zu rächen, tritt hier zurück. Der Parteigänger definiert die Alternative: sich etwas Schönes anschaffen (beginnen) / aus Geiz nur halbe Sachen machen; auch bei ihm tritt das Ziel, sich an den Feinden zu rächen, hinter der Diskussion des Mittels zurück.
Die Rhetorik der Fabel besteht darin, in einer Entscheidungssituation einen ähnlichen Fall (bzw. eine ähnliche Situation) vor Augen zu stellen (und die Situation so zu identifizieren), eine Alternative des Handelns zu formulieren (Ja / Nein) und eine plausible Entscheidung zu demonstrieren (in diesem Fall so, dass die falsche Entscheidung vorweggenommen und durch den Misserfolg des Handelns widerlegt wird).
Die Stärke von Aristoteles‘ Theorie besteht darin, die polare Struktur vieler Fabeln (so oder so?) dadurch zu erklären, dass sie als Beispielerzählungen gebraucht wurden, um Entscheidungen (so oder so) herbeizuführen bzw. eine Möglichkeit sich zu entscheiden als richtig zu qualifizieren.
Die Schwäche der Theorie besteht darin, dass es Fabeln gibt, die sich nicht nach diesem Schema verstehen lassen:
1. ätiologische Erzählungen wie „Die Schwalbe und die Vögel“, wo erklärt wird, warum die Schwalbe als einziger Vogel bei den Menschen wohnt, oder „Die Fledermaus, der Dornstrauch und der Tauchervogel“, wo Eigentümlichkeiten der besagten Tiere und des Dornstrauchs „erklärt“ werden;
2. Erzählungen, die in einem witzigen oder geistreichen Satz ihre Pointe haben:
„O Herrscher Zeus,
vorhin habe ich dir ein Böckchen versprochen,
wenn ich den Dieb [eines Kalbes] gewahr würde;
jetzt aber werde ich dir einen Stier zum Opfer bringen,
wenn ich dem Dieb [einem Löwen] entgehe.“ („Der Rinderhirt“)
3. entlarvende Erzählungen: Der Marder lässt sich auch durch Argumente nicht von seinem Vorhaben, den Han zu fressen, abhalten; die ganze Argumentation des Fuchses dient nur dazu, seinen eigenen Mangel (Schwanz gestutzt) auch den anderen Füchsen als erstrebenswerte Daseinsform zu „verkaufen“ („Der Fuchs mit dem gestutzten Schwanz“).
Daraus ergeben sich die Fragen, ob Aristoteles‘ Theorie verengt ist, gar falsch ist; ob es Fabeln gibt, die mit seiner Theorie nicht erklärt werden können, weil etwa die Lust an Sprachspielen sich überall durchsetzt; ob es überhaupt einen einheitlichen Fabelbegriff mit klar definierten Merkmalen gibt oder ob es im Lauf einer etwa für 3000 Jahre belegbaren Geschichte nicht vielfältige Formen des Gebrauchs solcher als erdacht erkennbarer kurzer bildhafter Erzählungen gibt, sodass Aristoteles‘ Theorie nur einen bestimmten Zeitraum erfasste?
Was geschieht, wenn Fabeln nicht mehr in Situationen als Beispiele erzählt werden, sondern isoliert überliefert und in Büchern gesammelt werden? Wenn sie dann zu dieser Verwendung eigens erfunden oder wenn alte Fabeln „spielerisch“ verändert werden (spätestens seit Lessing)? Die alten Fabeln, die jetzt in Büchern stehen, müssen als allgemein gültig, also unabhängig von bestimmten Situationen ausgelegt werden; die Figuren können ein eigenes Gewicht erlangen und sich zu Typen, eventuell sogar zu Charakteren ausbilden; moderne Fabeln können dagegen allein der Unterhaltung dienen (Freude an der Variation bekannter Motive auslösen!) und einen spielerisch-künstlerischen Charakter annehmen.