Erziehung und Lebenskunst

Als einen Kommentar zur letzten Strophe von Goethes Gedicht „Dauer im Wechsel“ („Danke, dass die Gunst der Musen…“) lese ich eine Bemerkung der Malwida von Meysenbug in ihren „Memoiren einer Idealistin“, Bd. 2, S. 145 (https://archive.org/details/memoireneineride00meysuoft/page/n601): „Wir sprachen über die Kunst des Lebens überhaupt und wie wenige, selbst unter den Guten, es verstehen, das Leben vor Zersplitterung, vor Aufgehen in dem ‚Verfänglichen des irdischen Geschwätzes‘ zu hüten und die flüchtige Zeit zu retten für das, was ‚allein Not tut‘ im höchsten ethischen Sinn.“ Sie kam mit dem Arzt Löwe, den man als Lebenskünstler gerühmt hatte, „überein, dass die höchste Aufgabe der Erziehung sein sollte, diese Kunst des Lebens auszubilden, damit das ganze Dasein nur ein fortwährendes Enthüllen und Ausarbeiten einer erhabenen Idee in uns würde, mit der wir uns selbst zum höchsten Kunstwerk umgestalten und das Leben von den Fesseln des ‚Nichts in ewiger Bewegung‘ erlösen könnten“.

Winterhoff: Wie geht richtige Erziehung?

Problem: Heute haben Eltern und auch Großeltern oft Angst vor Konflikten. Sie denken, dass sie nicht mehr geliebt werden, wenn sie mal Nein zum Kind sagen.

Folge: Das Kind entwickelt sich zu einem lust- orientierten Egoisten, dem es schwer fällt, wenn sich nicht alles nach ihm richtet. Als Erwachsene scheitern sie dann am Chef oder sind unfähig, eine Partnerschaft aufrecht zu erhalten, weil sie keine Kompromisse gewöhnt sind.

Lösung: Ein Kind darf nicht alles bekommen. Es braucht Grenzen, z.B.: „Heute darfst du nicht fernsehen.“ Diese Lenkung gibt den Kindern Schutz und stärkt die Bindung.

(Aus: Bild-Ratgeber, http://www.bild.de/ratgeber/kind-familie/kindererziehung/diese-fehler-duerfen-sie-nicht-machen-32556798.bild.html, s.u.) Die Sicht Michael Winterhoffs, des Ratgebers, eines Bonner Kinderpsychiaters, findet man in folgenden Beiträgen:

http://www.spiegel.de/spiegel/a-616055.html (Spiegel-Gespräch mitW. Bergmann und M. Winterhoff, 2009)

http://www.bild.de/ratgeber/kind-familie/kindererziehung/diese-fehler-duerfen-sie-nicht-machen-32556798.bild.html (Tipps von M. Winterhoff, BILD 2013)

Auf youtube findet man ebenfalls M. Winterhoff:

https://www.youtube.com/watch?v=qxUUNV8lTYI

https://www.youtube.com/watch?v=XOhPq2A-OIM

https://www.youtube.com/watch?v=1DdLVPqYAmI (mit anderen)

https://www.youtube.com/watch?v=XaR51RlFzOQ

https://www.youtube.com/watch?v=DYMtfwi2hRs („Nachtcafé“, u.a. mit M. Winterhoff) sowie viele kleine Beiträge; er hat mehrere Bücher über Kinder(erziehung) geschrieben.

Zwei Nachträge aus der Antike:

  1. Man fragte den [spartanischen König] Argesilaos, was man die Kinder lernen lassen solle. „Was sie“, gab der zurück, „auch als Männer brauchen können.“
  2. Der Philosoph Aristipp ließ einmal den Leuten in seiner Heimat ausrichten, „sie sollen ihren Kindern solchen Besitz auf ihren Lebensweg mitgeben, daß er sich auch aus einem Schiffbruch retten läßt. Denn das erst bietet den Menschen Sicherheit, dem weder die Stürme des Schicksals noch politische Umwälzungen noch Krieg und Verwüstung etwas anhaben können.“

Worauf es bei der Erziehung ankommt

Worauf es bei der Erziehung ankommt, kann man in einem Interview in der WELT vom 24. Januar 2017 lesen:

Die Welt: Ihr Bestseller „Die Chancen unserer Kinder“ (2013) sagt, wo Bildung ansetzen muss, damit alle Kinder ihr Potenzial ausschöpfen. Der deutsche Untertitel lautet „Warum Charakter wichtiger ist als Intelligenz“. Wieso?

Paul Tough: Lange glaubte man, dass man, quasi vom Embryo an, die kognitiven Fähigkeiten trainieren müsse; dass der IQ den Lebenserfolg ausmache und frühe intellektuelle Stimulation ein Schlüsselfaktor sei. Und man fokussierte auf Kompetenzen wie Rechnen, Lesen, Schreiben. Doch es zeigt sich, dass ein hoher IQ kein Erfolgsgarant ist und es Wichtigeres gibt: die nicht kognitiven Fähigkeiten, die einen stabilen Kompetenzerwerb überhaupt erst ermöglichen. Um in Schule und Leben Erfolg zu haben, braucht es vor allem Mumm und Ausdauer, Neugier und jene starke Motivation, die einen dranbleiben lässt, wenn es schwierig wird; Fleiß und die Bereitschaft zum Belohnungsaufschub. Es braucht Resilienz: Kraft und Selbstvertrauen, um nach einem Rückschlag wieder aufzustehen.

[…]

Die Welt: Und wenn das Umfeld fehlt?

Tough: Rund die Hälfte aller Schulkinder in den USA sind so arm, dass sie das Recht auf eine subventionierte Schulmahlzeit haben. Arme Kinder erleben daheim und im Umfeld häufig chronischen Stress. Dadurch wird die Ausbildung einer resilienten Psyche erschwert. Neurowissenschaftler sprechen von „toxischem Stress“: Er versetzt Menschen in einen permanenten Alarmzustand, den sie nicht reflektieren können; das Gehirn kann durch den ständigen Beschuss mit Stresshormonen geschädigt werden, seine Aufnahmefähigkeit kann leiden. Die Menschen reagieren dann irrational, fluchtbereit, aggressiv – was in der Schule zu noch mehr Stress führt. Ein Teufelskreis.

Die Welt: Sie stellten aber ähnliche Defizite bei Kindern reicher Eltern fest.

Tough: Die „nährende“ Beziehung zu einem Erwachsenen – vorzugsweise den Eltern – fehlt oft im armen wie im sehr reichen Umfeld. Dass sie essenziell ist, beweist die neue Resilienz- und Bindungsforschung. Allerdings setzt der Mangel bei reicheren Kindern bisweilen erst im Teenageralter ein: Die Eltern sind beruflich eingespannt, und auf dem Kind lastet ein immenser Erwartungsdruck, mit dem es alleingelassen wird. Man findet also an beiden Enden der Gesellschaft nicht selten eine zu geringe mütterliche Bindung, eine überkritische Haltung der Eltern, deren emotionale wie auch physische Absenz und zu wenig Betreuung nach der Schule. […]

https://www.welt.de/wissenschaft/article161436876/Ein-hoher-IQ-ist-kein-Erfolgsgarant.html

Schule: kindgemäß oder infantil?

„Kindern muss man vor allem eines beibringen: Grenzen. Erst sie gewährleisten, über den Schutz nach außen, eine intakte Persönlichkeit. Diese Erziehung wird von einer immer indiskreter werdenden Öffentlichkeit rückgängig gemacht.

Unter ‚infantil’ wird jeder etwas anderes verstehen; einigen aber kann man sich vielleicht auf Zuschreibungen, die sich im Umkehrschluss aus denen ergeben, die Neil Postman vor dreißig Jahren für erwachsenes Verhalten vorgenommen hat: die ‚Fähigkeit zur Selbstbeherrschung und zum Aufschub unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung, ein differenziertes Vermögen, begrifflich und logisch zu denken, ein besonderes Interesse sowohl für die historische Kontinuität als auch für die Zukunft, die Wertschätzung von Vernunft und gesellschaftlicher Gliederung.’“ (Auszug aus Edo Reents: Aus Kindern werden Leute. Die infantile Gesellschaft, FAZ 03.11.2012 = http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/die-infantile-gesellschaft-aus-leuten-werden-kinder-11947625.html)

Am besten liest man den ganzen Artikel von Edo Reents. Aber es ist schon ein guter Anfang, wenn man über die zitierten Sätze nachdenkt: Was heißt das für den Erziehungsstil, den wir als Lehrer in der Schule pflegen sollten? Müssen wir wirklich jedes Kind fortwährend trinken und zum Klo rennen lassen (und das vielleicht sogar selber vormachen)? Müssen wir jede Verspätung als selbstverständlich hinnehmen, jede dumme Ausrede gelten lassen? Können wir vernünftigen Widerspruch und quer gedachte Fragen zulassen? Und ist uns selber klar: Ich bin für etwas verantwortlich, ich bin der Chef (und weder Mama noch Freundin noch große Schwester der Kinder)?

Möglichkeiten und Grenzen der Schule

Kinder, Jugendliche, deren Eltern und vor allem Lehrpersonen befinden sich in der Schule in einem grundlegenden, nicht aufhebbaren und sich zuspitzenden Widerspruch zwischen der Qualifikations- und Selektionsfunktion einerseits und der Sozialisations- und Integrationsfunktion andererseits. Die Qualifikation wird aufgrund des weltweiten Wettbewerbs immer anspruchsvoller, die Selektion schneidet wegen des Wegfalls von Arbeitsplätzen immer mehr ein. Für die Sozialisation ist die Schule in der individualisierten Moderne zur wichtigsten Instanz geworden und gegenüber der zunehmenden Differenzierungen von Lebensläufen und der anwachsenden Migration hat Schule eine entscheidende Integrationsaufgabe.

Es gibt keinen Ausweg aus diesem Widerspruch, keine vertretbare Entscheidung zugunsten einer Seite, die Schule muss sich all diesen Aufgaben stellen. Es gibt auch keine Möglichkeit, die Problematik auszulagern oder zu delegieren, wie es viele Lehrpersonen tun möchten, indem sie die Eltern in ihre „Pflicht“ nehmen wollen, um sich wieder vermehrt dem „Kerngeschäft“ widmen zu können. Auch die Lösung der homogenen Leistungsklassen erweist sich als suboptimal, weil so die guten Lerner kaum viel besser werden, die schlechten aber noch schlechter. Deshalb ist ein gemeinsamer Unterricht mit heterogener Zusammensetzung anzustreben, in dem eine Pädagogik der Vielfalt praktiziert wird.

Diese Absichten entsprechen fast einer „mission impossible“, und deshalb ist es für eine realistische Praxis unverzichtbar, die Grenzen zu kennen und sich in ihnen zu bescheiden.

Die Konkurrenz in Wirtschaft und Gesellschaft, die sich insbesondere durch den Wettbewerb um Arbeitsplätze bei den einzelnen Individuen als Angst, Verunsicherung und Hoffnungslosigkeit einnistet und sich bis auf die kleinen Schulkinder auswirkt, können wir nicht ändern. Wir sollten diese Realität aber auch nicht ausblenden oder wegschwatzen, sondern ihr ins Auge schauen und sie laut und deutlich als das benennen, was sie ist.

Die wachsende gesellschaftliche Differenzierung und die Öffnung der Schere zwischen Reich und Arm sorgt gesellschaftlich und auch auf Schulebene für Zündstoff. Wir können daran als Pädagogen nichts ändern, sollten aber versuchen, dass wir die Kluft zwischen den erfolgreichen, privilegierten und den erfolglosen, unterprivilegierten Schülern nicht noch vergrössern.

Die Risiken der Risikogesellschaft nehmen zu, das gravierendste Risiko ist die ökologische Gefährdung, die aber individuell kaum spürbar ist. Daneben gibt es die direkteren Bedrohungen der Gesundheit, wie Aids, Sucht, Fettleibigkeit, denen gegenüber man noch keine befriedigende Strategie gefunden hat. Die Schule solle hier tätig werden, verlangen Politiker und Medien. Erziehung zu ökologischem Verhalten, Aids- und Suchtprävention, Gesunde Schulen und viele andere Spezialprogramme sollen die Rettung bringen, beziehungsweise die Schäden in Grenzen halten. Auch hier ist Zurückhaltung angesagt. Beispiel: Man kann nicht von der Schule verlangen, sie müsse die Jugendlichen zum Umstieg auf den öffentlichen Verkehr oder auf das Fahrrad überzeugen, während die Politik es nicht schafft, einen angemessenen Benzinpreiszuschlag zur Verhütung der Klimakatastrophe zu verlangen. Ein anderes Beispiel: Im Radio wird über die Verschuldungsfalle durch Kleinkredite diskutiert. Die Fälle nehmen zu, in denen Leute ihre „neue Armut“ mittels Kleinkrediten bewältigen wollen. Es bestehe ein Verbot, Jugendlichen unter 18 Jahren solche Kredite zu gewähren. Als Lösung schlägt der Bankenvertreter vor, diese Gefahr der Schuldenfalle müsse in der Schule thematisiert werden, nur so sei es möglich, die Leute vor Verschuldung zu bewahren. Statt rigoroser gesetzlicher Bestimmungen für das Kleinkreditgeschäft – wohlverstanden!

Ich will nicht einem Fatalismus das Wort reden, die Schule muss Verantwortung wahrnehmen, wo, realistisch eingeschätzt, ein kleiner Beitrag geleistet werden kann; beispielsweise ist es entscheidend, dass jedes Mädchen und jeder Junge einmal geübt hat, ein Kondom über eine Banane zu stülpen. Aber wir dürfen uns keine Illusionen machen und in Verzweiflung fallen, wenn es dann halt doch nichts nützt, und wir müssen Prioritäten setzen, denn alles, was getan werden müsste, kann nicht an die Schule delegiert werden.

Schliesslich muss die Schule akzeptieren, dass sie gegen die (un-)heimlichen Erzieher kaum eine Chance hat. Kommerz, Fernsehen, Computer- und Videospiele, werden das Leben der Kinder und Jugendlichen in Zukunft noch mehr bestimmen. Schule kann sich vielleicht einen Freiraum schaffen, in dem das Lernen und der Umgang miteinander nicht von diesen „Erziehern“ bestimmt werden, und in diesem Sinne plädiere ich auch für einen gezielten und sparsamen Gebrauch von DVD und Computer im Unterricht.

Diese skeptische Beurteilung der Wirkungsmöglichkeit von Schule ist mir wichtig, denn Lehrpersonen neigen zum Idealismus. Sie empören sich über die Ungerechtigkeiten, nehmen die Gefahren für Mensch und Umwelt sehr Ernst, sie wollen die Welt verbessern, indem sie den Kindern helfen, gute Menschen zu werden. Diese Haltung ist vornehm und soll hier in keiner Weise lächerlich gemacht werden. Ist sie aber nicht durch einen kritischen Realismus untermauert, läuft sie Gefahr, in Enttäuschung und Frustration zu enden. Vor allem dann, wenn Kinder und Jugendliche, von den Weltverbesserungsideen nichts wissen wollen, ist das für Lehrpersonen im höchsten Masse kränkend. Wenn sie dann als Reaktion darauf den Problemen und vor allem den Schülern gegenüber zynisch werden, mag man das noch halbwegs verstehen, akzeptieren darf man es jedoch nicht. Denn nichts verkehrt die Ziele von Pädagogik so ins Gegenteil wie Zynismus und Menschenverachtung. Grenzen aufzuzeigen und zu akzeptieren ist deshalb nicht kleinmütig, sondern verantwortungsvoll und unverzichtbar.

Dies ist ein Ausschnitt aus Teil 9 der Abhandlung „Autonomie zwischen Behausung und Abenteuer. Die Lebensaufgabe von Kindern und Rahmenbedingungen für die Schule“ von Ruedi Rüegsegger (2005, http://www.realbrugg.ch/ruegsegger/text.html). Der folgende Teil 10 zieht daraus die Konsequenzen: Schule als institutionelle Gemeinschaft. Besonders dieser Teil 10, aber auch die ganze Abhandlung ist lesenwert.