Verhältnis Autor – Werk

In seiner Autobiografie „Mein Leben“ (1999) erzählt Reich-Ranicki von einer Begegnung mit Anna Seghers in Warschau; sie habe erklärt, sie habe sich in der Komposition von „Das siebte Kreuz“ an Manzonis Werk „Die Verlobten“ orientiert, was Reich-Ranicki für völligen Unsinn hält: „Diese bescheidene, sympathische Person, die jetzt in breiter Mainzer Mundart gemächlich über ihre Figuren schwatzte, diese würdige und liebenswerte Frau hat den Roman ‚Das siebte Kreuz‘ überhaupt nicht verstanden. Sie hat keine Ahnung von der Rafinesse der hier angewandten Mittel, von der Virtuosität der Komposition.“ (S. 342)

Kurz darauf, nach einer Anekdote über Richard Strauss verallgemeinert er diese Einsicht: „Was habe ich aus dem Gespräch mit Anna Seghers gelernt? Daß die meisten Schrtiftsteller von der Literatur nicht mehr verstehen als die Vögel von der Ornithologie. Und daß sie am wenigsten ihre eigenen Werke zu beurteilen imstande sind. Denn in der Regel wissen sie zwar, was sie ungefähr zeigen und verdeutlichen, erreichen und bewirken wollten. Dieses Wissen trübt ihren Blick auf das, was sie geleistet und geschaffen haben. Der Kritiker soll prüfen – so gründlich und so sorgfältig wie möglich -, was der Autor geschrieben hat. Was der Autor sonst über sein Werk zu sagen hat, sollten wir nicht ignorieren, indes auch nicht sonderlich ernst nehmen.“ (S. 342 f.)

Das ist eine Maxime, die man einerseits ernsthaft würdigen soll; anderseits zeigt sie aber auch, von welchem Selbstbewusstsein Reich-Ranicki als Kritiker erfüllt war.

A. Thalmayr: Lyrik nervt (Hanser 2004) – gelesen

Erste Hilfe für gestresste Leser“ ist der Untertitel des Buches von H. M. Enzensberger, der schon mal das Pseudonym „Andreas Thalmayr“ benutzt („Das Wasserzeichen der Poesie“, 1985). Angeblich schreibt er für Leser, die von den in der Schule geforderten Gedichtinterpretationen genervt sind – aber dass ausgerechnet diese zu Enzensbergers Buch greifen, darf bezweifelt werden. Enzensberger schreibt nämlich – allerdings in einem schnodderig-kumpelhaften Ton, das ist die Konzession an die Gestressten – eine eigentlich ganz normale Einführung in die Lyrik, wobei seine Ausführungen durch zahlreiche bekannte und weniger bekannte Beispiele erläutert werden – vielleicht ist „vorstellen“ besser als „erläutern“. Was ist ein Gedicht? Was ist ein Vers? Welche Reim- und Strophenformen gibt es? Wozu sind Metaphern und andere „Stilmittel“ gut? Gibt es eine richtige Interpretation, ja, braucht es überhaupt eine Interpretation? Wie funktioniert reimlose Lyrik? Was ist ein gutes Gedicht? Kann nicht jeder selber dichten? Das sind etwa die Fragen, die man auf 100 Seiten beantwortet bekommt.

Es ist sicher kein Buch für gestresste, sondern für interessierte Leser, die das in leichtem Ton serviert bekommen, was es zumindest am Gymnasium auch schon zu hören gab. Das Beste am Buch sind die vielen Beispiele, unter denen auch Spielformen der Poesie reichlich vertreten sind. Erheitert haben mich die Verse der Friederike Kempner, des schlesischen Schwans:

Frohe Stunden

Pilz des Glücks ist dieser eine,

Jener Stiefpilz des Geschicks;

Einem sind als O die Beine,

Andern wuchsen sie als X.

Zum Problem einer „Interpretation“

Dass man ein (Kunst)Werk nicht adäquat aus der Biografie des Urhebers oder aus einer Vermutung, „was der Künstler uns sagen wollte“, erklären kann, hat sich vielleicht inzwischen herumgesprochen. Zur Begründung füge ich einen Auszug aus einem lesenswerten Aufsatz Oswald Schwemmers an:

„Wenn Artikulation immer ein Verhalten zu bereits Artikuliertem ist, dann bedarf mein Selbstwerden und -sein, das ja artikulierendes und artikuliertes Sein ist, dieses Mediums. In diesem Sinne ist symbolische Kultur kein von außen auferlegter Zwang, sondern ein „Angebot“, in dessen durchaus individueller und höchst unterschiedlicher Annahme wir überhaupt erst zu einer Form unserer Äußerungen, zu einer Artikulation unseres Ausdrucks und damit auch zu einem persönlichen Selbstsein kommen.
Diese Verschränkung von persönlicher Artikulation und kulturellen Ausdrucksformen hat noch eine weitere Dimension, die wir die Dimension des Werkes oder des Werkcharakters unserer Äußerungen nennen können. Mit einem Blick auf den schönen Kleist-Text „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ können wir uns zum Beispiel vergegenwärtigen, wie im Prozess des Redens das, was wir sagen, sich entwickelt. Im Reden entsteht, wenn wir nicht ablesen oder aufsagen, das, was wir sagen. Dabei ist es nicht immer so, dass das, was wir sagen, auch das ist, was wir am Ende als das erkennen, was wir haben sagen wollen. Nehmen wir aber einmal an, es wäre so, dass das, was wir sagen, wie im Falle Mirabeaus in der Kleist’schen Schilderung, zugleich das ist, was wir im Reden als das erkennen, was wir sagen wollten, und also auch als das, was wir denken. Selbst in diesem Fall ist es aber doch so, dass das, was wir sagen, schon im Augenblick seiner Äußerung ein Eigenleben zu führen beginnt. Es wird zum Teil einer Sprache, in der auch andere und im Übrigen auch wir selbst in anderen Situationen ebenfalls etwas sagen oder schreiben. Es geht dabei vielfältige Verbindungen mit dem in dieser Sprache Gesagten und Geschriebenen ein, Verbindungen, die wir in unserem Reden weder überschaut haben noch überschauen konnten.
Das Gesagte löst sich von der Person, die es gesagt hat, und auch von der Situation, in der sie es gesagt hat. Und dies geschieht gleichzeitig mit und in dem Reden, in dem wir unsere Gedanken allmählich formulieren und verfertigen. Denn die Sprache, in der wir uns ausdrücken, ist (wie jede der symbolischen Welten, in denen wir uns bewegen) in ihren Ausdrucksformen bereits da, wenn wir beginnen, uns in ihr zu artikulieren. Was wir überhaupt artikulieren, ist eingebettet in das, was schon artikuliert worden ist. Unsere ganze geistige Existenz ist eingebettet in der symbolischen Kultur, in der die geistige Existenz anderer ihre Spuren hinterlassen hat. Wir leben daher in einer stetigen Differenz von einem sich erst bildendem Ausdruckswillen und der von ihm im Medium der symbolischen Kultur gebildeten Ausdrucksform. Diese Differenz lässt sich nicht ausgleichen, auch nicht in der gelungenen Artikulation, wie sie Kleist in seinem Text vorführt.
Die Beschreibung einer allmählichen Verfertigung des Gedachten – und damit eben auch des Gesagten – beim Reden zeigt, dass der gelungene Ausdruck ein Zusammentreffen von Verschiedenem ist. Der Redner selbst wird in einem gewissen Sinne vom Gelingen seines Ausdrucks überrascht. Als eigenes Ereignis fassen wir dieses Gelingen nur, weil wir es nicht schon so, wie es geworden ist, vorausgesehen haben und voraussehen konnten. Das sprachliche Feld, in dem wir uns bewegt haben, hat uns mit den in ihm abgelagerten Verknüpfungen in eine Dynamik des Verweisens hineingezogen, die das benutzte Wort mit weiteren Sinnverbindungen anreichert und Zusammenhänge sichtbar werden lässt, die sich auch aus eigenem Recht im Denken und Reden ausbreiten.“

(Oswald Schwemmer: Die Macht der Symbole, 2006; der ganze Aufsatz in APUZ: https://www.bpb.de/apuz/29747/die-macht-der-symbole)

https://de.wikipedia.org/wiki/Oswald_Schwemmer Oswald Schwemmer

Storm: Der eine fragt… Kleiner Lesekurs für Alphabeter

In der von Theodor Hertel besorgten Ausgabe von Storms Werken findet man unter „Sprüche“i zwei kurze Gedichte, die nach der Datierung durch den Herausgeber im Juli 1858 verfasst worden sind. Deren erstes lautet:

Der eine fragt: Was kommt danach?

Der andere fragt nur: Ist es recht?

Und also unterscheidet sich

der Freie von dem Knecht.

Das Verständnis des Sinnspruchs ist umstritten (vgl. die Anmerkung 291 bei Christian Demandt); deshalb wollen wir ihn methodisch exakt lesen, um seinen Sinn jenseits bloßer Vermutungen zu ermitteln. Zugleich sind diese Überlegungen eine Anleitung, einen Text bewusst zu lesen, statt sich auf bloße Assoziationen zu einzelnen Wörtern zu verlassen.

Es ist von zwei Fragen bzw. Fragenden die Rede. Unbestimmt ist zunächst, wann sie wen fragen. Aufgrund ihrer Fragen füllen wir diese erste Leerstelle so: Sie fragen sich selbst, ehe sie etwas tun, was jenseits alltäglicher Routine liegt, weshalb man nachdenkt, wie man handeln soll.

Die Frage „Was kommt danach?“ zielt auf die Folgen der Handlung; sie weist eine weitere Leerstelle auf: Was kommt danach [für mich, oder: überhaupt]? Wie man diese Leerstelle füllt, entscheidet über das Verständnis des Spruchs; wählt man „für mich“, hat man die Frage eines Opportunisten vor sich, der nur auf seinen Vorteil bedacht ist; wählt man „überhaupt“, hört man die Frage eines Menschen, den man im Sinn Max Webers als Verantwortungsethiker bezeichnen könnte, weil er die Folgen seines Handelns für andere bedenkt. Welches die richtige Wahl ist, kann man bis jetzt noch nicht entscheiden.

Die zweite Frage „Ist es recht?“ wird oft missverstanden, weil Leser nicht zwischen dem Substantiv „Recht“ und dem Adjektiv „recht“ unterscheiden. Das Adjektiv „recht“ bedeutet „gerade; richtig; angemessen“ii. Etwas differenzierter steht in Hermann Pauls Wörterbuch: 1) Grundbedeutung „gerade“; 2) richtig (Gegensatz: unrecht und falsch); 3) speziell ist recht, was dem Gesetzen oder Geboten der Sittlichkeit entspricht (Gegensatz „unrecht“, nicht „falsch“); es folgen vier weitere Bedeutungen.iii Wir haben auf Wörterbücher zurückgegriffen, die den Sprachgebrauch Theodor Storms erfassen, da sie wenige Jahrzehnte nach 1858 erschienen sind; gerade die dritte bei Paul genannte Bedeutung von „recht“ kommt hier in Frage – Maßstab des Handelns sind dem Fragenden die Gebote der Sittlichkeit (und nicht die Gesetze des Staates, also das Recht).

Um die Leerstelle in der ersten Frage zu füllen, müssen wir den Kontext dieser Frage beachten, d.h. die Sätze als Text lesen; sie stellt nämlich das Gegenteil der zweiten Frage dar, was sich einmal aus der einschränkenden Partikel „nur“ ergibt, vor allem aber aus dem Gegensatz „der Freie / der Knecht“, denen die beiden Fragen zugeordnet werden – welche die des Freien ist, werden wir später untersuchen. Wenn wir also die beiden Fragen als Gegensätze auffassen müssen, können wir sie so umschreiben: „Egal, was recht ist – was kommt danach“ und „Was ist recht – egal, was danach kommt?“ Weil im Gedicht nur von zwei einzelnen Menschen die Rede ist, wird man die erste Frage so verstehen dürfen: „Was kommt für mich danach, was kommt für mich dabei heraus – egal, was recht ist?“

Auch der erweiterte Kontext des Gedichtes spricht für dieses Verständnis. Ich berufe mich auf ein anderes Gedicht Storms, das er im Oktober 1854 verfasst hat, „Für meine Söhne“. Dort heißt es in der ersten Strophe:

Hehle nimmer mit der Wahrheit!

Bringt sie Leid, nicht bringt sie Reue;

das ist, auf einen besonderen Fall angewandt, die Mahnung, recht zu handeln, ohne auf die Folgen zu achten. Dass der eigene Vorteil nicht der richtige Maßstab des Handelns ist, sagt Storm auch in den beiden letzten Strophen des gleichen Gedichts:

hüte deine Seele

vor dem Karrieremachen und

Halte fest: du hast vom Leben

Doch am Ende nur dich selber.

Das alles sind Lebensregeln im Sinn des Sprichwortes „Tue recht und scheue niemand.“ Dieses Sprichwort gehört zum noch einmal erweiterten Kontext des Gedichts, das zu einem breiten Strom europäischer Ethik und Lebensweisheit gehört, aus dem Sokratesiv, Jesus und andere herausragen.

So bleibt als letzte Frage die, wer von den beiden der Freie und wer der Knecht ist. „Knecht:“ bedeutetv ursprünglich Knabe, Knappe; später steht es im Gegensatz zu „Herr“, wird dann durch „Diener“ verdrängt, ist aber in der Landwirtschaft noch üblich. Anderseits bedeutet „Knecht“ seit alters auch „Unfreier“, leibeigener Knecht, bildlich etwa „der Sünde Knecht“ und dergleichen. Das Wörterbuch und der Gegensatz zu „Freier“ legen nahe, hier ebenfalls die negative metaphorische Bedeutung anzunehmen.

Wir haben also einen doppelten Gegensatz vor uns, dessen Paare durch „also“ (= „so“) einander als gleichartig zugeordnet werden:

der eine: danach? – der andere: recht?

der Freie                  – der Knecht

Rhetorisch könnte man die Zuordnung als Parallelismus lesen, dann wäre der eine der Freie und der andere der Knecht; man kann das Verhältnis der Paare aber auch als Chiasmusvi ansehen, dann ist der eine der Knecht und der andere der Freie.

Die Rhetorik lässt also beide Lesarten zu, so dass man vom Sinn her entscheiden muss, wer der Freie ist: Ist es derjenige, der nach den Maßstäben des Sittengesetzes handelt, oder ist es derjenige, der die Folgen seines Handelns kalkuliert? Kein Zweifel, der andere ist der Freie; der eine ist ein Knecht seines Gewinnstrebens, dem ethische Maßstäbe gleichgültig sind. Wessen Knecht wäre auch derjenige, der sich am Sittengesetz orientiert und dabei Nachteile, vielleicht sogar den Verlust des Lebens wie Sokrates riskiert?

Zweifellos stellt das Gedicht eine Mahnung dar, wie ein Freier statt als Knecht zu leben. Diese Mahnung steht in der großen Tradition europäischer Lebensweisheit: Sie besagt, dass man als Mensch erst frei wird, wenn man sich von der animalischen Sorge um den eigenen Vorteil (Was ist gut für mich?) befreit, den Blick weitet und sich fragt: Was ist richtig? Was ist gut für alle Menschen?

Diese Lesart kann nicht ernsthaft bezweifelt werden, wenn man die methodischen Schritte bedenkt, mit denen wir sie gefunden haben. Solches methodisch kontrollierte Lesen muss geübt werden – wir haben dazu diese Übung angestellt, in der ich reale Verständnisschwierigkeiten aufgegriffen habe (vgl. die Ergebnisse der Suche im Netz unter „Storm: Der eine fragt“!).

Methodisches Fazit:

Wir haben auf den Ebenen der Wörter, der Sätze und des Textes operiert. Um die Bedeutung der Wörter zu ermitteln, haben wir auf Wörterbücher und die grammatischen Kategorieren Adjektiv/Substantiv zurückgegriffen.

Um die Bedeutung der Sätze zu ermitteln, haben wir Leerstellen aufgespürt und gefüllt, außerdem den Zusammenhang der Sätze als Text beachtet. Dabei haben wir auf die Rhetorik zurückgegriffen.

Sinn gibt es auf der Ebene des Satzes, vor allem jedoch des Textes. Um den exakt zu bestimmen, haben wir den Text in seiner Struktur beschrieben und in einen Kontext gestellt – hier in den eines anderen Gedichtes des Autors und in die europäische Tradition der Gattung Sinnsprüche und Lebenslehren.

Zum Kontext gehört auch die Situation, in der ein Text geäußert wird; dazu konnten wir in diesem Fall nichts sagen; die literarische Gattung der Sinnsprüche musste ausreichen, um das sprachliche Handeln der Sprechers zu bestimmen.

i Storms Werke. Herausgegeben von Theodor Hertel. Kritisch durchgesehene und erläuterte Ausgabe. Erster Band. Leipzig und Wien o.J. (Vorwort datiert: Dezember 1918), S. 92

ii Moriz Heyne: Deutsches Wörterbuch, Dritter Band 1895, s.v. „recht“; alte Wörterbücher finden Sie in meinem Blog https://norberto42.wordpress.com aufgelistet und verlinkt.

iii Deutsches Wörterbuch von Hermann Paul, 1897

iv Apologie 28 b. Die Mahnungen der großen Lehrer stellen sich gegen die gängige Praxis: Angesichts der Bestrafung von Klagen „ist es sehr begreiflich, daß die Sclaven, wenn sie hinsichtlich ihrer Lage und des Charakters ihres Herrn befragt werden, fast ohne Ausnahme erwiedern: sie seien zufrieden und hätten einen guten Herrn. (…) Sie verhehlen die Wahrheit lieber, ehe sie die Consequenzen auf sich nehmen, welche aus dem Aussprechen derselben erwachsen können, und geben sich darin als ächte Mitglieder der menschlichen Gesellschaft kund.“ (Frederick Douglass: Sklaverei und Freiheit. Autobiographie, 1860, S. 86)

v Deutsches Wörterbuch von Hermann Paul, 1897; vgl das Zitat in der vorhergehenden Fußnote!

vi Von Chiasmus spricht man, wenn parallele Sätze kreuzweise entgegengesetzt (also in der Fom des griechischen Buchstabens Chi, etwa X) angeordnet sind; der Chiasmus dient vor allem dem Hervorheben von Gegensätzen. Beispiel: „Die Welt ist groß, klein der Verstand.“