Maik Riecken schreibt in seinem Blog (http://riecken.de/index.php/2009/07/unterricht-ist-eine-illusion):
„1. Es ist eine Illusion zu glauben, dass SuS einer Lerngruppe zur gleichen Zeit das Gleiche lernen wollen. Deswegen sind Dinge wie Motivation und Disziplinierung überhaupt erst erforderlich. Motivation kann ich durch Methoden, intressante Impulse u.a. generieren, Disziplin hauptsächlich durch Authentizität und Autorität (das will ich dringend von ‚autoritär’ unterschieden wissen).
2. Es ist eine Illusion zu glauben, dass Unterricht frei ist. Der Lehrende gibt bedingt durch z.B. curriculare Vorgaben Inhalte für die Stunde vor und er verfolgt ein Ziel mit einer Unterrichtsstunde …“
Was Maik Riecken hier schreibt, ergibt sich aus der Einsicht, dass die Schule eine Institution ist; wer sich darüber Illusionen macht [oder vielleicht als Referendar so reden muss, als sei es anders], ist ein naives Menschenkind. Was dann an Maik Rieckens Vorgehen naiv ist: Er versucht nicht, die allgemeine Problematik des Arbeitens und Lebens in Institutionen zu begreifen und die „Lösung“ der Probleme dort zu suchen, wo sie zu finden sind: in der Soziologie und in einem soziologisch aufgeklärten Denken.
Es handelt sich also nicht nur um das Problem der Schüler, sondern auch um das des Pastors in einer Gemeinde, des Lehrers in einer Schule, des Arztes in einem Krankenhaus – übrigens auch um das Problem des Pflegers oder der Schwester, der Putzfrau oder des Parkwächters. Sie alle sind „angestellt“, auf einen bestimmten Posten (Aufgabenbereich) gestellt, den sie sich mehr oder weniger selbst ausgesucht haben, kriegen für ihre Arbeit Geld und sollen nun mit Herz und Verstand bei der Sache sein – wenn es auch anders geht, wenn sie ihre Zeit vertun und gelegentlich krankfeiern können …
Es ist übrigens auch das Problem des Christen in einer Kirche und des „Gatten“ in einer Ehe: Man wird als Kleinkind in die Kirche hineingetauft, und dann erwarten manche Bischöfe auf einmal feurigen Glaubenseifer; man hat vor zwanzig Jahren geheiratet, und dann erwartet die Gattin feurige Blicke und Küsse eines frisch Verliebten. Man geht zu einer Bank und erwartet vom Berater, dass ihm an unserem finanziellen Wohlergehen etwas liegt …
Auch die Schule ist eine Institution: Die Schulpflicht wurde gegen die Interessen vieler Eltern durchgesetzt, die ihre Kinder lieber als billige Arbeitskräfte auf dem Hof behalten hätten. Und viele Lehrer wurden Lehrer, weil das ein sicherer Job vermeintlich mit Halbtagsarbeit und sicher mit Pensionsberechtigung ist, aber oft genug nicht, weil sie vom pädagogischen Feuer beseelt gewesen wären. Heute gehen halt die meisten Schüler in die Schule, weil sie irgendeinen Abschlussschein erwerben wollen oder sollen, aber nicht weil sie händeringend jemand suchen, der ihnen hilft, die Probleme unserer Welt oder ihres Lebens zu lösen. Und die Leute, die in die Schulleitung befördert werden – na, davon will ich jetzt nichts sagen.
Dieses Problem, dass wir in Institutionen leben, kann man nicht in dem Sinn lösen, dass der Gewohnheitsaspekt, also das Alltägliche des Gewohnten beseitigt wird; man kann es also nicht generell ohne Beteiligung der Betroffenen durch irgendeine ‚Methode‘ lösen. Bei Arzt, Lehrer und Priester hat man das früher zwar über „Gott“ und die Berufung = „Beruf“ zu lösen versucht, während die anderen Menschen vielleicht einen Job ausübten (hieß natürlich nicht so); aber seit das mit dem GOTT nicht mehr so recht klappt, muss man selbst für Ärzte und Pfarrer davon ausgehen, dass auch sie in Institutionen arbeiten und oft [auch] andere Interessen als das Wohl der ihnen „Anvertrauten“ primär verfolgen.
Für die Schule heißt das, dass jede Spekulation auf die erlösende Wirkung etwa der neuen Medien oder tief aufwühlenden „Motivation“ oder von sonst noch was in die Irre führt; dieser ganze Zauber kann niemanden darüber hinweg täuschen, dass er nach wie vor in einer Institution arbeitet. Was man jedoch unter günstigen Bedingungen tun kann: Man kann sich die institutionell vorgegebenen Aufgaben aneignen, sie zu seinen eigenen machen. Ich meine, das sei mir weithin gelungen: Ich bin gern in die Schule gegangen und habe schweren Herzens erlebt, dass ich pensioniert wurde. Und als ich mich von „meiner“ 6a im Sommer 2007 verabschiedet habe, habe ich geweint; ein Teil meines Herzens ist bei den Kindern geblieben – es war die Klasse, in der ich das Lied vom „Durchlauferhitzer“ eingeübt hatte: „Durchlauferhitzer, du bist ein Durchlauferhitzer …“ (nach: Guanta na mera).
Ich frage mich selber: Warum bin ich als Lehrer gern in die Schule gegangen und habe dort mehr getan, als ich musste (= mehr als viele andere Kollegen)? Warum war ich nicht dauernd „krank“? Ich bin gern in die Schule gegangen,
weil ich etwas leisten wollte [und konnte, denke ich],
weil ich oft viele Freiräume hatte,
weil ich von manchen Schülern und Eltern die Rückmeldung bekam, dass sie meine Arbeit schätzten,
weil ich viele Schüler (und Schülerinnen) sehr gemocht habe,
weil einige (mehr waren es wirklich nicht) Kollegen zu Zusammenarbeit und Hilfe bereit waren,
weil ein Chef mir seine Anerkennung aussprach …
und natürlich auch, weil ich dachte, dass es meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit ist, die Schüler so auszubilden, dass sie demnächst weiterkommen.
Habe ich meine Schüler damit erreicht? Viele habe ich sicher nicht erreicht – es ist das gute Recht eines jeden Schülers, in der Institution das instutionell Erforderliche zu leisten, nicht mehr (aber auch nicht weniger – auch der Steuerzahler hat ein Recht auf Leistungen der von ihm Alimentierten!).
Vor ein paar Monaten habe ich ein Mail von einem ehemaligen Schüler bekommen, der sich mir dafür bedankte, wie streng (exakt) wir in der Sek II gearbeitet haben, und davon sprach, dass gelegentlich die Schüler an meinen Lippen gehangen hätten – dann, wenn ich über den Rahmen des Unterrichts hinausging und etwas aus dem wahren Leben (aus meinem wahren Leben) erzählte. Verallgemeinert: Man erreicht die Herzen der Schüler vielleicht, wenn man selber sein Herz etwas öffnet [das kann man aber nicht in jedem Kurs: wenn man die falschen Eltern im Hintergrund weiß!].
Von einem anderen Schüler und von meiner jüngeren Tochter weiß ich: Sie wussten zu schätzen, wenn ein Lehrer von seiner Sache, von seinem Fach begeistert war. Nicht durch methodische Mätzchen (die muss man auch kennen!), sondern durch Begeisterung wird Geist angesprochen – kann man sich darüber wundern?
Was jedoch die Sicht auf die Schule angeht: Nach welchen Gesetzen Institutionen funktionieren, das verrät uns nicht die Pädagogik, sondern die Soziologie. Seit vierzig Jahren gibt es bereits Peter L. Berger: Einladung zur Soziologie, ein brillantes Büchlein, das für mich eine Erleuchtung war. Ich kann jedem nur empfehlen: Lies es, du siehst die Welt dann ganz anders – und du siehst auch, dass du das eigentlich weißt, was du jetzt explizit verstehst.
In der Institution zählt nicht der Einzelne, sondern die Funktionsstelle. In der Institution Schule wollen die Kinder nicht „mich“ ärgern, sondern sind vom Lehrer vorn gelangweilt – auch deshalb, weil sie nicht nur dreißig von Gott geschaffene Seelen sind, sondern zugleich dreißig pubertierende Körper, die von Hormonen überschwemmt werden. Wer das nicht begreift, hat als Lehrer ein schweres Leben vor sich.
Aber nicht durch Disziplinarmaßnahmen löst man die Probleme der Institution, wenn auch klare Regeln für alle von Vorteil sind. Freiheit der Schüler jedoch „generiert“ man nicht durch freie „Wahl“ der Themen – nach drei Tagen weiß sowieso keiner mehr außer dem Lehrer, was die Klasse gewählt hat. Man generiert sie auch nicht durch Methoden, selbst nicht durch LdL: Schüler merken sofort, was für Spiele gespielt werden und wohin der Hase läuft. Freiheit der Schüler entzündet sich vielleicht an der Freiheit des Lehrers, wenn man Glück hat – vielleicht.
Ansonsten ist und bleibt die Schule natürlich ein Vor-Spiel, kann nie der Ernstfall sein; wir müssen jedoch so arbeiten, dass die Schüler möglichst optimal auf den Ernstfall vorbereitet sind. Was das wiederum bedeutet, ist eine andere Frage.