Eine Parabel von der gerechten Beurteilung: „Die Schnellläufer“

Hans Chr. Andersen: Die Schnellläufer

Ein Preis war ausgesetzt, sogar zwei Preise, ein kleiner und ein großer, für die größte Schnelligkeit, aber nicht in einem einzigen Lauf, sondern über das ganze Jahr verteilt.

»Ich bekam den ersten Preis«, sprach der Hase; »Gerechtigkeit muss schließlich sein, wenn Verwandte und gute Freunde im Preisrichterkollegium sitzen; dass aber die Schnecke den zweiten Preis erhielt, finde ich fast beleidigend für mich!«

»Nein,« versicherte der Zaunpfahl, der Zeuge bei der Preisverteilung gewesen war, »man muss auch Fleiß und den guten Willen berücksichtigen; das sagten mehrere achtbare Preisrichter, und das habe ich wohl begriffen. Die Schnecke hat freilich ein halbes Jahr gebraucht, um über die Türschwelle zu gelangen; allein, sie hat sich einen Schaden zugezogen, hat sich das Schlüsselbein gebrochen bei der Eile, die es doch für sie war. Sie hat ganz und gar für ihren Lauf gelebt, und sie lief mit ihrem Hause auf dem Rücken! Das alles ist sehr charmant, und sie bekam deshalb auch den zweiten Preis.«

»Mich hätte man doch auch berücksichtigen können«, sagte die Schwalbe; »ich sollte meinen, dass niemand sich schneller als ich im Flug und Schwung gezeigt hat. Und wie weit bin ich herumgekommen, weit, weit, ganz weit!«

»Ja, das ist gerade Ihr Unglück«, sprach der Zaunpfahl, »Sie sind zu flatterhaft! Immer müssen Sie auf die Fahrt, sogar ins Ausland, wenn es hier zu frieren beginnt. Sie haben keine Vaterlandsliebe! Sie konnten deshalb nicht berücksichtigt werden.«

»Wenn ich nun aber den ganzen Winter hindurch in der Moorheide läge«, erwiderte die Schwalbe, »wenn ich also die ganze Zeit schliefe, würde ich dann in Betracht gezogen?«

»Bringen Sie eine Bescheinigung der alten Moorfrau, dass Sie die halbe Zeit im Vaterland verschlafen haben, dann sollen Sie berücksichtigt werden.«

»Ich hätte eigentlich den ersten Preis und nicht den zweiten verdient«, sprach die Schnecke. »Denn ich weiß genau, dass der Hase nur aus Feigheit gelaufen ist, weil er jedes Mal meinte, es sei Gefahr im Verzug. Ich hingegen habe mir Laufen zur Lebensaufgabe gemacht und bin im Dienst zum Krüppel geworden. Sollte überhaupt jemand den ersten Preis bekommen, dann wäre ich es. – Aber ich verstehe es nicht, mich vorzudrängen, so etwas verachte ich.«

»Ich kann mit Wort und Rede dafür geradestehen, dass jeder Preis – wenigstens mit meiner Stimme – unter dem Aspekt der Gerechtigkeit gegeben worden ist«, sprach der alte Grenzpfahl im Wald, der Mitglied des entscheidenden Richterkollegiums war. »Ich gehe stets systematisch, mit Überlegung und Berechnung vor. Siebenmal habe ich früher bereits die Ehre gehabt, bei der Preisvergabe dabei zu sein und mitzustimmen, aber erst dieses Mal habe ich mich durchsetzen können. Ich bin bei jeder Abstimmung von etwas Bestimmtem ausgegangen; ich bin beim ersten Preise von vorne im Alphabet, beim zweiten von hinten ausgegangen. Passen Sie nun gut auf, ich will Ihnen das genau erklären. Der achte Buchstaben von A aus ist H, da haben wir den Hasen, und deshalb erkannte ich dem Hasen den ersten Preis zu; der achte Buchstabe von hinten ist S, und deshalb erhielt die Schnecke den zweiten Preis. Das nächste Mal wird ein Tier mit I erster und eines mit R zweiter. Es muss bei allen Dingen Ordnung herrschen! Man muss für sein Urteil immer ein bestimmtes Kriterium haben.«

»Ich hätte freilich für mich selbst gestimmt, wenn ich nicht unter den Richtern gewesen wäre«, sagte der Maulesel, der gleichfalls Preisrichter war. »Man muss nicht allein die Schnelligkeit berücksichtigen, mit welcher man vorwärts kommt, sondern auch andere Eigenschaften, zum Beispiel wie viel jemand zu ziehen vermag. Doch das wollte ich dieses Mal nicht hervorheben, auch nicht die Klugheit des Hasen auf der Flucht, wenn er plötzlich einen Sprung seitwärts macht, um die Verfolger auf eine falsche Fährte zu leiten, damit sie nicht wissen, wo er steckt. Nein, es gibt noch etwas, worauf viel Gewicht liegt und das man nicht außer Acht lassen darf – ich meine das, was man das Schöne nennt. Auf das Schöne richtet sich hauptsächlich meine Aufmerksamkeit; ich schaute mir die schönen, wohlgeformten Ohren des Hasen an, es ist eine wahre Freude zu sehen, wie lang die sind. Mir kam es vor, als sähe ich mich selber in meiner Kindheit Tagen, und so stimmte ich für den Hasen!«

»Pst«, sagte die Fliege, »ich will keine Rede halten, ich will nur kurz etwas sagen, – will nur sagen, dass ich mehr als einen Hasen eingeholt habe. Letzthin zertrümmerte ich einem der jüngsten die Hinterläufe; ich saß auf der Lokomotive vorn am Bahnzug – das tue ich oft, man erlebt so am besten seine eigene Schnelligkeit. Ein junger Hase lief lange Zeit vor der Lokomotive her, er hatte keine Ahnung, dass ich zugegen war; endlich aber musste er ausweichen, aber da zerschmetterte die Lokomotive ihm die Hinterbeine, denn ich saß auf ihr. Der Hase blieb liegen, ich fuhr weiter. Das heißt doch wohl ihn besiegen! – Allein, ich brauche den Preis nicht.«

»Mir scheint freilich«, dachte die wilde Rose, aber sie sagte es nicht, denn es ist nun einmal nicht ihre Natur, sich auszusprechen, obwohl es gut gewesen wäre, wenn sie es getan hätte – »mir scheint freilich, dass der Sonnenstrahl den ersten Ehrenpreis und auch den zweiten hätte bekommen müssen. Der Sonnenstrahl fliegt im Nu den unermesslichen Weg von der Sonne zu uns herab und kommt mit einer Kraft an, dass die ganze Natur dabei erwacht. Er besitzt eine solche Schönheit, dass wir Rosen alle erröten und duften. Das hohe Gericht scheint dies gar nicht bemerkt zu haben! Wäre ich der Sonnenstrahl, dann bekäme jeder von ihnen einen Sonnenstich – allein, der würde sie nur toll machen, aber das werden sie ohnehin. Ich sage nichts!« dachte die wilde Rose. »Friede soll im Wald herrschen! Herrlich ist’s, zu blühen, zu duften und zu leben, in Sang und Sage fortzuleben. Der Sonnenstrahl überlebt uns doch alle!«

»Was ist der erste Preis?« fragte der Regenwurm, der die Zeit verschlafen hatte und nun erst hinzukam.

»Der besteht im freien Zutritt zu einem Kohlgarten«, antwortete der Maulesel; »ich habe diesen Preis vorgeschlagen. Der Hase musste und sollte ihn haben, und so nahm ich als vernünftig denkendes und handelndes Mitglied Rücksicht auf den Nutzen dessen, der ihn erhalten sollte; jetzt ist der Hase versorgt. Die Schnecke darf auf dem Zaun sitzen und sich an Moos und Sonnenschein erfreuen; sie ist ferner zu einem der ersten Preisrichter beim Schnelllaufen bestimmt worden – es ist sehr viel wert, Fachleute im Komitee zu haben. Ich muss sagen, ich erwarte viel von der Zukunft; wir haben schon einen recht guten Anfang gemacht!«

Als ehemaliger Lehrer interessiert mich eine Parabel über die gerechte Bewertung von Leistungen, die in Hans Christian Andersens Erzählung „Die Schnellläufer“ vorliegt. Darin wird ausgezeichnet, wer „die größte Schnelligkeit … über das ganze Jahr verteilt“ erbracht hat. Dieses Kriterium ist in sich unsinnig, denn die größte Schnelligkeit kann man nur in einem bestimmten Lauf erzielen; es ist aber so gefasst, damit auch die Schnecke zum Zuge kommen kann, die schließlich den zweiten Preis bekommt, während der schnelle Hase den ersten Preis davonträgt.

Im Gespräch verschiedener Teilnehmer wird die Preisverleihung diskutiert, wobei die Diskutanten sowohl sich selbst wie auch ihre Kriterien bloßstellen. Das Gespräch dreht sich i. W. um die Fragen,

  • warum der Hase den ersten Preis errungen hat,
  • warum die Schnecke den zweiten Preis bekommen hat,
  • warum die Schwalbe keinen Preis gewonnen hat;

die Rose schließlich lehnt den ganzen Wettbewerb ab.

Warum hat der Hase gewonnen? Nicht weil er schnell gelaufen ist, sondern weil er Verwandte und Freunde im Preisrichterkollegium hat (so der Hase), weil er beim Laufen Haken schlägt, weil er so schöne lange Ohren hat (so der Maulesel) und weil H wie Hase der achte Buchstabe im Alphabet ist (so der Grenzpfahl). Diese Argumente sind so lächerlich wie die Begründungen dafür, dass ausgerechnet der Schnecke (schon in sich ein Witz!) der zweite Preis zuerkannt worden ist.

Bleibt noch zu klären, warum die Schwalbe keinen Preis gewonnen hat, obwohl sie doch am schnellsten fliegt (so die Schwalbe). Das begründet der Zaunpfahl – ausgerechnet ein Zaunpfahl und ein Grenzpfahl als Preisrichter, die sich um keinen Zentimeter bewegen können! – ganz unsachlich damit, dass die Schwalbe auch ins Ausland fliegt, ergo keine Vaterlandsliebe habe, aber für einen Preis in Betracht käme, wenn sie den Winter in der Moorheide verschliefe, also sich durchaus nicht bewegte (paradox!); die „Vaterlandsliebe“ zählt eben mehr als die Leistung.

Über die Arroganz der Fliege braucht man kein Wort zu verlieren; die Überlegungen des Grenzpfahls und des Maulesels sprechen für die Willkür, nach der die Leistungen der verschiedenen Tiere bewertet werden. Der Clou steht am Schluss: Die Schnecke wird zum Preisrichter beim Schnelllaufen ernannt, weil man ja schließlich Fachleute im Komitee haben muss.

Die Rose beteiligt sich nicht am Streitgespräch, sondern weist in ihren stillen Überlegungen alle Begründungen der Diskutanten zurück: Sie verweist auf die Schnelligkeit des Lichtes und die Schönheit der Sonne, welche die Rosen zum Leben erweckt (wieder die egozentrische Sicht). Aber dann kommt ihr entscheidendes Argument, das die ganze Preisrichterei als sinnlos erklärt: „Herrlich ist’s, zu blühen, zu duften und zu leben…“ Und wenn man dabei rennt, ist es auch gut; es braucht aber nicht ausgezeichnet zu werden. Mir scheint, dass die Rose das ausspricht, was Andersen mit seiner Parabel „sagen“ will – wenn man denn fragt, was er wohl sagen will, und sich nicht einfach an der herrlichen Geschichte erfreut.

Wenn man, ohne die Rose zu hören, über eine gerechte Bewertung der schnellen Bewegung nachdenkt, muss man natürlich Schwalbe und Hase als mögliche Sieger berücksichtigen, während die Fliege und erst recht die Schnecke dafür nicht in Betracht kommen; denn es wird nach der der größten Schnelligkeit gefragt – das ist eine eindeutige Frage (allerdings ohne den Zusatz „über das ganze Jahr verteilt“).

Die Erzählung erinnert mich an einen Cartoon, der vor 50 Jahren unter progressiven Lehrern verbreitet war: Da standen, wenn ich mich recht erinnere, ein Pinguin, ein Affe, ein Elefant und noch ein Tier – sagen wir Hase oder Igel – vor einer Palme und bekamen den Auftrag (= die Aufgabe), den Baum hochzuklettern; klar ist, dass nur der Affe diese Aufgabe lösen kann. Mit dem Cartoon wurde dagegen polemisiert, dass in der Schule allen Schülern die gleichen Aufgaben gestellt werden, obwohl vermeintlich klar ist, dass manche sie gar nicht lösen können, also mit einer Benotung ihrer Leistung zu Unrecht bestraft werden. Nun kann man natürlich zweifeln, ob die Unterschiede zwischen Kindern angesichts der schulischen Aufgaben so groß sind wie die zwischen Affe und Pinguin beim Klettern; unbestritten ist, dass es Unterschiede in der Begabung gibt. Aber wenn man nicht alle nach dem Kriterium der Leistung beurteilt, sondern die Aspekte des Hasen, des Maulesels, des Grenz- und des Zaunpfahls beachtet, dann landet man wieder in der Ständegesellschaft, wo Geld und Beziehungen das Fortkommen bestimmt haben. Das Kriterium der Leistung ist ein explizit bürgerliches Kriterium, das den Vorteil der vornehmen Herkunft ausschaltet.

Wiederum eine andere Frage ist es, ob man schwächer oder einseitig begabte Kinder gezielt fördern kann und will – das ist unter anderem (aber nicht nur) eine Frage des Geldes, das der Staat oder die Kommune für die Schule locker machen. Unterschiedliche Begabung darf aber kein Grund sein, von einer Bewertung nach den gleichen Kriterien abzusehen; eher sollte man (vor allem die Eltern!) mit der Rose überlegen, worauf es im Leben letztlich ankommt. Ich halte es jedenfalls gesellschaftlich für höchst bedenklich, wenn man die Anforderungen an die Schüler permanent senkt, nur damit alle (auch die mit einem IQ unter 100) Abitur machen können, was seit Jahren ein schulpolitischer Trend ist und durch die zentralen Prüfungen mit ihren klein gehackten Aufgabenstellungen (und der entsprechenden Vorbereitung darauf) befördert wird.

Tore oder Toren?

Paul Munzinger hat mit seinem Beitrag „Goethedämmerung“ (SZ 5. 8. 2022, S. 1) ein prächtiges Stück deutscher Journalistik abgeliefert: Wenn ich den Tenor des Artikels richtig höre, beklagt Munzinger, dass der „Faust“ vom bayerischen Lehrplan gestrichen wird. Munzinger kennt natürlich selber den „Faust“, er zitiert den Eingangsmonolog Fausts – aber wie! Er spricht nämlich vom Ziel der Schule, dass die Schüler „am Ende der Schulzeit nicht wie arme Tore dastehen, so klug als wie zuvor“. Richtig müsste er von armen Toren sprechen; denn arme Tore sind etwas anderes als arme Toren. Und wenn selbst ein für Bildungsfragen zuständiger Redakteur diesen Unterschied nicht kennt, dann kann man ruhig auf die Lektüre des „Faust“ verzichten und stattdessen den Umgang mit einer Grammatik (das Tor – der Tor: Was sind Homonyme?) und einem soliden Wörterbuch (Pluralbildung, Unterschied zwischen „Tore“ und „Toren“) üben.

Das Drama des begabten Kindes – in der Schule

Das Drama des begabten Kindes“ war ein Bestseller der Alice Miller; über dieses Buch informieren die unten verlinkten Texte. Mir geht es dagegen um ein Drama des intellektuell begabten Kindes, dem alles leicht zufliegt.

Wenn ein solches Kind nicht auf Lehrer trifft, die zugleich „fördern und fordern“, dann gereicht ihm seine Begabung nicht zum Nutzen: Es braucht nicht ernsthaft zu arbeiten, um sich in der Spitzengruppe der Klasse halten; wenn es aber nicht regelmäßig zu arbeiten lernt, dann kann es nicht arbeiten, wenn es arbeiten können müsste – spätestens im Studium. Es hat sich daran gewöhnt, dass es „auch so“ durchkommt – bis es eben auf einmal nicht mehr auch so, ohne zu arbeiten, durchkommt. Und dann ist es oft zu spät, um das Steuer noch herumzureißen, und das einst begabte Kind wird – beruflich – ein mittelprächtiger Erwachsener.

Ich erinnere mich besonders gut an zwei Fälle. Der erste war D., ein wirklich begabter Junge oder junger Mann, der ohne zu arbeiten bei mir in Deutsch eine 3 bekam, was immerhin etwas heißt. Warum sollte er auch arbeiten? Das Leben war schön und es genügte ihm, aufmerksam dem Unterricht zu folgen. Er ging dann zum Studium an die RWTH Aachen; dort hat er keinen Abschluss geschafft, weil an der RWTH bei den Ingenieuren erbarmungslos gesiebt wird und man mit D.s lascher Einstellung dort keinen Blumentopf gewinnen kann. Nach dem Abbruch/Ende des Studiums hat er gejobt; was er jetzt macht, weiß ich nicht.

Der zweite Fall war L., eine begabte eloquente Schülerin mit schneller Auffassung, die sich aber nur gelegentlich zum Arbeiten aufraffte und die es gewohnt war, damit gute Noten zu bekommen. Als sie damit einmal bei mir in einer Klausur auf „befriedigend“ kam, haben ihre Eltern ein Riesentrara veranstaltet, einschließlich einer Beschwerde bei der Schulaufsicht in Düsseldorf: Ich versaute ihrer Tochter mit so einer Note die geplante große Karriere… L. wechselte dann in einen anderen Kurs, wo sie allerdings auch nicht über 2- hinauskam. Sie hat dann eines der weichen Fächer studiert und arbeitet, ohne ihr großes Berufsziel erreicht zu haben, mittlerweile als Angestellte in einem Konzern.

Fazit: Niemandem ist damit gedient, wenn man ihm gute Noten hinterherschmeißt; niemandem ist damit gedient, wenn man ihm „gute“ Leistungen bescheinigt, obwohl man keine Leistung verlangt hat – und es ihm durch guten Unterricht ermöglicht hat, diese Leistung auch zu erbringen. Aber das ist ein weites Feld: Es gibt viele Kollegen, die sich ihre Ruhe damit erkaufen, dass sie gute Noten mit der Gießkanne ausschütten – kluge Schüler und die Kollegen belächeln das, der Schulleiter und die Eltern freuen sich, und der Kollege, der als Nachfolger einer solchen Flasche arbeitet, kann dann eine sehr heiße Suppe auslöffeln.

Zum Buch der Alice Miller:

https://de.wikipedia.org/wiki/Alice_Miller#Das_Drama_des_begabten_Kindes_(1979,_Neufassung_1994) (Inhalt, kurz)

http://www.irwish.de/PDF/Miller/Miller-Drama_des_begabten_Kindes.pdf (Text?)

https://www.hausarbeiten.de/document/106858 (eine Hausarbeit als „Analyse“)

„Ein schöner Fehler“ – Fehlerkultur in der Schule?

Wenn ich im Unterricht gelegentlich zu einem Schülerbeitrag „ein schöner Fehler“ gesagt habe, haben die Schüler meistens gelacht, weil sie das als ironischen Kommentar verstanden haben. Es war aber immer ernst gemeint: Ein schöner Fehler ist ein Fehler, bei dem der Lehrer sieht, dass ein Schüler nachgedacht, aber an einer Stelle einen falschen Weg eingeschlagen hat, woran man der Klasse erklären oder mit der Klasse erarbeiten kann, wieso dieser Weg nicht zu einer richtigen Lösung führt. Ein schöner Fehler ist also ein Beitrag zum Verständnis eines Problems, ein wichtiger Beitrag zum Unterricht, weshalb ich einen schönen Fehler oft mit einer 2 benotet habe (es wäre sogar die 1 zu erwägen) – dabei habe ich selten einzelne Beiträge mit einer Note in meinem Büchlein bewertet (in jedem Fall die, in denen mich ein Schüler korrigieren konnte, mit 1).

Allgemeiner gesprochen: 1. In der Schule muss eine Fehlerkultur eingerichtet werden – die Schüler müssen ermutigt werden, auf eigenen Wegen die Lösung der Probleme zu versuchen, auch wenn dabei „Fehler“ auftreten. 2. Es muss deutlich unterschieden werden zwischen einer Phase, in der man Fehler machen darf, und der Phase (speziell in Klassenarbeit oder Klausur), in der die Fehler tunlichst zu vermeiden sind. 3. Den Schülern muss der Unterschied dieser beiden Phasen und ihre Dauer resp. ihr Beginn deutlich gemacht werden – deutlicher jedenfalls, als ich das getan habe (andernfalls hätten Schüler nicht über meine Bemerkung „ein schöner Fehler“ gelacht). 4. In diesem Zusammenhang ist natürlich klar, dass ein Lehrer Schülerbeiträge nicht (nur) nach richtig und falsch sortieren darf, sondern dass er vor allem „geratene“ Lösungen von gedachten unterscheidet, also versucht zu verstehen, auf welchen Wegen Schülerbeiträge zustande gekommen sind. 5. Damit ist jede Rechthaberei – sowohl der Schüler wie des Lehrers – aus der Schule zu verbannen; jeder kann Fehler machen, und was ein Fehler ist, wird nicht durch „meine Meinung“, sondern allein durch sachliche Argumente entschieden.

Nicht vor Irrtum zu bewahren, ist die Pflicht des Menschenerziehers, sondern den Irrenden zu leiten, ja ihn seinen Irrtum aus vollen Bechern ausschlürfen zu lassen, das ist Weisheit der Lehrer. Wer seinen Irrtum nur kostet, hält lange damit haus, er freuet sich dessen als eines seltenen Glücks, aber wer ihn ganz erschöpft, der muß ihn kennen lernen, wenn er nicht wahnsinnig ist.“ (Der Landgeistliche zu Wilhelm, in „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, siebentes Buch, 9. Kapitel)

http://www.umsetzungsberatung.de/unternehmenskultur/fehlerkultur.php

www.schul-in.ch/myUploadData/intranet_redaktion/Tagung Lerncoaching_2013/Unterlagen/Atelier_07_Umgang_mit_Fehlern.pdf

http://sinus-sh.lernnetz.de/sinus/materialien/sinus-module/Modul-3.pdf (mit verlinkten Materialien)

http://de.wikipedia.org/wiki/Fehlerkultur

http://www.mathematik.uni-dortmund.de/~prediger/veroeff/09-Prediger_Wittmann_PM27_Webversion.pdf (am Beispiel Mathematik)

Die Links zum Thema „Fehlerkultur“ verlieren schnell ihre Gültigkeit, stelle ich fest.

 

Verstehen die Lehrer selber alles, was sie lehren?

Manchmal frage ich mich inzwischen, ob die Lehrkräfte selber verstehen, was sie den Schülern beibringen möchten und was diese dann erklären können sollen. Ich beziehe mich auf das Heft „Sprachursprung, Sprachskepsis, Sprachwandel“ der Reihe „EinFach Deutsch“, hrsg. von Frank Schneider (Schöningh); es ist für Kl. 10-13 vorgesehen. Was darin an Texten angeboten wird (einschließlich Klausur mit vorgegebenem Bewertungsbogen), ist teilweise unsäglich: abstrakt und in abgehobener Sprache, die Schüler sicher nicht und Lehrkräfte vermutlich oft nicht verstehen.

Da wird in einem Klausurvorschlag (ohne jede Erklärung!) den Schülern u.a. der Satz (von Gisela Szagun) vorgesetzt: „Dabei kommt das lernende Kind selber durch Umorganisation von zunächst einzelnen Äußerungen oder morphologischen Markierungen, die an spezifische Inhalte gebunden sind, zu verallgemeinerten Regelhaftigkeiten…“ – ja bitte, welcher Schüler kennt denn morphologische Markierungen, die an spezifische Inhalte gebunden sind? Ich befürchte, selbst viele Lehrkräfte verstehen den Satz nicht. Hat der Herausgeber Frank Schneider schon mal gehört, dass Unterricht von der Anschauung ausgehen soll?

Das Gleiche gilt für einen Satz Frau Szaguns mit völlig unklarem Anschluss („Diese“: welche?): „Diese beziehen statistische und probabilistische [wahrscheinlichkeitsorientierte] Aspekte sprachlicher Regelhaftigkeiten und kommunikative Kontexte mit ein. Kinder verfügen schon sehr früh über Lernmechanismen, statistische Informationen aus dem sprachlichen Input zu extrahieren.“ Wohlgemerkt, zu dieser Klausur gibt es weder vom Herrn Frank Schneider noch von einer Lehrkraft an der Bischöflichen Marienschule Mönchengladbach irgendeine Erläuterung (außer der unsinnigen Übersetzung von „probabilistisch“: Was sind denn wahrscheinlichkeitsorientierte Aspekte?).

Lieber Herr Schneider, liebe Frau N.N. von der Bischöflichen Marienschule, lesen Sie doch bitte mit Verstand ein paar Seiten von Pestalozzi oder eine Einführung in die Didaktik – ich befürchte jedoch auf probabilistische Art und Weise, dass es dafür zu spät ist und dass Sie beratungsresistent sind. So ein Heft mit Klausurvorschlägen mit vorgegebenem Bewertungsbogen ist natürlich ungemein praktisch, da braucht man als Lehrkraft nicht lange nachzudenken oder zu suchen, was wohl als Klausurtext geeignet wäre…

Ich möchte, um meine provokante Ausgangsthese durch ein Beispiel zu belegen, auf Chomskys Unterscheidung von Regeln, deren Kenntnis angeboren sei, und Parametern, die erlernt werden müssten, verweisen. Seien Sie ehrlich: Können Sie diese These Chomskys auf Anhieb an einem Beispiel erklären? Ich konnte es bis vor wenigen Wochen jedenfalls nicht, und die meisten Deutschlehrer, so vermute ich, können das auch nicht. Und machen sich alle Lehrer die Mühe, Chomskys Theorie in solchen Details selber zu verstehen, wenn sie den Schülern „Nativismus“ erklären (oder durch Kopien von Textfragmenten aus Lehrerheften zu erklären vorgeben)?

Bildungsdefizite

Über „Die erschreckenden Bildungsdefizite junger Deutscher“ berichtet DIE WELT-online vom 11. April 2016 (http://www.welt.de/politik/deutschland/article154187052/Die-erschreckenden-Bildungsdefizite-junger-Deutsch).

Inzwischen erwerben 53% eines Jahrgangs eine Studienberechtigung. Das bedeutet nach Adam Riese und den Regeln der Normalverteilung, dass dabei Leute mit einem IQ unter 100 sind; das kann nicht gut gehen. Unter anderem liest man in diesem Artikel, dass die Zahl der Studienabbrecher stetig steigt.

http://www.welt.de/politik/deutschland/article154187049/DWO-WI-Ausbildung-Abbruch-ag-1-jpg.html

„Doch nicht nur der starke Zulauf zu den Gymnasien habe die Standards absinken lassen. Problematisch sei auch, dass nicht mehr der Fachunterricht die Lehrpläne dominiere, sondern das neue Leitbild des „kompetenzorientierten Unterrichts“. Komme die fachliche Bildung jedoch zu kurz, flüchteten sich die Schüler in die Geschwätzigkeit, monieren die Experten. Im gesamten Bildungssystem habe sich eine „Kultur des Durchwinkens“ von der Grundschule über das Gymnasium bis zur Universität etabliert.“

Reformierter Stundenplan

In der SZ steht heute, 21. Dezember 2015, als Dekoration bzw. Illustration zu einem Interview mit Hans-Peter Meidinger ein reformierter Stundenplan: Er enthält die Fächer, deren Aufnahme in den Fächerkanon der Schule in den vergangenen Jahren von verschiedenen Leuten vorgeschlagen wurde. Das liest sich dann so:

Montag

  1. Ernährung
  2. Glück
  3. Programmieren
  4. Benehmen
  5. Sexualität und Partnerschaft
  6. Alltagswissen

Dienstag

  1. Selbstverteidung
  2. Schach
  3. Gesundheit
  4. Berufsorientierung
  5. Internetbildung
  6. Leben

Mittwoch

1. … und so geht das weiter, bloß für die dämlichen wissenschaftlichen Fächer wie Erdkunde, Biologie, Mathematik, Deutsch oder auch Musik und Kunst ist im Stundenplan kein Platz mehr. Das kommentierende Interview mit Herrn Meidinger vom Philologenverband ist recht vernünftig.

Unterrichtsreihe „Pfingsten“

Ich habe für lehrer-online eine Unterrichtsreihe „Pfingsten“ gemacht, für die späte Sek I und die Sek II: http://www.lehrer-online.de/pfingstfest.php?sid=84325031946398709240199509950530 – Adolf Harnacks Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 1, S. 46 f. bzw. S. 39 ff. (und öfter auf den nächsten 200 Seiten), zeigt, was der Besitz des Geistes, also der Enthusismus für die frühen Christen bedeutet hat und wie er verlorenging (https://archive.org/stream/lehrbuchderdogme01harnuoft#page/46/mode/2up).

Da es mit der Veröffentlichung drei Tage vor dem Fest  ganz schnell gehen musste, fehlen die weiterführenden Links. Die sollen zwar nachträglich eingebaut werden – für alle Fälle drucke ich aber die Liste hier ab:

Weiterführende Links

1. Pfingsten

http://de.wikipedia.org/wiki/Pfingsten (mit Beziehung des Pfingstfestes zum jüdischen Fest Schawuot)

http://www.heiligenlexikon.de/Kalender/Pfingsten.html (Bedeutung des Pfingstfestes, Brauchtum)

http://www.theology.de/kirche/kirchenjahr/pfingsten.php (Bedeutung des Pfingstfestes, ausführlich: altes Brauchtum)

http://www.n-tv.de/mediathek/bilderserien/panorama/Was-ist-Pfingsten-article3551831.html (Bilderserie mit kurzen Texten zu Apostelgeschichte 2 und zum Brauchtum)

http://www.theologe.de/pfingsten.htm (zur Bedeutung von Pfingsten – kirchenkritisch)

2. Heiliger Geist

http://www.jesus.ch/information/bibel/neutestamentliches_woerterbuch/146207-heiliger_geist.html (systematische Übersicht über die Belege in der Bibel)

https://www.teknia.com/greek-dictionary/pneuma (Konkordanz aller pneuma/Geist-Stellen des Neuen Testaments)

3. Apostelgeschichte 2

http://www.bibelwissenschaft.de/bibelkunde/neues-testament/apostelgeschichte/ (Übersicht: Inhalt und Aufbau der Apostelgeschichte)

http://www.ruhr-uni-bochum.de/imperia/md/content/nt/nt/wise2009-10/skript_ws_200910_apostelgeschichte.pdf (Kommentar zu Apostelgeschichte 2, dort S. 19 f. und vor allem S. 23-26)

http://www.die-apostelgeschichte.de/lehrveranstaltungen/vorlesung/Kapitel2.pdf (ausführlicher Kommentar, dort S. 36-70)

4. 1 Korinther 12

http://www.bibelwissenschaft.de/bibelkunde/neues-testament/paulinische-briefe/1-korinther/ (Übersicht: Inhalt und Aufbau des 1. Korintherbriefs)

5. Über die Firmung

http://www.erzbistum-muenchen.de/Page000167.aspx (katholische Einführung in Sinn und Ablauf der Firmung)

http://www.kathpedia.com/index.php?title=Gaben_des_Heiligen_Geistes (katholische Übersicht über die Theorie von den sieben Gaben des Heiligen Geistes – eine Fortführung zu 1 Kor 12)

6. Portale von Bibelübersetzungen

http://www.die-bibel.de/startseite/ (Portal der Deutschen Bibelgesellschaft, evangelisch)

http://www.bibleserver.com/index.php (Portal mehrerer Bibelgesellschaften, ökumenisch)

http://www.bibel-lesen.com (Portal einer christlichen Freikirche oder Sekte)

7. Zur Eigenart des religiösen Sprechens [zur 3. Aufgabe von Arbeitsblatt 1 – diese Vertiefung wäre in einem Leistungskurs möglich]

http://www.gym-hartberg.ac.at/schule/images/stories/Religion/themen_matura/02_Sprache_Religion.pdf (Übersicht über verschiedene Formen des Sprechens, allgemein verständlich)

http://www.fresacher.net/uploads/media/Fresacher_Gottessemantik.pdf (Übersicht über die traditionelle Theorie, allgemein verständlich)

http://www.mbph.de/Religion/ReligioeseErfahrungSprechen.pdf (modernere Theorie, anspruchsvoller)

http://web.archive.org/web/20030207072945/http://www.joyma.com/bonhoeff.htm, dort: „Briefe an einen Freund“ – der Brief vom 30. April 1944 ist der Kontext von Dietrich Bonhoeffers Satz „Gott ist mitten in unserem Leben jenseitig“.

8. Linksammlung

http://www.rpi-virtuell.net/tagpage/1DF3B944-2FF6-4EBB-BBFB-BE1AA964169C (Linksammlung eines religionspädagogischen Instituts)

Gewalt gegen sich: Selbstmord (Projekttage)

„Nach den jüngsten Daten des Statistischen Bundesamtes gab es 2009 bei Menschen unter 26 Jahren insgesamt 587 Suizide. Darunter waren 456 junge Männer und 131 junge Frauen.“ (t-online, 2013)

Ich bin 1980 am NGM mit dem Phänomen konfrontiert worden: Monate nach ihrem Abitur nahmen sich zwei meiner ehemaligen Schüler das Leben; ein Junge erhängte sich, ein Mädchen stürzte sich (vermutlich) von einer Brücke. Das war ein Schock, vor allem dass dem ersten Unglück das zweite folgte; „jetzt geht es los“, hatte man das Gefühl.

1994 standen am FMG Projekttage an, für die das große Thema „Gewalt“ vorgesehen war. Ich schlug als Unterthema „Gewalt gegen sich: Selbstmord“ vor; dieses Thema stieß auf so großes Interesse, dass drei Gruppen sich damit befassen mussten. Eine dieser Gruppen habe ich geleitet; zu ihr gehörten Mädchen und Jungen aus Kl. 10-12.

Um die Schwerpunkte unserer Arbeit festzulegen, hatte ich einen Fragebogen erstellt und von den Schülern ausfüllen lassen. Dabei ergab sich,

  • dass die Schüler vor allem am Selbstmord von Jugendlichen interessiert waren
  • dass sich fast alle schon einmal mit dem Thema auseinandergesetzt hatten
  • dass sie durchweg Leute kannten, die Suizid erwogen hatten
  • dass sie auch die Frage untersuchen wollten, ob es ein Recht auf Selbstmord gibt
  • dass sie Beratungsstellen für Suizidgefährdete kennenlernen wollten
  • dass sie kein Material zum Thema (Buch, Film) besaßen.

Gleichmäßig verteilt war das Interesse an den Gründen von Suizid und am Umgang mit gefährdeten Menschen, ebenso das Interesse, selber aktiv zu werden, wie das Interesse, sich von Fachleuten informieren zu lassen.

Am 1. Tag, dem 7. September 1994, habe ich zunächst die Ergebnisse der Umfrage vorgestellt und wir haben das weitere Vorgehen geplant. Wir haben mit einem Fall begonnen: Gedanken eines Mädchens, Lisa, am 7. Tag nach einem gescheiterten Selbstmordversuch (Wedler, Hans-L.: Gerettet? Begegnungen mit Menschen nach Selbstmordversuchen, 1979. SL 239, S. 61-65) Anschließend haben wir den Film „Wenn Kinder sterben wollen“ gesehen. Nach einer Pause haben wir den Film besprochen und die ambivalenten Gefühle des Mädchens Lisa analysiert:

  • „mich in Ruhe lassen“ – sie möchte im Mittelpunkt stehen
  • sucht Hilfe – will sich nicht helfen lassen
  • Freiheit vom Vater – Angst vor der Mutter
  • Verständnis für die Mutter – möchte der Mutter Schuld zuweisen

Die Mutter wollte Lisa an sich binden. Unsere kritische Frage lautete: „Wie sieht man sich und den anderen?“ Einerseits fühlt man die Bedeutung des anderen, anderseits kann man die Beziehung distanziert als einen Fall wie andere betrachten. Diese befreiende Einsicht verdanke ich dem außerordentlich klugen Buch Felix Schottlaenders „Die Mutter als Schicksal“. Wir haben auch Lisas Mutter zu Wort kommen lassen, um ihr Handeln zu verstehen. – Schließlich hat eine Schülerin referiert, welche Hilfsangebote für Suizidgefährdete es in Mönchengladbach damals gab; möglicherweise hat eine weitere Schülerin über Jean Améry („Hand an sich legen“, 1976) referiert.

Am 2. Tag dominierte die Betrachtung von außen. Dazu haben wir Erwin Stengel: Selbstmord und Selbstmordversuch, 1969, S. Fischer Verlag, S. 65-67 gelesen. Stengel denkt sich einen gelehrten Außerirdischen, der die Erde besucht und sich Gedanken über die Leute macht, die einen Suizid versuchen. Er kommt zum Ergebnis, dass deren Verhalten „wahrscheinlich auf eine Kombination von mindestens zwei Tendenzen zurückzuführen ist, nämlich auf den Drang zur Selbstverletzung, möglicherweise zur Selbstvernichtung, und auf das Verlangen, andere Menschen zur Äußerung von Sorge und Liebe und einem entsprechenden fürsorglichen Handeln zu bewegen.“ Diese Einsicht setzte eine Marke für unsere weiteren Überlegungen und Gespräche.

Den zweiten Teil des Tages bestritt eine Schülermutter, eine ausgebildete Sozialpädagogin, die dementsprechend praktische Fragen des Umgangs mit Gefährdeten behandelte. Davon habe ich keine Unterlagen. Ob wir auch die Gedanken von Heinrich Popitz („Phänomene der Macht“, 1992, S. 80-85) über die Drohung (mit Selbstmord) verwendet haben, kann ich meinen Unterlagen nicht mehr entnehmen; den Text hatte ich jedenfalls für alle kopiert.

Am 3. Tag haben wir vermutlich unsere Ergebnisse zusammengetragen und bewertet. Es gibt davon ein Arbeitsblatt, auf dem ich zwei Fragen kurz behandelt habe: 1. An wen kann man sich in Not wenden? 2. Wo kann man sich über das Thema informieren? Dazu habe ich einige Bücher genannt, aber auch die Signaturen Gcr und Vet aus der Stadtbibliothek und den Schlagwortkatalog, den es damals in Rheydt gab. Einem Zeitungsbericht vom 10. September 1994 entnehme ich, dass auch eine Reporterin der RP am letzten Tag bei uns war und sich über unsere Arbeit informiert hat.

Damit endet mein Bericht von den Projekttagen 1994; der Bruder einer Teilnehmerin, ein Schüler von mir, hat sich als junger Mann später das Leben genommen – zwei seiner großartigen Bilder hängen in unserem Haus, eines davon in meinem Arbeitszimmer. Ich halte meine unbedarfte Art, „Projekttage“ zu organisieren, nicht für vorbildlich; ich möchte nur Kollegen auf ein wichtiges Thema hinweisen, das im normalen Schulalltag keine Beachtung findet.

(Für Michael, Stefanie und Boris)

Zentrale Prüfungen – Lehrerverbände gegen „Testeritis“

Derzeit läuft in NRW das Zentralabitur; morgen beginnen die zentralen Prüfungen in Kl. 10 (ZP 10). Dazu passt eine Meldung, dass die Lehrergewerkschaften „gegen zu viele Tests und Leistungsvergleiche an den Schulen“ protestieren (hier):

Die GEW-Vorsitzende Marlis Tepe sprach von «reiner Datenhuberei». In keinem Bundesland hätten bisher die mit dem Test an einzelnen Schulen in sozialen Brennpunkten zu Tage getretenen Lernprobleme zu mehr Lehrereinstellungen oder zu mehr Weiterbildung der Pädagogen geführt. Auch seien die VerA-Effekte in Sachen Qualitätsverbesserung «nie von unabhängigen Forschern evaluiert worden». Laut einer Studie der GEW sähen 70 Prozent der Lehrer keinen Nutzen in den kosten- und zeitaufwendigen VerA-Tests. (…)

Der VBE-Chef Udo Beckmann kritisierte: «VerA engt den Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schulen unzulässig ein und verdeckt die schulischen Bedingungen vor Ort.» Es sei «ein Segeln unter falscher Flagge, aus den flächendeckenden Tests den Lehrern Impulse für ihr künftiges Unterrichten zu versprechen». Kein VerA-Test habe bisher zu mehr Möglichkeiten individueller Förderung für Schüler geführt. Stattdessen bedeute VerA für die Lehrer zusätzlichen Zeitaufwand, der besser für die Schul- und Unterrichtsentwicklung eingesetzt werden könnte.

Eine andere Folge, die man beim Zentralabitur bemerken kann, ist die Tatsache, dass pointiert auf die Prüfung hin unterrichtet und für die Prüfung gelernt wird – danach kann man beruhigt alles „abhaken“. Ich habe das einmal bei einem Schüler erlebt, dem ich Nachhilfe gegeben habe. Es ging um die Neue Sachlichkeit (ca. 1930), für eine Lektüre des entsprechenden Wikipedia-Artikels hatte er keine Zeit; „ich brauche fünf Schlagworte, die ich immer reinhauen kann“. Ergebnis der Klausur: befriedigend.

Es gibt allerdings Schulen, muss man fairerweise sagen, die aufgrund der Ergebnisse der Lernstandserhebungen in Kl. 8 und der ZP 10 überlegen, ob das Curriculum optimal umgesetzt wird. Ob sich dann viel im Unterricht ändert, ist wieder eine andere Frage – dass zentrale Prüfungen jedoch zu individueller Förderung führen, ist ein bildungspolitisches Hirngespinst, eine der frommen Lügen der Kultusminister. Und natürlich muss man sehen, dass aufgrund der zentralen Prüfungen bei den nicht beteiligten Schülern Unterricht ausfällt, wogegen die betroffenen Lehrer teilweise erheblich belastet werden. (Aber die übergeordneten Schulbehörden und die Kultusministerien sind geil nach statistischen Daten – u.a. Noten von Prüfungen – die sie dann ablagern, ohne irgendwelche Konsequenzen daraus zu ziehen; nur die Schüler-Lehrer-Relation wird in NRW immer schlechter; aber das würde sie auch ohne zentrale Prüfungen.)

Dass die Schüler durch zentrale Prüfungen dagegen unter Leistungsdruck gesetzt würden, halte ich für eine von den Verbänden erfundene Mär, mit der man den Unmut über Mehrarbeit schön kaschieren kann. Leistungsdruck entsteht durch Leistungserwartungen der Eltern, nicht durch die zugehörigen Prüfungen; Leistungsdruck ist per se auch nichts Schlechtes – schlecht ist ein zu großer Leistungsdruck, wobei dann im Einzelfall zu prüfen bleibt, wann er zu groß ist und warum er zu groß ist. Aber wer ist imstande und hat Lust, das zu prüfen?