Was man von einem guten Schüler erwarten kann

Folgendes Blatt war mein Konzept bei einem Elternabend:

Was ich von einem guten Schüler erwarte: Prinzipien meiner Arbeit

1. Da ist ein Problem, das will ich lösen!

Beispiel: vor Weihnachten „Lebenslauf/Bewerbung“ geschrieben, Problem mit der Anordnung der Angaben im tabellarischen Lebenslauf exakt untereinander; eigentlich hatte nur Nadine die Lösung.

Ich habe die Entwürfe korrigiert und eine Berichtigung anheimgestellt, also nicht „aufgegeben“; am nächsten Tag hatte nur Martin seinen Entwurf überarbeitet, die anderen 18 nicht. Dabei hatten fast alle das Problem der exakten Anordnung gesehen, ebenso gesehen, dass es lösbar ist (Nadine), und ich hatte mehreren aufgeschrieben: „Frage mal Nadine!“

– Problem: Schule ist nicht der Ernstfall, aber die Gelegenheit zum folgenlosen Probieren.

2. Das prüfe ich selber nach!

Beispiel: 2. Klassenarbeit, Schreibweise „rethorisch“ als R-Fehler angestrichen. Ein Schüler kommt am nächsten Tag zu mir (immerhin!) und fragt: „Herr Tholen, wo ist denn da der Fehler?“

Besser wäre gewesen, er hätte selber nachgeschaut. Oder zu Deutsch: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Die Schule läuft darauf hinaus, dass die Schüler von mir und jedem einzelnen Lehrer unabhängig werden, also selbstständig werden. Das heißt natürlich: genau hinschauen, bereits beim Abschreiben der Aufgabenstellung, erst recht bei ihrem Verständnis (Beispiel: 2. Klassenarbeit!).

3. mit Methode arbeiten:

Das war das Prinzip, von dem die Gedichtlektüre geleitet sein sollte, als alles andere schiefging: Ich verstehe eine Äußerung, wenn ich bedenke, wer es sagt, zu wem er spricht, bei welcher Gelegenheit, in welchem Tonfall usw. Dieses Prinzip erlaubt selbstständiges und sachliches Arbeiten. Es ist der einzige Weg, der so etwas wie wissenschaftliches Arbeiten ermöglicht: unser Ziel!

Auch unsere Grammatik-Arbeit ist diesem Ziel zuzuordnen. Beispiel: Letzte Klassenarbeit, 2. Strophe:

Den Hauptsatz bilden eben die beiden letzten Verse: Was nun von Halm zu Halme wandelt,

Was nach den letzten Blumen greift,

Hat heimlich im Vorübergehen

Auch dein geliebtes Haupt gestreift.     → die Konjunktion „auch“

Oder eben die berühmte 5. Strophe: Erlosch auch hier ein Duft, ein Schimmer…

Das ist primär eine Frage! und keine Erinnerung!

Die Grammatik hat den Wert (und Sinn), dass man im Zweifelsfall sachlich, also methodisch selber prüfen kann, was denn nun wirklich in einer Äußerung gesagt (getan) wird. Oder jetzt: was wie erklärt wird.

4. Prinzip der Sachlichkeit: Ich vertrete meine Einsicht, wenn ich sie geprüft habe.

Beispiel: Bewerbung, Formulierung des ersten Satzes nach dem Betreff: „Hiermit bewerbe ich mich um eine Stelle als…“ Nach meinem Gefühl müsste es auch hier heißen: „… bewerbe ich mich um einen Ausbildungsplatz zum Heizungsmonteur.“ Entsprechend habe ich die Vorlagen korrigiert.

Tobias M. konnte mich am nächsten Tag darauf hinweisen, dass im von mir verteilten Muster aber die andere Formulierung steht; ich muss also auch die andere gelten lassen (Muster!), nicht ohne meine Bedenken gegen das Muster (zu oberflächlich von mir geprüft!) zu äußern.

– Wenn etwas geprüft ist, wird sachlich entschieden, auch gegen den Lehrer, auch gegen die Eltern, auch gegen das Kind – nein, nicht gegen jemand, sondern gegen eine Auffassung! Es gibt keinen Verlierer!

Meine Bitte an Sie:

1. Wir stellen uns den Problemen, die es gibt!

2. Lassen Sie „die Kinder“ selber Probleme lösen!

3. Ermuntern Sie Ihre Kinder zum sachlich begründeten Widerstand (auch gegen ihre Eltern)!

4. Lassen Sie sie langfristig regelmäßig arbeiten!

5. Glauben Sie mir bitte, dass ich den Schülern das zu vermitteln versuche, was nach meiner Einsicht (40 Jahre Textarbeit – Motto „präziser, bitte!“) wichtig und richtig ist, auch wenn andere Kollegen… Tn

Sachlich sein, Sachlichkeit – ihre Bedeutung

Das Adjektiv „sachlich“ (s) soll um 1820 aufgekommen sein, anfänglich noch in der Schreibweise „sächlich“; das Nomen „Sachlichkeit“ (S) ist 1828 erstmals belegt. Die Wörter hatten es schwer, ihren Weg in die Wörterbücher zu finden; im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm fehlt S.

Was bedeutet s? Die erste Erläuterung gibt es in Heinsius: Vollständiges Wörterbuch der Deutschen Sprache, Bd. III, 1830: „Sächlich, eine Sache angehend, betreffend, auch in dem Wesen einer Sache gegründet etc.“ Die besten Umschreibungen habe ich bei Wehrle-Eggers (Deutscher Wortschatz, 1961) und in Dudens Deutschem Universalwörterbuch (2011/2014) gefunden. Wehrle-Eggers nennen mehrere Sinnbereiche, in denen s gebraucht wird: a) Beim Denkvorgang können Schlussverfahren streng, sachlich, genau sein. b) In der Verstandesklarheit kann jemand nüchtern, sachlich, geradlinig denken. c) Im Gefühlsleben geht es um die Unerschütterlichkeit, da ist einer unbeteiligt, sachlich, nüchtern. d) Dann wird im Gefühlsleben auch noch die Einfachheit angenommen, wenn jemand einfach, schlicht, sachlich empfindet – diesen Punkt d halte ich für weniger gelungen. In Dudens Universalwörterbuch steht für s: 1. nur von der Sache, nicht von Gefühlen oder Vorurteilen bestimmt; nur auf die Sache, auf den infrage stehenden Sachzusammenhang bezogen; objektiv. 2. in der Sache begründet; von der Sache her. 3. ohne Verzierungen oder Schnörkel; durch Zweckgebundenheit gekennzeichnet. Diese 3. Bedeutung gehört in einen anderen Zusammenhang als die beiden ersten, welche menschliches Denken, Sprechen und Handeln charakterisieren; die 3. Bedeutung taucht häufig in der Bezeichnung der Stilrichtung „Neue Sachlichkeit“ auf, welche etwa ab 1925 in Kunst, Design und Architektur sich ausbreitete.

Warum soll ein Lehrer sachlich bleiben, warum sollen Schüler zur Sachlichkeit erzogen werden? S ist nach Max Scheler „die den Menschen vom Tier unterscheidende Fähigkeit, das Gegenständlichsein (Objektcharakter) von Gegenständen als solches zu erfassen, ohne die aus der Instinktgebundenheit der Tiere resultierende Einschränkung der Gegebenheitsweise von Welt“ (Metzler Lexikon Philosophie). Sachlichkeit ist demnach eine Stufe menschlicher Freiheit, die den – wenn man so will – triebhaften Egoismus überschreitet. Sie ermöglicht die freie wissenschaftliche Diskussion, das freie politische Gespräch der Bürger, in der Schule den freien Blick auf die Welt und in die Texte, das freie Gespräch zwischen Lehrenden und Lernenden.

Im Wiki Lexikon zur Gestalttheoretischen Psychotherapie wird Sachlichkeit der Ichhaftigkeit gegenübergestellt: https://www.oeagp.at/dokuwiki/doku.php?id=ichhaftigkeit_sachlichkeit.

Im Kompetenzatlas der FH Wien wird erläutert, wieso Sachlichkeit in Konflikt- und Stresssituationen wichtig ist: https://kompetenzatlas.fh-wien.ac.at/?page_id=634.

Ich selber habe vor Jahren ein kleines Loblied der Sachlichkeit gesungen: https://norberto68.wordpress.com/2011/05/29/sachlichkeit/.

Julia Breithausen hat in einem komplexen Rückgriff auf Heidegger und Adorno zu zeigen versucht, dass S pädagogisch bedeutsam ist, wobei von der Pädagogik her Theodor Ballauf als Hauptzeuge benannt ist: https://www.pedocs.de/volltexte/2017/14657/pdf/ZfPaed_2014_2_Breithausen_Bildung_und_Sachlichkeit.pdf.

Die Verpflichtung des Rechtsanwalts zur Sachlichkeit ist für uns jetzt nicht wichtig: https://www.rak-muenchen.de/rechtsanwaelte/berufsrecht/sachlichkeit-falschunterrichtung.html.

Zwei Plädoyers gegen Sachlichkeit habe ich gefunden; dabei merkt man, dass es beiden Autoren darum geht, dass man andere für seine eigenen Ziele einfängt: https://www.businessvillage.de/Etwas-weniger-Sachlichkeit-bitte/mag-1506.html und https://www.sozusagen.at/sachlichkeit-gibt-es-nicht/.

Sachlichkeit

Dietrich von Oppen hat vor 30, 40 Jahren ein Buch über die Sachlichkeit als eine Tugend geschrieben; in der Schule kann diese Sachlichkeit nicht hoch genug eingeschätzt werden,
* als Tugend des Lehrers, der nicht als Lehrer schon Recht hat;
* als Tugend des Schülers, dem die Note nicht alles und die Parteinahme für andere Schüler (oder gegen den Lehrer) nicht Prinzip ist;
* als Tugend der Eltern, die in ihrem Kind nicht den einzigen Prinzen unter tausend Deppen sehen;
* als Erziehungsziel oder -prinzip: dass der Unterricht dazu dient, Erkenntnisse zu gewinnen, indem man methodisch vorgeht.
Sachlichkeit der beteiligten Menschen entspricht der Absicht, richtige oder wahre Erkenntnisse auf allgemein gültigen Wegen zu gewinnen; Sachlichkeit hat mit Präzision im Arbeiten, aber auch mit Redlichkeit und Distanz von den eigenen vordergründigen Interessen zu tun.

Da diese Sachlichkeit nicht immer vorhanden und nur schwer erreichbar ist, möchte ich zwei leuchtende Beispiele vorstellen. Die Heldin des ersten ist Laura H., eine Schülerin der 7. Klasse (im Schuljahr 2000/01), wenn ich mich recht erinnere. Wir hatten im Deutschunterricht Konjunktionen im Zusammenhang mit den dadurch ausgedrückten Verhältnissen (kausal, temporal usw.) besprochen. Nun war in den Klassenarbeit eine Wendung zu bestimmen, die nach meinem Verständnis eindeutig konsekutiv war, welche von Laura aber als „kausal“ bestimmt war [eine Unterscheidung, die ohnehin nicht ganz einfach ist!]; dadurch erhielt sie nicht die nötige Punktzahl für ein „gut“ als Note der Klassenarbeit.
Bei Rückgabe und Besprechung der Klassenarbeit meldete sie sich und wandte gegen meine Korrektur ein, das stände so aber im Schülerduden Grammatik (womit wir gearbeitet hatten); damit hatte sie recht, aber ich lasse den SD Grammatik nicht als Quelle absoluter Wahrheit gelten. Ich habe dann am folgenden Tag zwei Grammatiken mitgebracht und Laura gebeten, selber zu prüfen, was denn nun stimmt; ich habe ihr gesagt: „Du entscheidest selber, was richtig ist.“ Darauf studierte Laura fünf Minuten die Grammatiken und sagte: „Herr Tholen, Sie haben recht.“ Das hat mich, weil sie damit auf die Note „gut“ verzichtete, so sehr berührt, dass ich geantwortet habe: „Gut, und jetzt bekommst du die 2, weil ich euch früher auf diese Unsauberkeit im SD Grammatik hätte hinweisen können.“ Lauras Sachlichkeit berührt mich heute noch tief in der Seele, wenn ich davon erzähle.
Der zweite Fall spielte im Schuljahr 2002/03 im Literaturkurs der Klasse 12. Dort galt das Prinzip: „Ihr könnt machen, was ihr wollt, aber ihr müsst wissen, was ihr wollt.“ Dadurch kamen sehr freie und eigenwillige Arbeiten zustande; aber es wurden auch Arbeiten eingereicht, die einfach irgendwo kopiert waren – von der Kontrolle solcher Plagiate hatte ich damals noch keine Ahnung. Von einer wirklich exzellenten Arbeit (jemand ist über Weihnachten in einer Badewannenfabrik eingeschlossen – ein bizarre Idee) erfuhr ich auf einer Hochzeitsfeier in Bonn, dass ein Gast diese Arbeit kannte – als Erzählung des erfolgreichen Autors Benjamin v. Stuckrad-Barre; kein Wunder, dass sie „sehr gut“ war! Danach habe ich mir von den internetkundigen Kollegen erklären lassen, wie man Plagiate findet, und habe diverse Arbeiten des Stuckrad-Barre-Abschreibers (sowie einige weitere Arbeiten) als Plagiate entlarvt; in der Folge waren diese Arbeiten, dann nicht 1 oder 2, sondern 6: Täuschungsversuch. [Ich hoffe, ich muss heute keinem Kollegen mehr erklären, wie man Plagiate findet!]
Als das im Kurs publik wurde (und ich mit meinen detektivischen Fähigkeiten prahlen konnte), kam eine Schülerin, Sarah W., freiwillig zu mir und sagte: „Herr Tholen, meine Arbeit habe ich aus der ‚Petra‘ abgeschrieben. Ich dachte, wenn andere pfuschen, darf ich das auch; aber wenn die jetzt ihre 6 kriegen, gebe ich zu, dass auch ich gepfuscht habe.“ Auch dieses Bekenntnis zeigt eine derartige Ehrlichkeit und Sachlichkeit, dass ich mich noch an Sarah erinnern kann, während die anderen Schüler im Orkus des Vergessens verschwunden sind.

Es gibt derart viele Beispiele von Unsachlichkeit, dass es nicht lohnt, davon zu berichten: von Eltern, die „fiese Wörter“ oder sonst etwas anmahnen und nur die Noten ihrer Kinder meinen; von Kollegen, die vom „herrschaftsfreien Diksurs“ schwafeln und so verteidigen, dass ihr Unterricht beginnt und endet, wann es Gott gefällt, und dass sie auf normale Leistungsforderungen und vergleichbare Benotung verzichten, damit sie ungestört ihren teilweise intellektuellen Hobbies nachgehen können…

P.S. Ich verweise auf meinen alten Aufsatz „An der Wahrheit festhalten!“ (http://also.kulando.de/post/2006/12/30/an_der_wahrheit_festhalten), der übrigens auch im (norberto*42-)blog-Blog steht, und http://www.enzyklo.de/Begriff/Objektivität

Mir ist erst sehr spät aufgegangen, dass (für mich) eine der Bedingungen guten Unterrichts war, dass der Lehrer (ich) selbst ein Lernender oder Studierender, jedenfalls nicht bloß ein Studierter ist. Erst in der Arbeitsgemeinschaft der gemeinsam Lernenden, wobei einer durchaus auch lehrend agieren muss, entsteht jene Offenheit, die es möglich macht, dass alle etwas lernen: also sich verändern. – Praktisch heißt das: http://www.zeit.de/online/2008/01/edge.

Lernen ist deshalb schwer, weil es eben heißt: sich (oder sein Denken, sein Agieren, auch das geistige Agieren) verändern. Verändern kann jeder nur sich selbst; ich kann in dem Sinn keinen belehren, sondern nur Hilfestellung beim Lernen geben. Schüler können diese Hilfestellung leichter akzeptieren oder sogar darum bitten, wenn sie sehen, dass der Lehrer selber noch studiert, sich also um Lösungen bemüht (anstatt Überlegenheit oder Desinteresse zu demonstrieren), und wenn ihre Funde auch gewürdigt werden – selbst wenn sie nicht optimal sind [dann sind sie nicht einfach falsch, sondern: „Man kann es noch schärfen fassen“!]. In diesen Zusammenhang gehört auch alles, was zu den Stichworten ÜBERARBEITEN und SACHLICHKEIT zu sagen ist.

Vgl. https://norberto68.wordpress.com/2021/04/23/sachlich-sein-sachkeit-ihre-bedeutung/