Produktives Schreiben: eine neue Perspektive einnehmen

Gehen wir von einem Beispiel aus meiner Praxis aus, der Lektüre des Jugendbuchs „Meine Spur löscht der Fluß“ (1978) von Othmar Franz Lang. Das haben wir in einer 8. Klasse des Gymnasiums gelesen: Ein junger Indianer ist der letzte Überlebende seines Stammes, er wird halbverhungert gefunden und aufgepäppelt. Im Roman wird erzählt, wie er die fremde Welt der Weißen erlebt: ihr Essen, ihre Hygiene, ihre Eisenbahn usw. – das alles erlebt und beschreibt er in den Kategorien seines indianischen Lebens. Damit macht er es dem Leser möglich, seine eigene westliche Kultur als fremd oder als nicht selbstverständlich und gottgegeben zu sehen, weil der Indianerjunge ein sympathischer Kerl ist, mit dem man mitfühlt. Die Aufgabenstellung einer Klassenarbeit vom 16.10.1987 lautete so:

Die Schüler sollen in Anlehnung an O. F. Lang, Meine Spur löscht der Fluß, Eigentümlichkeiten der Industriekultur aus der Perspektive des Indianers Ishi darstellen können.

Du hast die Wahl zwischen folgenden Themen:

– Wie ich zum ersten Mal in einer Schule beim Unterricht war.

– Wie ich beim Friseur war.

– Wie am Museum eine neue Straße gebaut wurde.

Die Themen stammen also aus Feldern, die die Schüler aus eigener Erfahrung kennen; die Aufgabenstellung war natürlich an mehreren Beispielen (Ishi im Schwimmbad usw.) eingeübt worden. – Leider gibt es das bewegende Buch nur noch antiquarisch zu kaufen. Die Fragestellung „Wie sieht unsere Lebensweise in fremder Perspektive oder mit fremder Brille betrachtet aus?“ ist heute aber aktueller denn je; viele Migranten erleben in Deutschland täglich eine Welt, die ihnen in mancherlei Hinsicht fremd und oft unverständlich ist und in die man sich hineinversetzen muss, um ihnen und ihren Problemen gerecht zu werden. Wie man das praktisch im Unterricht umsetzt, überlasse ich gern den jungen Kollegen

Ich nenne noch ein paar Beispiele aus der großen Literatur, wo in der Regel Fremde nach Europa kommen oder ein Europäer in die Fremde reist (Besprechung der Titel in meinem Blog norberto42:

Voltaire: Amabeds Briefe

Voltaire: Das Naturkind

U. Eco: Industrie und sexuelle Repression in einer norditalienischen Gesellschaft (in: Platon im Striptease-Lokal)

Stefan Themerson: Prof. Mmaa’s Vorlesung (dort auch Verweis auf Weckhrlin, Andersen u.a.), wo sogar die Termitensicht auf den Menschen präsentiert wird.

Ich habe den Perspektivenwechsel aber auch benutzt, um schnöde den Gebrauch des Konjunktivs II einzuüben (Kl. 7: Variationen zu „Wär ich ein Baum“ von Erich Kästner, s.)

https://norberto68.wordpress.com/2011/02/21/phantasie-war-ich-ein-baum-kastner/

https://norberto68.wordpress.com/2019/10/14/produktiv-schreiben-in-der-sek-i-erprobte-beispiele/

Zur Theorie des Fremdverstehens siehe diese Artikel aus dem Hogrefe:

Fremdverstehen

[engl. understanding of others], [FSE, SOZ], das Konzept des Fremdverstehens hat maßgeblich Alfred Schütz (1974) in seiner theoretischen Betrachtung von Verstehensprozessen innerhalb alltäglicher Kommunikationssituationen herausgearbeitet (Kommunikation): Innerhalb dieser nimmt ein Kommunikant (ego) stets eine Deutung dessen vor, was ihm von einem anderen Kommunikanten (alter) mitgeteilt wird. Jeder der beiden Kommunikanten kommuniziert dabei auf der Basis des eigenen Wissenshintergrundes (Relevanzsystems), das semantisch-indexikal angelegt ist (Indexikalität): Die zu verstehende Mitteilung, die der eine Gesprächsbeteiligte kommuniziert, kann der andere Gesprächsbeteiligte nur verstehen, indem sie an das eigene Relevanzsystem adaptiert wird. Verstehen ist kognitionspsychol. betrachtet also die Übersetzung des zu Verstehenden in das eigene, semantisch-indexikale Relevanzsystem. Verstehen stellt damit immer das Verstehen von Fremdem dar, denn alles, was außerhalb unseres eigenen Relevanzsystems existiert, ist uns grundsätzlich fremd. Genau diese Tatsache wird jedoch in alltäglichen Kommunikationsprozessen bewusst ausgeblendet: Wie Alfred Schütz (1974) betont hat, wird nur mit der Reziprozität der Perspektiven, welche zwei idealisierende Unterstellungen umfasst, nämlich die Idealisierung der Vertauschbarkeit der Standpunkte und die Idealisierung der Kongruenz der Relevanzsysteme, Kommunikation praktisch möglich. Alfred Schütz hat in diesem Zusammenhang pointiert, dass Fremdverstehen somit stets eine Selbstauslegung bleibt, da wir eben nur mit unserem Relevanzsystem verstehen können. Verstehen ist damit immer nur als eine relative Annäherung an das Fremdzuverstehende aufgrund von Idealisierungen sowie Annahmen in Hinblick auf eine sozial geteilte Welt und von praktischen Aushandlungen sowie akzeptierten kommunikativen Basisregeln möglich. https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/fremdverstehen

Perspektivität, Perspektivismus

[engl. perspective, point of view; lat. perspicere hindurchschauen, deutlich sehen],[HIS, PHI],bez. die Abhängigkeit der Wahrnehmungen und der Urteile von der Position des wahrnehmenden bzw. urteilenden Individuums. Als Begriffe der Erkenntnistheorie gehen Perspektive, Standpunkt und Horizont auf Leibniz zurück. Er erläutert den Gedanken der Perspektive an einem Bsp., «wie eine und dieselbe Stadt, von versch. Seiten betrachtet, jew. ganz anders erscheint». Gustav Theodor Fechners Bsp. ist ein Kreis: «Wenn Jemand innerhalb eines Kreises steht, so liegt dessen konvexe Seite für ihn ganz verborgen; wenn er außerhalb steht, umgekehrt die konkave Seite unter der konvexen Decke. Beide Seiten gehören ebenso untrennbar zus., als die geistige und leibliche Seite des Menschen und diese lassen sich vergleichsweise auch als innere und äußere Seite fassen … Aber der Kreis ist nur ein Bild und es gilt die Frage nach der Sache.»

Im Unterschied zu Spinozas Zwei-Attribute-Lehre (Doppel-Aspekt-Lehre), nach welcher Geist und Materie zwei Seiten ein- und derselben Sache sind (una eademque res) postulierte Leibniz außerdem, dass psych. Vorgänge aus den Motiven und Zwecksetzungen, die körperlichen Vorgänge nach dem Kausalprinzip zu erklären sind. Diese Idee wurde als psychophysischer Parallelismus von Wundt genauer ausgeführt, wobei er keine metaphysische Lehre i. S. zweier Substanzen, Seele und Materie, meint, sondern zwei sich wechselseitig ergänzende Betrachtungsweisen einer lebendigen Einheit nach grundversch. Kategorien (Kategorienlehre) und Methoden.

Perspektive bedeutet, ein Objekt, eine Person, eine Idee von einem best. Standpunkt aus zu betrachten, und der Begriff impliziert, dass auch eine andere oder mehrere Perspektiven möglich sind. Der Begriff wird in der Ps. nicht nur hinsichtlich der visuellen Wahrnehmung (Perspektive) verwendet, sondern in der Persönlichkeits- und Sozialpsychologie, in der Kulturpsychologie, in Piagets genetischer Erkenntnistheorie (Entwicklung, Stufentheorie nach Piaget). Am häufigsten zu finden ist die Perspektive von Innen und Außen, von Erleben und Verhalten (das traditionelle Subjekt-Objekt-Problem, Perspektive der Ersten Person und der Dritten Person in der Theory of Mind). Ausdrücke wie Perspektive und Horizont sind charakteristisch für die von Husserl und Merleau-Ponty entworfene Phänomenologie (s. auch Graumann, 1960).

Perspektivität/Perspektivismus ist die erkenntnistheoret. Grundhaltung und die phil. Überzeugung, dass eine fundamentale Abhängigkeit der Erkenntnis von dem Standpunkt (Bezugssystem) und den Eigenschaften des betrachtenden Individuums besteht. Der perspektivistische Objektivismus setzt eine obj. Wirklichkeit voraus, die aufgrund der unterschiedlichen Standpunkte und Eigenschaften der Betrachter unterschiedlich aufgefasst wird, während der perspektivistische Subjektivismus eine Vielfalt der Wirklichkeiten behauptet (s. Nietzsche und Vaihinger). Der sprachphil. Perspektivismus Wittgensteins verweist auf sie sprachlichen Gepflogenheiten («Sprachspiele»), die das Bezugssystem mitbestimmen. Der Perspektivismus ist dem Pluralismus, Relativismus und auch dem Konstruktivismus verwandt, kann jedoch eine strengere Fassung erhalten, indem die Kategorien (Kategorienlehre) der Bezugssysteme und die indiv. Standpunkte def., die wechselseitige Ergänzung der Perspektive zu einem Gesamtbild verlangt und der zur Erfassung der vollen Wirklichkeit notwendige Perspektivwechsel (Perspektivenübernahme) betont werden. Die Unterscheidung von koexistierenden Bezugssystemen dient der wiss.theoret. Ordnung der komplizierten Bezüge. Die Einheit in der Vielfalt (unitas in multitudine, Leibniz) und unitas multiplex (William Stern) zu erfassen, legt multireferenzielles Denken, die Koordination von kategorial versch. Bezugssystemen und das entspr. multimeth. (Multi-Methodalität) Vorgehen nahe. https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/perspektivitaet-perspektivismus

Perspektivenübernahme

[engl. perspective adoption/taking], [EW], Fähigkeit, den Standpunkt einer anderen Person, der sich vom eigenen unterscheiden kann, bewusst einzunehmen, ohne den eigenen zu verlieren. Kognitive Voraussetzung für die Perspektivenübernahme ist die Fähigkeit zur Dezentrierung. Die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme bei Wahrnehmungsinhalten, wie sie im Drei-Berge-Versuch von Piaget gemessen wird, entwickelt sich i. d. R. im sechsten Lebensjahr; weniger komplexe Formen der Perspektivenübernahme – auch bzgl. Meinungen, Emotionen und Bedürfnissen – können aber schon bei 3- bis 4-jährigen Kindern beobachtet werden. Mit dem Auftreten der Perspektivenübernahme verschwindet der Egozentrismus des Kindes. https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/perspektivenuebernahme

Vgl. auch

https://de.wikipedia.org/wiki/Perspektivismus (Perspektivismus)

https://www.buecher-wiki.de/index.php/BuecherWiki/Erzaehlperspektive (Erzählperspektive)

Chancen des Lehrerberufs

Ich möchte nicht zu den Chancen der Verbeamtung oder Anstellung in einem Bundesland etwas sagen, sondern zur Chance, im Lehrerberuf menschlich zu reifen.

Von den vielen Aspekten, wie man als Lehrer menschlich reifen kann, möchte ich nur hier eine betrachten. Sie hängt mit der spezifischen Sichtweise des guten Lehrers zusammen, die nicht erst seit Klafkis didaktischer Analyse des Unterrichtsstoffs bekannt ist. Ein Lehrer muss nämlich nach der Sachanalyse fragen, wie der Unterrichtsstoff in der Sicht „des Kindes“ (ganz allgemein, also auch der Jugendlichen usw.) aussieht: was er dem Kind bedeutet, welchen Zugang das Kind dazu hat (und welchen nicht), wie es ihn sich aneignen kann. Das gilt bis hin zu den „Fehlern“, die das Kind macht; auch diese muss man nicht primär vom Stoff her denken, sondern vom Kind: Wie kommt es gerade zu diesem Fehler, zu diesem Un- oder Missverständnis?

Am Beispiel des schönen Fehlers kann man meine Idee noch einmal verdeutlichen: Ich habe Schüler für schöne Fehler gelobt (was diese normalerweise für Ironie hielten, weil ihnen meine Sicht offensichtlich fremd war) und dafür sogar eine 2 angeschrieben: Schöne Fehler sind Fehler, an denen man zeigen kann, wo und warum der Denkweg des Schülers in die Irre führt – das ist lehrreich für die ganze Klasse und verdient deshalb eine 2.

Vom Kind her denken, das ist nur ein Sonderfall der menschlichen Praxis, alle Dinge nicht nur egozentrisch, also vom eigenen Standpunkt aus zu denken, sondern auch vom Standpunkt des anderen: des Gesprächspartners, des Lebenspartners, der Geschäftspartner, der Gegner im politischen Konflikt oder Zusammenspiel. Erst wenn man die Sicht, die Anliegen oder die Interessen beider Seiten kennt und versteht, kann man zu sachlicher Diskussion und zu vernünftigen Lösungen „im Gespräch“ (im weitesten Sinn) kommen.

Insofern ist der Lehrerberuf eine große Chance, den Perspektivenwechsel einzuüben und täglich zu praktizieren, auf dass er sich zu einem Habitus verfestige, und so menschlich zu reifen.