S. Geisel: Geschichten erzählen (Das Narrativ)

Es heißt: Der Mensch ist das Tier, das Geschichten erzählt – und die sind längst in der Politik angekommen. Allerdings ist bei einem erfolgreichen Narrativ nicht entscheidend, ob es mit der Realität übereinstimmt oder Fake News verbreitet.

„Kinder brauchen Märchen“, so heißt ein berühmtes Buch von Bruno Bettelheim. „Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben“, schreibt die amerikanische Autorin Joan Didion. „Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben. Wir interpretieren, was wir sehen, und suchen uns die praktikabelste der verschiedenen Lösungen aus. Wir leben voll und ganz darin, dass wir eine narrative Linie über verstreute Bilder legen.“

„Wenn man es aus dem biologischen Blickwinkel unserer Sinne her betrachtet, empfängt unser Geist von der Welt nur bruchstückhafte Informationen“, sagt Alberto Manguel. „Hätten wir nur diese Fragmente – ein Geruch, eine Farbe, eine Form, ein Klang –, ergäbe das Universum für uns keinen Sinn. Erst, wenn ich meine Vorstellungskraft einsetze, um eine Erzählung zu konstruieren, kann ich mit der Welt in einen Austausch treten.“

Alberto Manguel ist der Autor des Klassikers „Eine Geschichte des Lesens“. Er hat sein ganzes Leben darüber nachgedacht, warum wir Geschichten brauchen. „Ich glaube, dass es dafür einen biologischen Grund gibt. Nach Darwin entwickeln wir als Tiere Werkzeuge, um zu überleben, und die menschliche Gattung hat die Vorstellungskraft entwickelt, als Überlebenswerkzeug“, erklärt er. „Die Vorstellungskraft erlaubt es uns, eine Erfahrung zu machen, ohne diese Erfahrung tatsächlich machen zu müssen. Wir können uns vorstellen, was geschehen wird, wenn wir nach links oder nach rechts gehen, oder wenn uns jemand begegnet, und wir nutzen Geschichten dazu, die Vorstellung einer Erfahrung zu konstruieren. Wir benutzen den narrativen Impuls.“

Auch das Vergnügen, das Geschichten uns bereiten, sei kein Selbstzweck: „Wir nutzen Geschichten. Wir benutzen den narrativen Impuls. Vergnügen bereitet das Erzählen erst in zweiter Linie, wie bei den anderen Überlebensimpulse auch, es ruft alle möglichen Emotionen hervor. Es ist wie beim Sexualakt: Sein Ziel besteht nicht darin, uns zu befriedigen, sondern die Gattung fortzusetzen. Aber damit wir es tun, muss es uns Vergnügen bereiten. Und so verhält es sich auch mit dem Geschichtenerzählen: Sein Sinn besteht darin, dass wir uns in der Welt zurechtfinden.“ Um uns in der Welt zurechtzufinden, müssen wir sie uns zu eigen machen: „Unser Gehirn ist nicht nach den Dimensionen des Universums strukturiert. So denken wir uns die Dinge etwa in einer Reihenfolge: Etwas kommt vorher, etwas anders nachher, etwas ist rechts oder links, oben oder unten. Doch das sind Konventionen, im Universum existiert so etwas nicht. Um eine Erzählung zu konstruieren, muss man irgendwo beginnen.

Der Rote König in ‚Alice im Land der Spiegel‘ gibt dem Gerichtsdiener folgende Regel: ‚Fang mit dem Anfang an, geh weiter durch die Mitte, und wenn du zum Ende kommst, hör auf.‘ So funktionieren Geschichten. Aber die Welt funktioniert nicht so, deshalb fragen wir ständig: Wie hat es angefangen? Ah, Schöpfungsgeschichten! Und wie wird es aufhören? Da haben wir die Apokalypsen.“

„Und dort sehen Sie, wie die Kurve ansteigt“, sagt Michael Solf, „seit dem Ende der 70er-Jahre bis etwa zum Jahr 2000, dort kurz stagniert, um dann richtig abzuheben, und inzwischen findet sich das Wort in einer unteren mittleren Häufigkeit.“ Michael Solf ist Lexikograf. Für das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache bearbeitet er den Eintrag zum Stichwort „Narrativ“. Die Überarbeitung wurde nötig, weil das Wort in den letzten Jahren an Relevanz gewonnen hat. „Unter einer Million Wörtern stecken sechs Narrative, aber wir haben natürlich viele, viele, viele Millionen Wörter. Das heißt, das Wort ist bei uns viele Tausend Mal belegt“, erklärt er.

Ursprünglich hatte der Begriff „Narrativ“ eine neutrale Bedeutung: „Was wir Ende der 70er-Jahre zunächst finden, das ist so etwas wie ein vorgefundener, konstruierter, sinnstiftender Zusammenhang zwischen einer Folge von Ereignissen und Sachverhalten.“ Doch das hat sich geändert: „Man kann aber feststellen, dass der Begriff Narrativ in politischen, gesellschaftlichen und ähnlichen Diskursen häufig benutzt wird, um andere Überzeugungen zu relativieren und sie als willkürlich zu kennzeichnen, als bloße Fiktion, als artifiziell, als etwas, das eigentlich nicht wirklich da ist.“ Für seine These, dass „Narrativ“ ein abwertender Begriff sei, hat Michael Solf einen ganz einfachen Beweis: „Versuchen Sie mal eine Ersetzungsprobe. ‚Das Narrativ von der Unterdrückung der Frau‘ – funktioniert das gut? … Wenn das nicht funktioniert, dann sind wir am Kern der Sache angekommen.“ Wer die Unterdrückung der Frau als bloßes Narrativ bezeichnet, negiert den Sexismus. Vieles von dem, was wir heute als Narrativ bezeichnen, hätte man früher Ideologie genannt: „Ich denke, das ist einer der Gründe für den Erfolg eines solchen Wortes. Als hätte man auf eine wissenschaftlich verbrämte Variante der Diskriminierung nur gewartet.“

„Es scheint, als hätten wir uns bisher getäuscht über das, was Gesellschaften und Nationen zusammenhält. Es sind nicht Verträge, Verfassungen, Gründungsmythen, gemeinsame Sprache und Kultur, Religion oder Ideologie. Es ist das Narrativ, Dummchen!“ So heißt es in einem Artikel, der 2018 in der „Welt“ erschienen ist. Der Journalist und Autor Matthias Heine schreibt in der Rubrik „Modewort“ über die erstaunliche Karriere des Begriffs „Narrativ“. Ursprünglich stammt das Wort aus dem Buch „Das postmoderne Wissen“ des französischen Philosophen François Lyotard. Lyotard verwendet darin den französischen Begriff „grand récit“. Diese Meta-Erzählungen seien in der Postmoderne in die Krise geraten, sagt Heine im Interview: „Das war eben geboren aus dieser von Lyotard so gesehenen Tatsache, dass die großen Erzählungen … der Vergangenheit – die Aufklärung, der Staat, der fürsorgliche Staat, die Nation – oder noch älter, das Christentum, ‚Gott ist allmächtig‘, dass die ihre Strahlkraft verloren hatten nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts, nach dem Zusammenbruch oder der Beschädigung des Kommunismus und er [der Mensch] plötzlich eine Art Verbalisierung suchte, in der man klar machen konnte, dass das eben alles Narrative, Narrationen, Imaginationen oder eben bloß Erzählungen sind und nichts Unveränderliches, und dass es immer einen Kampf solcher Erzählungen gibt.“

Früher galten diese Großerzählungen nicht als Narrativ, sondern als Norm. In der pluralistischen Gesellschaft werden sie abgelöst von Mikro-Narrativen: Jede Identität hat ihr eigenes Narrativ. „Ein Großnarrativ, das lange Zeit nicht infrage gestellt wurde, war ja Mann und Frau. Dass es einfach Mann und Frau gibt. Wenn Sie jetzt non-binäre Identitäten schaffen, schaffen Sie damit neue Mikronarrative, die dieses Großnarrativ infrage stellen. Und das ist eben alles natürlich Ausdruck einer Krise, die aber auch Aufbruch ist.“

„Humans are story-telling animals“, sagt der israelische Historiker Yuval Noah Harari in einer Online-Veranstaltung von Los Angeles Live Talks: „Menschen sind Tiere, die Geschichten erzählen. Unsere Identität basiert auf den Geschichten, die wir glauben. Kaum je gelingt es, Menschen zu politischem Handeln zu inspirieren, indem man ihnen wissenschaftliche Tatsachen erklärt. Wenn Sie den Leuten sagen: ‚e = mc²‘, eine grundlegende Gleichung der Physik – wer wird dann für Sie stimmen? Um Menschen zu inspirieren, brauchen Sie eine Geschichte, eine Mythologie, mit mehr oder weniger Nähe zur Wahrheit.“

Eine jüdische Lehrgeschichte aus dem 11. Jahrhundert: „Wahrheit, nackt und kalt, wurde an jeder Tür des Dorfs abgewiesen. Ihre Nacktheit machte den Menschen Angst. Als Parabel sie fand, kauerte Wahrheit in einer Ecke, zitternd und hungrig. Parabel bekam Mitleid, hob Wahrheit auf und nahm sie mit nach Hause. Hier kleidete sie Wahrheit in eine Geschichte, wärmte sie auf und schickte sie wieder los. Gekleidet in eine Geschichte, klopfte Wahrheit wieder an die Türen des Dorfs, und nun hieß man sie willkommen. Die Dorfbewohner luden sie ein an ihren Tisch und ließen sie an ihrem Feuer sitzen.“

Der Historiker Harari sagt: „Wenn sie den Menschen die Wahrheit sagen, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit, dann wird kaum jemand für Sie stimmen. So würden Sie nie Präsident oder Premierminister.“ „Die wahrscheinlich wichtigste Zutat, die Geschichten mit sich bringen, sind Emotionen“, sagt die Neurowissenschaftlerin und Autorin Maren Urner. „Das, was uns eben vor allem reizt, und warum wir Dinge besser abspeichern können, sind Emotionen, also deshalb funktionieren auch die reinen Fakten, wenn wir versuchen, die irgendwie weiterzugeben, niemals so gut, als wenn wir eine Geschichte drumherum erzählen.

Geschichten verbinden das faktische Wissen mit unserem erlebten Erfahrungshorizont. Das hat auch eine körperliche Dimension, so die Sprachwissenschaftlerin Elisabeth Wehling 2017 in einem Vortrag auf der re:publica. „Alles, was wir denken, denken wir mit dem Gehirn, und das Gehirn ist angebunden an unsere Körper“, erklärt sie. „Deshalb schöpft das Gehirn, wenn es denken will, aus all den körperlichen Erfahrungen, die es abspeichern konnte vorher in unserem Leben. Dazu gehören Gefühle, visuelles Input, Gerüche, Geräusche, Geschmack, Bewegungen. Und wenn wir zum Beispiel Leute im Gehirnscan liegen haben, und die lesen den Satz: ‚John beißt in das Wurstbrot‘, dann feuert in dem Moment, in dem sie das Verb, das Handlungswort ‚beißen‘ lesen, die Gegend im Gehirn los, die damit zu tun hat, selber zu beißen.“ Wenn wir in Geschichten etwas sehen, hören oder riechen, versetzt uns das innerlich in Aktion. Auf Wörter, die etwas erzählen, reagiert unser Gehirn so, als würden wir das Erzählte tatsächlich erleben, berichtet Wehling: „Wenn das Gehirn auf so etwas zurückgreifen darf, dann freut sich das Gehirn ungemein. Wieso? Weil es da so richtig aus seiner Welterfahrung schöpfen darf, da hat es richtig viel zum Mitfeuern.“

[Ausführungen über die Firma Storymachine]

„Tod und Wiedergeburt, und das ist das Grundmotiv der Heldenreise: Einen Zustand zu verlassen, den Ursprung des Lebens zu finden, und in einem reicheren, reiferen Zustand wieder hervorgebracht zu werden“, sagt Joseph Campbell in der Gesprächsreihe „Die Macht der Mythen“. Berühmt wurde der amerikanische Mythologe mit seinem Buch „Der Held in den tausend Gestalten“. Campbell beschreibt die mythische Heldenreise als einen Weg mit klar definierten Stationen: Der Held oder die Heldin folgt dem Ruf zum Abenteuer, er oder sie verlässt die vertraute Welt, besteht Abenteuer und kehrt verwandelt zurück zu der eigenen Gemeinschaft. „Das ist die Tat des Helden: Aufbruch, Erfüllung, Rückkehr.“

Das Muster der Heldenreise findet sich nicht nur in Märchen, Mythen und Filmen. Campbell beschreibt es als archetypisches Prinzip, das in jedem einzelnen menschlichen Leben realisiert wird. Auch wir vernehmen beim Übergang von einer Lebensphase in die nächste den Ruf zum Abenteuer, den wir entweder annehmen oder ablehnen. Joseph Campbell beschreibt die individuelle Heldenreise als Reifungsprozess: „Die Reifung des Individuums: Es ist diese geradezu pädagogische Anleitung, der man folgt, das geht von der Abhängigkeit ins Erwachsensein, dann folgt die Reifung, und dann geht es zum Exit.“

Wir erzählen uns Geschichten, nicht nur, um zu leben, sondern um uns selbst zu optimieren und uns zu verkaufen. Wir haben aus dem Storytelling eine Industrie gemacht. Warum ist das Erzählen gerade heute so wichtig geworden? Der Abschied von den Großerzählungen, den François Lyotard diagnostizierte, ist nur einer von vielen Gründen.

Die Neurowissenschaftlerin Maren Urner nennt einen weiteren: „Da denke ich einfach, dass diese Unsicherheit, die wir erleben, also wir jetzt im Sinne von gesamtgesellschaftlich gerade in den sogenannten besonders entwickelten Industrieländern, wo alles möglich zu sein scheint. Unsicherheit, weil wir zu viele Handlungsoptionen haben, zu viel, gemessen an dem, was unser Gehirn leisten kann. Übertragen auf die Berufswahl, die Partnerwahl, auf die Wahl, wie wir unsere Zeit verbringen, ist unser Gehirn in einem kontinuierlichen Überforderungsmodus. Das heißt, umso stärker, würde ich argumentieren aus Sicht der Neurowissenschaften, Psychologie, sind wir auf der Suche nach Narrativen, die uns Halt geben.“

Oder liegt es an der Informationsflut, wie Philipp Jessen von Storymachine vermutet: „Weil es so laut ist, weil es so viele Informationen gibt, weil es so viele Streitereien und öffentliche Diskurse gibt in einer unglaublich erratischen Lautstärke, dass die Leute gar nicht mehr wissen, wo hören sie hin? Und das ist natürlich der Grund, dass eine gut erzählte Geschichte natürlich durchdringt bei der ganzen Lautstärke, die es heutzutage gibt.“

Liegt es an der Politik, wie Alberto Manguel glaubt? „Vielleicht ist es tatsächlich so, dass wir uns heute stärker dem Storytelling zuwenden als zu anderen Zeiten. Auf jeden Fall leben wir in einer verwirrenden Zeit. Wir befinden uns wieder mitten in politischem Chaos. Wir dachten, der Faschismus sei ein Ding der Vergangenheit, doch er ist keineswegs vergangen. Die Faschisten erheben wieder ihren Kopf, als hätte es den Zweiten Weltkrieg nie gegeben. Und wir sind mitten in einer Pandemie. Nichts ist sicher. Wir brauchen Geschichten, um einen Sinn zu finden in einem Universum ohne Sinn.“

Geschichten bieten Halt, das zeigt auch der Blick in einen Märchenklassiker. „Da fingen sie an zu laufen, stürzten in die Stube hinein und fielen ihrem Vater um den Hals. Der Mann hatte keine frohe Stunde gehabt, seitdem er die Kinder im Walde gelassen hatte, die Frau aber war gestorben. Gretel schüttelte sein Schürzchen aus, dass die Perlen und Edelsteine in der Stube herumsprangen, und Hänsel warf eine Handvoll nach der andern aus seiner Tasche dazu. Da hatten alle Sorgen ein Ende, und sie lebten in lauter Freude zusammen. Mein Märchen ist aus, dort lauft eine Maus, wer sie fängt, darf sich eine große Pelzkappe daraus machen.“

Sieglinde Geisel: Die Wirklichkeit erfinden. Fluch und Segen des Narrativs. Eine Sendung in „Zeitfragen“ des Deutschlandfunks Kultur, 31.05.2021

P.S. Dass „Narrativ“ abwertend gebraucht wird, kann ich nicht feststellen. N.T.

Herder: Wie lernt man, gut zu sprechen?

Herder hat 1796 den kleinen Aufsatz „Von der Ausbildung der Rede und Sprache in Kindern und Jünglingen“ geschrieben. Er legt dar, wie wir von Natur aus nur tierische Laute äußern und schreien, dass wir zu sprechen also lernen müssen. Gut zu sprechen lernen wir, sagt er, indem gut zu und mit uns gesprochen wird; wir ahmten nach, wie mit uns gesprochen wird.

Er nennt dann drei Prinzipien, nach denen wir gut zu sprechen lernen:

1. Das Lesen, ein lautes Lesen der besten Schriften in jeder Art des Vortrags gibt sowohl der Rede als der Seele selbst eine große Vielförmigkeit und Gewandtheit.

2. Zum guten Lesen und Auswendiglernen gehört notwendig die eigene Komposition. Man sollte also jeden Tag einen kleinen Text schreiben oder abschreiben.

3. Am innigsten wird die Sprache und Rede aber durch Umgang gebildet; man soll sich also befleißigen, jedes Mal aufs beste und anständigste zu reden, aufs bestimmteste und gefälligste zu antworten.

Drei Regeln gelte es zu beachten, wenn man nüchtern sprechen und gut miteinander auskommen wolle:

1. Man falle niemandem in die Rede.

2. Man hüte sich vor gewohnten Eigenheiten und Lieblingsausdrücken.

3. Man hüte sich vor allem Despotismus im Umgang und in seinen Gesprächen, also vor der Rechthaberei.

Bei allem komme es darauf an, dass unsere Rede ganz sei und etwas Ganzes bestimmt sage. „Das, was man sagen will, rein, ganz, bestimmt und doch artig, höflich zu sagen und ein Ende in seiner Rede finden zu können: das ist der schönste Ausdruck der Gesellschaft und des Umganges.“

https://www.pressezimmer.de/sitemap/ (dort „Herder“ anklicken)

Goethe: Über das Lesen

Was mein leichter Griffel entwirft, ist leicht zu verlöschen,
Und viel tiefer präget sich nicht der Eindruck der Lettern,
Die, so sagt man, der Ewigkeit trotzen. Freilich an viele
Spricht die gedruckte Kolumne; doch bald, wie jeder sein Antlitz,
Das er im Spiegel gesehen, vergißt, die behaglichen Züge,
So vergißt er das Wort, wenn auch von Erze gestempelt.
Reden schwanken so leicht herüber hinüber, wenn viele
Sprechen und jeder nur sich im eigenen Worte, sogar auch
Nur sich selbst im Worte vernimmt, das der andere sagte.
Mit den Büchern ist es nicht anders. Liest doch nur jeder
Aus dem Buch sich heraus, und ist er gewaltig, so liest er
In das Buch sich hinein, amalgamiert sich das Fremde.
Ganz vergebens strebst du daher, durch Schriften des Menschen
Schon entschiedenen Hang und seine Neigung zu wenden;
Aber bestärken kannst du ihn wohl in seiner Gesinnung
Oder, wär er noch neu, in dieses ihn tauchen und jenes.

Sag ich, wie ich es denke, so scheint durchaus mir, es bildet
Nur das Leben den Mann und wenig bedeuten die Worte.
Denn zwar hören wir gern, was unsre Meinung bestätigt,
Aber das Hören bestimmt nicht die Meinung; was uns zuwider
Wäre, glaubten wir wohl dem künstlichen Redner; doch eilet
Unser befreites Gemüt, gewohnte Bahnen zu suchen.
Sollen wir freudig horchen und willig gehorchen, so mußt du
Schmeicheln. Sprichst du zum Volke, zu Fürsten und Königen, allen
Magst du Geschichten erzählen, worin als wirklich erscheinet,
Was sie wünschen und was sie selber zu leben begehrten.

(Auszug aus der Epistel, die Goethe 1794 für die Horen geschrieben hat)

Storm: Der eine fragt… Kleiner Lesekurs für Alphabeter

In der von Theodor Hertel besorgten Ausgabe von Storms Werken findet man unter „Sprüche“i zwei kurze Gedichte, die nach der Datierung durch den Herausgeber im Juli 1858 verfasst worden sind. Deren erstes lautet:

Der eine fragt: Was kommt danach?

Der andere fragt nur: Ist es recht?

Und also unterscheidet sich

der Freie von dem Knecht.

Das Verständnis des Sinnspruchs ist umstritten (vgl. die Anmerkung 291 bei Christian Demandt); deshalb wollen wir ihn methodisch exakt lesen, um seinen Sinn jenseits bloßer Vermutungen zu ermitteln. Zugleich sind diese Überlegungen eine Anleitung, einen Text bewusst zu lesen, statt sich auf bloße Assoziationen zu einzelnen Wörtern zu verlassen.

Es ist von zwei Fragen bzw. Fragenden die Rede. Unbestimmt ist zunächst, wann sie wen fragen. Aufgrund ihrer Fragen füllen wir diese erste Leerstelle so: Sie fragen sich selbst, ehe sie etwas tun, was jenseits alltäglicher Routine liegt, weshalb man nachdenkt, wie man handeln soll.

Die Frage „Was kommt danach?“ zielt auf die Folgen der Handlung; sie weist eine weitere Leerstelle auf: Was kommt danach [für mich, oder: überhaupt]? Wie man diese Leerstelle füllt, entscheidet über das Verständnis des Spruchs; wählt man „für mich“, hat man die Frage eines Opportunisten vor sich, der nur auf seinen Vorteil bedacht ist; wählt man „überhaupt“, hört man die Frage eines Menschen, den man im Sinn Max Webers als Verantwortungsethiker bezeichnen könnte, weil er die Folgen seines Handelns für andere bedenkt. Welches die richtige Wahl ist, kann man bis jetzt noch nicht entscheiden.

Die zweite Frage „Ist es recht?“ wird oft missverstanden, weil Leser nicht zwischen dem Substantiv „Recht“ und dem Adjektiv „recht“ unterscheiden. Das Adjektiv „recht“ bedeutet „gerade; richtig; angemessen“ii. Etwas differenzierter steht in Hermann Pauls Wörterbuch: 1) Grundbedeutung „gerade“; 2) richtig (Gegensatz: unrecht und falsch); 3) speziell ist recht, was dem Gesetzen oder Geboten der Sittlichkeit entspricht (Gegensatz „unrecht“, nicht „falsch“); es folgen vier weitere Bedeutungen.iii Wir haben auf Wörterbücher zurückgegriffen, die den Sprachgebrauch Theodor Storms erfassen, da sie wenige Jahrzehnte nach 1858 erschienen sind; gerade die dritte bei Paul genannte Bedeutung von „recht“ kommt hier in Frage – Maßstab des Handelns sind dem Fragenden die Gebote der Sittlichkeit (und nicht die Gesetze des Staates, also das Recht).

Um die Leerstelle in der ersten Frage zu füllen, müssen wir den Kontext dieser Frage beachten, d.h. die Sätze als Text lesen; sie stellt nämlich das Gegenteil der zweiten Frage dar, was sich einmal aus der einschränkenden Partikel „nur“ ergibt, vor allem aber aus dem Gegensatz „der Freie / der Knecht“, denen die beiden Fragen zugeordnet werden – welche die des Freien ist, werden wir später untersuchen. Wenn wir also die beiden Fragen als Gegensätze auffassen müssen, können wir sie so umschreiben: „Egal, was recht ist – was kommt danach“ und „Was ist recht – egal, was danach kommt?“ Weil im Gedicht nur von zwei einzelnen Menschen die Rede ist, wird man die erste Frage so verstehen dürfen: „Was kommt für mich danach, was kommt für mich dabei heraus – egal, was recht ist?“

Auch der erweiterte Kontext des Gedichtes spricht für dieses Verständnis. Ich berufe mich auf ein anderes Gedicht Storms, das er im Oktober 1854 verfasst hat, „Für meine Söhne“. Dort heißt es in der ersten Strophe:

Hehle nimmer mit der Wahrheit!

Bringt sie Leid, nicht bringt sie Reue;

das ist, auf einen besonderen Fall angewandt, die Mahnung, recht zu handeln, ohne auf die Folgen zu achten. Dass der eigene Vorteil nicht der richtige Maßstab des Handelns ist, sagt Storm auch in den beiden letzten Strophen des gleichen Gedichts:

hüte deine Seele

vor dem Karrieremachen und

Halte fest: du hast vom Leben

Doch am Ende nur dich selber.

Das alles sind Lebensregeln im Sinn des Sprichwortes „Tue recht und scheue niemand.“ Dieses Sprichwort gehört zum noch einmal erweiterten Kontext des Gedichts, das zu einem breiten Strom europäischer Ethik und Lebensweisheit gehört, aus dem Sokratesiv, Jesus und andere herausragen.

So bleibt als letzte Frage die, wer von den beiden der Freie und wer der Knecht ist. „Knecht:“ bedeutetv ursprünglich Knabe, Knappe; später steht es im Gegensatz zu „Herr“, wird dann durch „Diener“ verdrängt, ist aber in der Landwirtschaft noch üblich. Anderseits bedeutet „Knecht“ seit alters auch „Unfreier“, leibeigener Knecht, bildlich etwa „der Sünde Knecht“ und dergleichen. Das Wörterbuch und der Gegensatz zu „Freier“ legen nahe, hier ebenfalls die negative metaphorische Bedeutung anzunehmen.

Wir haben also einen doppelten Gegensatz vor uns, dessen Paare durch „also“ (= „so“) einander als gleichartig zugeordnet werden:

der eine: danach? – der andere: recht?

der Freie                  – der Knecht

Rhetorisch könnte man die Zuordnung als Parallelismus lesen, dann wäre der eine der Freie und der andere der Knecht; man kann das Verhältnis der Paare aber auch als Chiasmusvi ansehen, dann ist der eine der Knecht und der andere der Freie.

Die Rhetorik lässt also beide Lesarten zu, so dass man vom Sinn her entscheiden muss, wer der Freie ist: Ist es derjenige, der nach den Maßstäben des Sittengesetzes handelt, oder ist es derjenige, der die Folgen seines Handelns kalkuliert? Kein Zweifel, der andere ist der Freie; der eine ist ein Knecht seines Gewinnstrebens, dem ethische Maßstäbe gleichgültig sind. Wessen Knecht wäre auch derjenige, der sich am Sittengesetz orientiert und dabei Nachteile, vielleicht sogar den Verlust des Lebens wie Sokrates riskiert?

Zweifellos stellt das Gedicht eine Mahnung dar, wie ein Freier statt als Knecht zu leben. Diese Mahnung steht in der großen Tradition europäischer Lebensweisheit: Sie besagt, dass man als Mensch erst frei wird, wenn man sich von der animalischen Sorge um den eigenen Vorteil (Was ist gut für mich?) befreit, den Blick weitet und sich fragt: Was ist richtig? Was ist gut für alle Menschen?

Diese Lesart kann nicht ernsthaft bezweifelt werden, wenn man die methodischen Schritte bedenkt, mit denen wir sie gefunden haben. Solches methodisch kontrollierte Lesen muss geübt werden – wir haben dazu diese Übung angestellt, in der ich reale Verständnisschwierigkeiten aufgegriffen habe (vgl. die Ergebnisse der Suche im Netz unter „Storm: Der eine fragt“!).

Methodisches Fazit:

Wir haben auf den Ebenen der Wörter, der Sätze und des Textes operiert. Um die Bedeutung der Wörter zu ermitteln, haben wir auf Wörterbücher und die grammatischen Kategorieren Adjektiv/Substantiv zurückgegriffen.

Um die Bedeutung der Sätze zu ermitteln, haben wir Leerstellen aufgespürt und gefüllt, außerdem den Zusammenhang der Sätze als Text beachtet. Dabei haben wir auf die Rhetorik zurückgegriffen.

Sinn gibt es auf der Ebene des Satzes, vor allem jedoch des Textes. Um den exakt zu bestimmen, haben wir den Text in seiner Struktur beschrieben und in einen Kontext gestellt – hier in den eines anderen Gedichtes des Autors und in die europäische Tradition der Gattung Sinnsprüche und Lebenslehren.

Zum Kontext gehört auch die Situation, in der ein Text geäußert wird; dazu konnten wir in diesem Fall nichts sagen; die literarische Gattung der Sinnsprüche musste ausreichen, um das sprachliche Handeln der Sprechers zu bestimmen.

i Storms Werke. Herausgegeben von Theodor Hertel. Kritisch durchgesehene und erläuterte Ausgabe. Erster Band. Leipzig und Wien o.J. (Vorwort datiert: Dezember 1918), S. 92

ii Moriz Heyne: Deutsches Wörterbuch, Dritter Band 1895, s.v. „recht“; alte Wörterbücher finden Sie in meinem Blog https://norberto42.wordpress.com aufgelistet und verlinkt.

iii Deutsches Wörterbuch von Hermann Paul, 1897

iv Apologie 28 b. Die Mahnungen der großen Lehrer stellen sich gegen die gängige Praxis: Angesichts der Bestrafung von Klagen „ist es sehr begreiflich, daß die Sclaven, wenn sie hinsichtlich ihrer Lage und des Charakters ihres Herrn befragt werden, fast ohne Ausnahme erwiedern: sie seien zufrieden und hätten einen guten Herrn. (…) Sie verhehlen die Wahrheit lieber, ehe sie die Consequenzen auf sich nehmen, welche aus dem Aussprechen derselben erwachsen können, und geben sich darin als ächte Mitglieder der menschlichen Gesellschaft kund.“ (Frederick Douglass: Sklaverei und Freiheit. Autobiographie, 1860, S. 86)

v Deutsches Wörterbuch von Hermann Paul, 1897; vgl das Zitat in der vorhergehenden Fußnote!

vi Von Chiasmus spricht man, wenn parallele Sätze kreuzweise entgegengesetzt (also in der Fom des griechischen Buchstabens Chi, etwa X) angeordnet sind; der Chiasmus dient vor allem dem Hervorheben von Gegensätzen. Beispiel: „Die Welt ist groß, klein der Verstand.“

schnell / langsam lesen oder querlesen?

Schnelllesen bringt wenig

Wer im Eiltempo liest, bekommt meistens auch weniger vom Text mit. Da hilft auch das viel beschworene Schnelllesetraining nicht, wie nun eine Übersichtsarbeit zeigt.

News | 18.01.2016 | von Daniela Zeibig

Bücher, E-Mails oder Arbeitsunterlagen im Turbogang lesen und dabei trotzdem alles bis ins kleinste Detail verstehen? Das klingt zwar verlockend, funktioniert aber leider nicht – auch wenn Schnelllese-Trainingsprogramme das gerne mal versprechen. Das zeigt nun eine Übersichtsarbeit, die ein Team um Elizabeth Schotter von der University of California in San Diego im Fachmagazin „Psychological Science in the Public Interest“ veröffentlichte.

Die Forscher nahmen zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten mit dem Thema „Lesen“ befassten, unter die Lupe. Dabei kamen sie zu dem Schluss, dass Lesen im Eilverfahren in den allermeisten Fällen zu Lasten des Textverständnisses geht. Geübte Leser erfassen auch unter normalen Bedingungen bereits zwischen 200 und 400 Wörtern pro Minute. Wer diesen Output mit speziellen Techniken noch einmal um das Doppelte bis Dreifache steigern will, muss damit rechnen, gleichzeitig weniger vom Inhalt mitzubekommen. Das sei etwa bei Programmen der Fall, bei denen die einzelnen Wörter blitzschnell hintereinander genau im Zentrum eines Bildschirms eingeblendet werden, schreiben die Forscher. Der Hintergedanke sei in aller Regel, die vermeintlich Zeit raubenden Augenbewegungen beim Lesen auf ein Minimum zu reduzieren. Tatsächlich machen diese aber nur zehn Prozent der Zeit aus, die wir über einer einzelnen Seite brüten, so Schotter und Kollegen. Dafür fehlt uns die Möglichkeit, noch einmal zu Sätzen zurückzuspringen, die wir nicht verstanden haben – und das Textverständnis nimmt auch insgesamt ab. Vergleichsweise schwach schneiden auch Schnellleseverfahren ab, die den Lesern beibringen wollen, mehr Informationen auf einen Blick zu erfassen. Untersuchungen zeigen auch hier, dass das, was wir nur über unser peripheres Sichtfeld aufnehmen, am Ende auch schlechter hängen bleibt.

Wichtiger als unsere visuellen Fähigkeiten sind ohnehin unsere Worterkennung und unser Satzverständnis, glauben die Wissenschaftler. Die beste Methode, seine Lesefähigkeiten zu trainieren, sei demnach, sie schlicht und einfach besonders häufig zu benutzen und am besten eine Vielzahl verschiedenster Texte zu lesen – in welchem Tempo auch immer. Wer ein Dokument besonders schnell durcharbeiten möchte, sollte besser üben, Texte gezielt zu überfliegen und jene Informationen herauszufischen, die wirklich wichtig sind. Das bestätigen auch Studien: So sind Menschen, die wir oft für echte Turboleser halten, meistens einfach nur besonders gut im Querlesen. (http://www.spektrum.de/news/schnelllesen-bringt-wenig/1394745?utm_medium=newsletter&utm_source=sdw-nl&utm_campaign=sdw-nl-daily&utm_content=heute)

Was meinen die Forscher mit Querlesen? Das heißt, die Informationen schnell zu finden, die man brauchen kann – die aber soll man dann langsam lesen!

Didaktik: Literatur für Jugendliche von 12 – 19

Auf der Website http://de.literaryframework.eu/home.html gibt es einen „Referenzrahmen Literatur“, der so vorgestellt wird:

Diese Website richtet sich an Deutschlehrkräfte und andere Interessierte, die sich mit dem Literaturunterricht der Sekundarstufen (für Jugendliche zwischen 12 und 19 Jahren) in Europa beschäftigen.

Unser Referenzrahmen Literatur beschreibt im Kontext der Sekundarbildung Niveaus der literarischen Entwicklung. Wir unterscheiden:

Er beinhaltet:

  • Übersichten literarischer Kompetenzniveaus von Schüler/Innen
  • Übersichten der Eigenschaften, die Bücher für bestimmte Niveaus auszeichnen
  • für jedes Niveau eine Liste mit Buchempfehlungen
  • Übersichten didaktischer Hilfestellungen in der Zone der nächsten Entwicklung, die eine literarische Entfaltung der Schüler und Schülerinnen fördern
  • Didaktische Analysen empfohlener Texte (Buch-Scans)

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Dieser Rahmen ist für sechs europäische Länder erarbeitet worden – ich kann allen Kollegen nur empfehlen, sich mit diesem Rahmen zu beschäftigen und von ihm anregen zu lassen.

„Leseschule NRW“ -Methoden (Anleitung) zum besseren Lesen

Unter http://www.bibliothek.schulministerium.nrw.de/ kann man nachlesen (und herunterladen), mit welchen Methoden und Strategien man nach den Vorstellungen einiger beteiligter Schulen und Fachleute die Schüler zum besseren Lesen führen kann. Das Programm ist sehr breit gefächert, ohne dass ich etwas zu seiner Qualität sagen könnte, weil ich es eben erst entdeckt habe. – Bei Gelegenheit werde ich mich vielleicht dazu äußern. Vgl. auch diesen Aufsatz!

 

Lesen, Lesetraining

1. allgemein: Arbeitstechnik Sachtexte lesen
In Auseinandersetzung mit dem berühmten „Deutschbuch“ von Cornelsen (neue Auflage, Kl. 5, S. 269-271) habe ich versucht, in die etwas wirren Vorschläge eine praktikable Ordnung zu bringen und sie so zu erweitern, dass sie der gängigen Theorie und der Praxis standhalten. Ich richte mich damit an die Schüler der Sekundarstufe I; den Kleinen wird man es vielleicht etwas einfacher sagen müssen?
Hier wird versucht zu erklären, wie du schrittweise vorgehen sollst, wenn du Sachtexte erfassen willst (oder sollst).
1. Schritt: Beachte die Aufgabenstellung, wenn ein Lehrer oder ein Buch sie dir vorgibt, genau! Was sollst du tun?
Wenn es keine Aufgabenstellung gibt, beginnst du sofort mit dem
2. Schritt: Schau dir an, was alles zum Rahmen des Textes gehört: der Autor, die Überschrift, das Medium (Zeitschrift? Lehrbuch? usw.), die erste Veröffentlichung; das kann dir später weiterhelfen.
3. Schritt: Lies den Text in Ruhe durch! Markiere dabei Wörter und Dinge, die du nicht kennst, durch einen Punkt oder ein ? am Rand.
4. Schritt, eventuell noch mit dem 3. verbunden: Kläre das, was du nicht aus dem Zusammenhang verstehst, indem du es nachschlägst (oder im Unterricht den Lehrer fragst) und dir notierst.
5. Schritt: Versuche, den Text als ganzen zu verstehen: Welche Frage behandelt der Autor in diesem Text? Und wie lautet seine Antwort? (jeweils ein Satz!)
6. Schritt: Überlege, was für eine Textsorte du vor dir hast (Text zur Belehrung? zur Unterhaltung?) und wie der Autor vorwiegend spricht: sachlich oder persönlich, neutral oder polemisch? Will er etwas berichten oder beschreiben? etwas erklären? etwas bewerten? dich zu etwas auffordern?
7. Schritt: Prüfe dieses Gesamtverständnis in der zweiten (und notfalls auch in einer dritten und vierten) Lektüre: Markiere (gelb) die Schlüsselwörter in eigenen Texten (oder auf Arbeitsblättern) oder schreibe die Schlüsselwörter heraus!
Nutze hierzu auch fett oder kursiv gedruckte Wörter und Wendungen; bei Zeitschriftenartikeln den Untertitel; beachte aber nicht das, was nur dazu dient, die Aufmerksamkeit möglicher Leser zu gewinnen! Zwei Tipps:
Markiere möglichst wenig (höchstens einen Satz pro Absatz)!
Manchen Lesern hilft es, wenn sie eine Überschrift pro Absatz formulieren.
8. Schritt: Fasse die Ergebnisse deiner Untersuchung zusammen! (Hast du auch die Aufgabenstellung beachtet?)
Lege dir eine Liste an, vielleicht in vier Feldern (hergestellt durch eine senkrechte und eine quer gezogene Linie, also durch ein Kreuz):

a) die Angaben zum Titel, zum Autor, dem Medium usw.

b) das Thema; die Frage und die Antwort;

c) die Textsorte und das Hauptziel des Autors;

d) die wichtigsten Stichwörter oder Einzelheiten des Textes.

Einschränkung: Wenn der Gedankengang nicht geradlinig durchgezogen wird, sondern eine Bewegung macht (gar dialektisch vom Autor geführt wird), versagt unser Schema!

Vereinfachte Version (Klasse 5): Arbeitstechnik: Sachtexte lesen
Hier wird versucht zu erklären, wie du schrittweise vorgehen sollst, wenn du Sachtexte verstehen willst.
1. Schritt: Schau dir an, was alles zum Rahmen des Textes gehört:
der Autor, die Überschrift, das Medium (Zeitschrift? Lehrbuch?), Bilder oder Tabellen; du bekommst einen ersten Eindruck.
2. Schritt: Lies den Text einmal in Ruhe durch!
Markiere dabei Wörter und Dinge, die du nicht kennst, durch einen Punkt oder ein ? am Rand.
Kläre das, was du nicht aus dem Zusammenhang verstehst, indem du es nachschlägst (oder im Unterricht den Lehrer fragst) und das Ergebnis notierst.
3. Schritt: Versuche, den Text als ganzen zu verstehen:
Welche Frage behandelt der Autor in diesem Text? Und wie lautet seine Antwort? (Halte das in jeweils einem Satz fest!)
Beachte auch, wie der Autor vorwiegend spricht: Will er etwas berichten oder beschreiben? etwas erklären? etwas bewerten? dich zu etwas auffordern?
4. Schritt: Prüfe dieses Gesamtverständnis in der zweiten (und notfalls auch in einer dritten) Lektüre:
Markiere (gelb) die Schlüsselwörter in eigenen Texten (oder auf Arbeitsblättern), schreibe die Schlüsselwörter heraus! Achte hierbei auf fett oder kursiv gedruckte Wörter und Wendungen; manchen Lesern hilft es, wenn sie eine Überschrift pro Absatz formulieren.
5. Schritt: Fasse die Ergebnisse deiner Untersuchung kurz zusammen!
Und was natürlich klar sein sollte: Beachte immer auch die Aufgabenstellung des Lehrbuches oder des Lehrers!

2. Unterrichtsreihe in Kl. 7: Sachtexte lesen
Sachtexte zu verstehen kann trainiert werden. Dass es gemacht werden muss, hat uns PISA gezeigt. Aber wie kann man das machen? Ich berichte hier, wie ich es in Klasse 7 des Gymnasiums trainiere; weitere Hinweise findet man unter dem Stichwort „Analyse theoretischer Texte“.

Das erste Augenmerk soll dem gelten, was grafisch hervorgehoben ist, was also unmittelbar ins Auge fällt:
– die Überschrift,
– die Zwischenüberschriften,
– eventuell eine grafisch markierte Zusammenfassung,
– Einsatz verschiedener Schrifttypen: normal, fett, kursiv,
– Markierung durch Sperrung oder Unterstreichung;
es ist aber zu beachten, dass in Zeitungen und Zeitschriften die Überschrift oft dazu dient, Aufmerksamkeit zu wecken, und dass erst der Untertitel korrekt sagt, worum es geht. Ein Beispiel aus DIE ZEIT (Nr. 13/2003):
Wenn Leistung einsam macht
Deutsche Schüler in der Zwickmühle: Je besser die Note, desto größer die Angst, als Streber diffamiert zu werden

Ist das Thema klar, sei es durch die Überschrift oder ein Anlesen des Textes, dann stellt sich eine Erwartung ein, in der die kommende Darstellung weithin vorweggenommen wird, falls man sachkundig ist. So ist beim Thema „Vesuvausbruch“ mit Darstellung der geologischen Vorgänge bei einem Vulkanausbruch zu rechnen (Erdbeben, Asche, Magmaströme usw.), vielleicht auch mit der Bedeutung solcher Vorgänge für die Menschen: Angst, Not, Tränen, Tote… Eine Ordnung ergibt sich aus der bekannten Abfolge der Vorgänge.
Ordnung ergibt sich auch dann, wenn es um die Darstellung eines Lebensbereichs geht, dessen Gegenstände wir begrifflich-hierarchisch ordnen (Begriffspyramiden: Instumente / Musikinstrumente und andere / Blasinstrumente und andere / Flöte, Klarinette, Saxophon, Horn usw. (vgl. unten: Thema-Rhema).
Für die Darstellung eines Themas sind folgende „Gesetze“ erkennbar:
1. Der Sprecher wechselt die Wörter, sowohl um der Abwechslung wie um der Genauigkeit willen; man muss sich also in Wortfeldern auskennen (exemplarisch üben, v.a. das Wortfeld des Sprechens: fragen, bitten, erwidern…, also Sprechakte benennen; stottern, flüstern, schreien…, also Weisen des Sprechens.
2. Der Sprecher entwickelt sein Thema schrittweise; die Schritte markiert er in Absätzen; das neue Thema (und sein Zusammenhang mit dem alten) wird zu Beginn des Absatzes eingeführt. Jedem Absatz kann normalerweise ein thematisches Stichwort zugeordnet werden. – Man spricht von der Thema-Rhema-Struktur.
3. Die Thema-Rhema-Struktur ist von Fragen bestimmt, die ein interessierter Leser oder Hörer stellen könnte.
Über das Rauchen
Wer raucht eigentlich?
Warum rauchen Menschen überhaupt?
Welche kurzfristigen Folgen hat das Rauchen?
Welche langfristigen Folgen (Gesundheitsschäden) hat es?
Wie kann man vom Rauchen loskommen?
Solche Fragenkataloge ergeben Schemata, die wir auch bei anderen Themen verwenden: Über das Trinken; Über das Joggen; Über das…
4. Jedes Sprechen (auch Erzählen) ist ein schrittweise erfolgendes Bestimmen; etwas bestimmen heißt Alternativen ausschließen. Beispiel:
Sie
erregen / nicht: haben, kommen…
mal wieder / nicht: erstmals; in diesem Jahr…
Aufsehen / nicht: Ärgernis; Sorgen…
und / nicht: oder; weil…
beschäftigen / nicht:…
die Gemüter / nicht:…
Aus diesem Grund ist es wichtig, auf die Existenz vieler bestimmter oder unbestimmter Antonyme aufmerksam zu machen und das Gespür für solche zu trainieren. Ein hilfreiches kleines Wörterbuch ist das von Christiane und Erhard Agricola: Wörter und Gegenwörter (Dudenverlag).

Die Prinzipien des Verstehens leiten dazu an, den Text als Einheit zu erfassen, die in sich strukturiert ist. Die Einheit kann als thematisches Stichwort oder nach dem Prinzip von Frage/Antwort benannt werden; die Struktur bzw. Abfolge der „Aussagen“ kann ebenfalls thematisch oder als Abfolge von Fragen bestimmt werden.
Zeitungen leben davon, dass die Leser bei der Stange bleiben; deshalb sind Zeitungsartikel in der Regel „anders“ geschrieben. Sie enthalten also Beispiele und andere Elemente, die sich dieser strengen Ordnung nicht fügen. Über die Möglichkeit, solche Texte, vor allem: darin vorliegende Argumentation zu erfassen, muss gesondert nachgedacht werden.

Lesetraining – Übungsdiktat

1 Bereits in der Klasse 6 haben wir uns mit dem Vorlesen befasst. Jetzt geht es darum, zwei Leistungen zu verbessern: das Wichtige beim Lesen richtig und schnell zu erfassen; beide Leistungen hängen zusammen, weil es um bewusstes Lesen geht.
2 Man kann das Wichtige richtig und zügig erfassen, wenn man sozu-sagen im Voraus weiß, worum es geht. Das scheint kaum möglich zu sein, ist es aber doch: Bereits in der Überschrift wird meistens das Thema genannt oder angedeutet.
3 Wenn die Überschrift „Der Ausbruch des Vesuv“ heißt und der Vesuv als Vulkan bekannt ist, können wir etwa das Folgende erwarten: Lavaströme, Aschenregen, Feuer, Erdstöße; Schäden, Unglück, Schrecken, Leiden, Tote.
4 Die beiden Sinnbereiche „Vulkanausbruch als geologischer Vorgang“ und als „Katastrophe für die Menschen“ bestimmen also, was man nach dieser Überschrift erwarten kann; eine solche Erwartung hat jeder Leser, der sachkundig ist.
5 Wörter aus dem gleichen Wortfeld können einander abwechseln oder sich wiederholen: schreien, brüllen, stöhnen; sie können aber auch im Sinn einer Steigerung verbunden sein oder in ihr Gegenteil umschlagen (schreien, wimmern, verstummen).
6 Auch Oberbegriffe markieren einen kleinen Lebensbereich: Geschirr – Tassen, Teller, Töpfe… Das Gleiche gilt für normale Vorgänge: In der Nacht kühlt die Luft ab; ein Luftzug bringt Erfrischung; wenn es heiß ist, schwitzt man.
7 Einen Sachtext versteht man erst ganz, wenn man erkennt, welche Frage vom Autor beantwortet werden soll: Wie funktioniert eine Warmwasserheizung? Welche Krankheiten werden durch das Rauchen hervorgerufen?
8 Texte sind normalerweise durch Absätze gegliedert; in jedem Absatz wird ein neuer Aspekt behandelt. Meistens wird zu Beginn eines Absatzes gesagt, welcher neue Gesichtspunkt jetzt behandelt werden soll; Wichtiges wird oft grafisch markiert.
9 So könnte man beim Thema „Rauchen“ die schlimmen und die harmloseren Krankheiten behandeln; man kann aber auch von den Stoffen, die im Rauch enthalten sind, ausgehen und erklären, welche Krankheiten sie hervorrufen.
10 Solche Erklärungsschemata sind verbreitet; je erfahrener du als Leser bist, desto leichter wirst du das Schema erkennen. Denke nur daran, wie die Versuchsbeschreibungen in Biologie und Physik einander gleichen!
11 Du kannst zur Probe einmal Schemata entwerfen: Worauf muss ich achten, wenn ich Haustiere halte? Welche Probleme beschert uns der übermäßige Fernsehkonsum? Wie koche ich…? Wie spiele ich…?

P.S. Man beachte auch, was Professor Hans Lösener „hörendes Lesen“ nennt (http://www.loesener.de/loesener4-3.htmhttp://www.loesener.de/uebungen/index.htmhttp://www.uni-koeln.de/sdk/vortragloesener20090123.pdf), sowie das Plädoyer http://www.ph-ludwigsburg.de/fileadmin/subsites/2b-dtsc-t-01/user_files/weissenburger/Dateien/Seminardateien/Paefgen_-_Textnahes_Lesen.pdf!

Arbeitstechnik: genau lesen, mit Wörterbuch

Dieser kleine Lehrgang soll den Blick für die Möglichkeiten öffnen, wie man lesen kann; soll für die Frage sensibilisieren, wie man lesen soll; soll auch an einige semantisch-grammatische Einsichten erinnern, die angesichts des realen Deutschunterrichts für viele Leser als Theorie neu sind. Ich habe als Beispiel die 1. Strophe von Hebbels „Sommerbild“ (1848) gewählt.

Sommerbild
Ich sah des Sommers letzte Rose stehn,
Sie war, als ob sie bluten könne, rot;
Da sprach ich schauernd im Vorübergehn:
„So weit im Leben, ist zu nah am Tod!“

Ich sah ist der bestimmende Anfang; damit ist die Perspektive ICH gesetzt. Ein solches Ich in Gedichten nennen wir lyrisches Ich. Es blickt zurück (Präteritum), spricht von einem vergangenen Ereignis. Anderes würde folgende Stellung der gleichen Wörter ausdrücken: Des Sommers letzte Rose / sah ich stehn. Hier stände die Rose stärker als das sehende Ich im Vordergrund. sah ist die Achse,  und was im Vorfeld steht, verdient besondere Beachtung. [-> Satzgliedstellung]
Das lyrische Ich berichtet oder erzählt, dass es (etwas) sah; es ist auch ein zuhörendes Du mitgedacht, dem das sprechende Ich sagt, dass es damals sah. [-> Kommunikation im fiktionalen Text]

Damit man die Bedeutung dieses Anfangs ermessen kann, nenne ich zwei andere Anfänge von Gedichten aus der gleichen Zeit:
Es reist – wer reist wohin? Es reist so mancher Philister (Hoffmann von Fallersleben, 1845); hier spricht ein nicht greifbarer Sprecher allgemein über die reisenden Philister. Der Sprecher bedenkt, was diese Philister tun; vielleicht berichtet er später von einem Reisenden, der etwas Besonderes erlebt hat. Diesen Anfang könnte das sprechende Ich auch für sich allein denken: Ja, ja, es reist so mancher Philister…
Fern hallt Musik (Storm, 1852) ist der zweite Anfang; der wiederum ungenannte Sprecher beschreibt (erfreut? klagend?), dass er laute Musik hört.
Verglichen mit diesen beiden Anfängen wird mit dem Anfang Ich sah das (damals) sehende Ich betont in den Vordergrund gerückt. Was sah das Ich? Diese Frage ist mit dem Anfang Ich sah gestellt. Auf diese Frage gibt es zwei Antworten; welche Antwort man als Leser zuerst wahrnimmt, hängt davon ab, wie man liest.

Die erste Antwort wird in der Überschrift Sommerbild (Hebbel) gegeben oder zumindest angedeutet. Sommer ist eine Jahreszeit; Sommerbild lässt also an Natur oder Menschen denken, die im Sommer unter dem Eindruck von Licht und Wärme stehen. Es wird eine Erwartung geweckt: zu sehen war, was im Sommer da war.
Die zweite Antwort gibt die Fortsetzung Ich sah / des Sommers letzte Rose stehn. Es wären auch andere Fortsetzungen denkbar gewesen:
* Ich sah nach meinem spielenden Kind, oder
* Ich sah in der Ferne das glitzernde Meer, oder
* Ich sah, dass du schwitzend littest. Diese Möglichkeiten sind durch die Valenz des Verbs sehen und die dadurch gegebenen Satzbaupläne eröffnet. Erst wenn man die nicht realisierten Möglichkeiten beachtet, versteht man, was die realisierte Möglichkeit besagt. [-> Valenz, Satzbaupläne]
Die zweite Antwort ist viel genauer als die erste; es ist die Antwort des sprechenden Ichs in seinem sehen-Satz, während die Überschrift der Titel des Autors über dem ganzen Gedicht ist. So ist der Titel des Gedichtes „Fern hallt Musik“ Hyazinthen; der Name dieser Blumensorte sagt nun wirklich nichts zur fern hallenden Musik, sodass man die Antwort aus der Überschrift Sommerbild nicht überbewerten sollte. Die „richtige“ Antwort gibt es in der Fortsetzung des sehen-Satzes, im Nachfeld. [-> Strukturtypen des Satzes; Vorfeld, Nachfeld]
Ich sah / des Sommers letzte Rose stehn. Diese Antwort besteht aus zwei Teilen: des Sommers letzte Rose und stehn. Rose und stehn sind einander zugeordnet, aber eben doch nicht in der Form eines Satzes:
# Ich sah, dass des Sommers letzte Rose stand. Diese #-Variante stellt „stand“ heraus, während in Hebbels Gedicht „des Sommers letzte Rose“ in den Vordergrund gerückt wird – „stehn“ könnte beinahe fehlen. Was besagt des Sommers letzte Rose?
Was diese Wendung besagt, versteht man, wenn man bedenkt, welche Wendungen durch die Wahl „des Sommers letzte Rose“ ausgeschlossen sind:
* des Sommers erste Rose,
* des Herbstes letzte Rose <passt nicht zu „Sommerbild“>,
* des Sommers letzte Lilie… usw.
Mit „Sommers“ wird die Erwartung der Überschrift „Sommerbild“ erfüllt, mit „letzte“ wird sie gestört – letzte Blumen gibt es eher im Herbst; letzte rückt den Sommer in die Nähe des Herbstes. Und was bedeutet uns die Rose? Sie steht uns näher als die Lilie – was bedeutet sie?

Exkurs: das Wörterbuch benutzen
Die Regel lautet: Was ein Wort bedeuten kann, steht im Wörterbuch; was es tatsächlich bedeutet, ergibt sich aus dem determinierenden Kontext, in dem das Wort steht. [Es wäre also unsinnig, das Wörterbuch mit der Bemerkung abzuschreiben, das alles bedeute „Rose“!] Ich gebe hier den Eintrag zu „Rose“ im Wörterbuch (Wortschatz Uni Leipzig) verkürzt wieder:
Beschreibung:   duftende Blume
französischer Frauenname
Gestalt aus „Glöckchen des Eremiten“
Gestalt aus „Rose Bernd“
Königin der Blumen

Das Wörterbuch DWDS gibt (verkürzt) an:
1. stachlicher Zierstrauch mit gefiederten Blättern (…)
2. Blüte von 1: (…) sowie den Hinweis auf Goethes „Heideröslein“;
schön wie eine Rose; [bildlich:] nicht auf Rosen gebettet sein; keine Rose ohne Dornen
3. [übertragen] Dinge, die einer Rose äußerlich ähnlich sind.
Erstes Fazit: Die Angaben in den beiden Wörterbüchern sind nicht gleich; man sollte deshalb möglichst nicht nur ein einziges Wörterbuch zu Rate ziehen. Zweites Fazit: Der Rose kommt eine große Bedeutung für uns zu; sie wird nicht nur als Name einer Blumensorte gebraucht, sondern kommt auch in Redesarten vor und gilt uns als „Königin der Blumen“, als oberste und schönste Blume.
Man kann dieses Feld möglicher Bedeutungen erweitern, wenn man in der Suchmaschine (oder in Wörterbüchern) „Rose“ nachschlägt. – Man würde normalerweise nun die unproblematische Bedeutung „letzte“ mit „Rose“ verbinden, um „letzte Rose“ zu verstehen: Ende des Blühens der schönsten Blumen, deren letzte noch übrig ist. Aber es ist so, dass nicht nur heute, sondern bereits 1848 „letzte Rose“ eine feste Wendung war. Ich vermute, dass Friedrich von Flotows Oper „Martha“ (1847) mit einer Rosenarie Hebbel inspiriert hat:
„Letzte Rose, wie magst du
So einsam hier blühn? (…)“
Flotow ist seinerseits vermutlich von einem Gedicht des irischen Lyrikers Thomas Moore angeregt worden:
„Des Sommers letzte Rose
Blüht hier noch, einsam rot…“ (1830, dt. von Wilhelm Riese).
Unter dem Eindruck dieses Motivs, das sich bei Hebbel auch noch in dem Gedicht „Verloren und gefunden“ findet, stehen heute zahlreiche Titel der Volksmusik: „Letzte Rose in meinem Garten“, „Auf der Heide blühn die letzten Rosen“ und ähnliche. – Die Wendung „des Sommers letzte Rose“ (V. 1) straft den Titel „Sommerbild“ Lügen; diese Rose ist nämlich die Botin des Herbstes.
Drittes Fazit: Man darf nicht (nur) einzelne Wörter betrachten, sondern muss beachten, dass sie mit anderen zusammengefügt sind. [-> Valenz der Wörter; Syntagma – Paradigma]
Man könnte zum Beispiel auch hallen im Wörterbuch nachschlagen und dann sehen, wie das Bedeutungsfeld von „hallen“ durch das Subjekt „Musik“ eingeschränkt wird: Es hallen keine Glocken- oder Donnerschläge, sondern Musik; das ist ein ganz anderes Hallen – man ist beinahe verwundert, dass Musik hallt (Trommelschläge könnten noch hallen). Die Eigentümlichkeit des Hallens oder, genauer, der Wahrnehmung (!) des Hallens durch den Sprecher ergibt sich in der Fortsetzung:
Fern hallt Musik; doch hier ist stille Nacht. Es wird ein doppelter Kontrast in der Wahrnehmung beschrieben: hallende Musik / stille Nacht, und zwar fern / hier. Diese Kontraste eröffnen ein Feld der Erwartung: Wie schön, dass es hier still ist. Oder: Wie schade, dass hier nichts los ist. Dieses Feld wird dann erst in den beiden folgenden Versen thematisch eindeutig bestimmt:
Ich habe deiner (hier) gedacht / du musst (in der Ferne) tanzen. Man muss also Storms Gedichten „Hyazinthen“ bis Vers 4 lesen, um die Bedeutung von hallen zu verstehen!

Was sah das Ich, als es des Sommers letzte Rose sah?
Sie war, als ob sie bluten könne, rot. Die Rose war rot; viele Rosen sind rot. Das Ich mit seinem Blick sah dieses Rot so: als ob sie bluten könne. Die reguläre Form von „könne“ wäre „könnte“; damit haben (hätten) wir einen sogenannten irrealen Vergleich der Blumenfarbe Rot. Die Rose kann nicht bluten, aber sie ist – so sieht es das Ich! – so rot, als ob sie bluten könnte; in der Sicht des lyrischen Ichs ist die Rose verletzlich, sterblich wie ein Mensch. Es geht in diesem Gedicht also nicht „um eine Rose“, sondern um die Begegnung des Ichs mit der letzten Rose, die so rot ist, als ob sie bluten könnte; es geht darum, was das Ich in dieser Rose sieht.
Was diese Begegnung dem Ich bedeutet, sagt es dann:
Da sprach ich schauernd im Vorübergehn:
„So weit im Leben, ist zu nah am Tod!“

Das Ich sprach schauernd; die Begegnung mit der letzten Rose hat das Ich erschüttert, hat ihm einen Schauer über den Rücken gejagt, hat ihm die Ahnung des Todes vermittelt. Ob im Vorübergehn eine Bedeutung außer der Beschreibung der Tätigkeit des Ichs (oder der Bestimmung des Zeitpunkts des Sprechens) hat, ist offen. Man könnte die Bedeutung prüfen:
* Da sprach ich schauernd, als ich stehen blieb, oder
* Da sprach ich schauernd, mit gesenktem Kopf.
im Vorübergehn könnte also eine wesentliche, nicht nur zufällige Bestimmung des lyrischen Ichs sein – es selber wäre dann ein vorübergehendes, ein vergehendes Wesen. Ähnlich heißt es in einem Gedicht Werner Bergengruens 1945, also viel später: „Was aus Schmerzen kam, war Vorübergang.“
Was das Ich damals sprach, wird nun berichtet:
„So weit im Leben, ist zu nah am Tod!“ Das Ich besitzt ein Wissen über den Zusammenhang von Leben und Tod; es bewertet die Position der letzten Rose im Leben: Die Rose ist in ihrem Leben weit vorangekommen. Die Rose ist damit zu nah am Tod. In der Partikel zu drückt das Ich aus, dass es den Tod ablehnt oder fürchtet.
In diesem Satz ist die Rose nicht genannt; aber zunächst ist sie gemeint, da sie ja so rot ist, als ob sie bluten könnte. Sie ist also so weit im Leben fortgeschritten, dass sie in der Nähe des Todes ist. Da die Rose als Subjekt dieser Bewertung aber nicht genannt ist und da das Ich schauernd spricht, spricht es seine Bewertung auch im Hinblick auf sich selber aus, ohne dass seine Position im Leben bestimmt würde. Mit dem Rufzeichen am Ende des 4. Verses unterstreicht das Ich, wie wichtig ihm die Furcht vor der Todesnähe ist.

Das Sommerbild ist das Bild der letzten Rose, der das Ich vor einiger Zeit begegnet ist; sie war so rot, dass Todesahnungen das lyrische Ich haben erschauern lassen. Es hat seine Gestimmtheit ausgesprochen, es scheut vor dem nahenden Tod zurück.
In der zweiten Strophe berichtet das Ich, wie es der letzten Rose erging: Der Flügelschlag eines Schmetterlings erschütterte die Rose, sodass sie nach dem Gesetz ihres Lebens verging.
Was zum Rhythmus und zur Semantik der Reime zu sagen wäre, haben wir noch nicht beachtet. Ich verweise dafür auf meine Analyse des Gedichtes (-> „Hebbel Sommerbild“ +norberto42) und auf die entsprechenden Aufsätze zu Reim und Rhythmus (https://norberto68.wordpress.com/2010/11/28/gedichtanalyse-gedichte-analysieren-meine-aufsatze-mit-beispielen/ sowie https://norberto68.wordpress.com/2011/02/14/rhythmus-eines-gedichts-beispiel-goethe-gefunden/).

Welche Arbeitsaufträge haben sich ergeben? Zu erforschen sind: Satzgliedstellung; Valenz (des Verbs, der Wörter allgemein); Syntagma – Paradigma; (Kommunikation im fiktionalen Text)  Vgl.

Satzgliedstellung:
http://culturitalia.uibk.ac.at/hispanoteca/Lexikon%20 (Satzgliedstellung: gute Übersicht)
http://de.wikipedia.org/wiki/Thema-Rhema-Gliederung (sehr knapp, Verbindung zu Thema-Rhema)
In http://www.canoo.net/ die Satzgrammatik anklicken, dort: Satzbaupläne, Wortstellung (mit Verweisen!) 

Valenz (bitte den Zusammenhang mit den Satzbauplänen beachten!):
http://www.teachsam.de/deutsch/d_lingu/synt/wort/Verb/verb_6_2.htm (Verben: mit Beispielen)
http://de.wikipedia.org/wiki/Valenz_(Linguistik)
http://mmtux.idf.uni-heidelberg.de/ProGram/Valenz/RK_valenz.html (umfassend!)

Syntagma – Paradigma:
http://glossar.schneider-ret.de/artikel/paradigmatische_beziehung.htm

http://culturitalia.uibk.ac.at/hispanoteca/Lexikon%20der%20Linguistik/

http://www.noirscript.de/dramaturgie/relatio.htm
http://www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de/veranstaltungen/einfuehrungsvorlesungen/2006/3_07112006.pdf
http://www.fb10.uni-bremen.de/khwagner/semantik/ppt/StrukSem1.ppt

Es zeigt sich, dass hier Fragen der Grammatik auftauchen, die im normalen Deutschunterricht nicht thematisiert werden und die in Schülergrammatiken oft nicht einmal behandelt werden. Es zeigt sich ferner, wie sinnlos die von verzweifelten Deutschlehrern ans Volk gerichtete Frage ist: „An welchen Wörtern siehst du das?“ An bloßen Wörtern sieht man ziemlich wenig!
Mit den Worten von noirscript: Es geht um die Relation (eines Wortes zu anderen Wörtern): Beziehung zwischen den verschiedenen Sprachelementen; seit Saussure werden diese Beziehungen unterschieden nach zwei Arten: 1. syntagmatische Relation: Beziehung eines Elements zu Elementen seiner Umgebung (horizontale Betrachtung in der linearen Redekette); 2. paradigmatische Relation: Beziehungen eines Elements, die es ersetzen, die an seine Stelle im Kontext treten können und sich dort gegenseitig ausschließen (vertikale Betrachtung im Satz).
Und diese Relationen muss man innerhalb des Satzes (Vorfeld / Verb / Nachfeld) sehen!