Produktives Schreiben: eine neue Perspektive einnehmen

Gehen wir von einem Beispiel aus meiner Praxis aus, der Lektüre des Jugendbuchs „Meine Spur löscht der Fluß“ (1978) von Othmar Franz Lang. Das haben wir in einer 8. Klasse des Gymnasiums gelesen: Ein junger Indianer ist der letzte Überlebende seines Stammes, er wird halbverhungert gefunden und aufgepäppelt. Im Roman wird erzählt, wie er die fremde Welt der Weißen erlebt: ihr Essen, ihre Hygiene, ihre Eisenbahn usw. – das alles erlebt und beschreibt er in den Kategorien seines indianischen Lebens. Damit macht er es dem Leser möglich, seine eigene westliche Kultur als fremd oder als nicht selbstverständlich und gottgegeben zu sehen, weil der Indianerjunge ein sympathischer Kerl ist, mit dem man mitfühlt. Die Aufgabenstellung einer Klassenarbeit vom 16.10.1987 lautete so:

Die Schüler sollen in Anlehnung an O. F. Lang, Meine Spur löscht der Fluß, Eigentümlichkeiten der Industriekultur aus der Perspektive des Indianers Ishi darstellen können.

Du hast die Wahl zwischen folgenden Themen:

– Wie ich zum ersten Mal in einer Schule beim Unterricht war.

– Wie ich beim Friseur war.

– Wie am Museum eine neue Straße gebaut wurde.

Die Themen stammen also aus Feldern, die die Schüler aus eigener Erfahrung kennen; die Aufgabenstellung war natürlich an mehreren Beispielen (Ishi im Schwimmbad usw.) eingeübt worden. – Leider gibt es das bewegende Buch nur noch antiquarisch zu kaufen. Die Fragestellung „Wie sieht unsere Lebensweise in fremder Perspektive oder mit fremder Brille betrachtet aus?“ ist heute aber aktueller denn je; viele Migranten erleben in Deutschland täglich eine Welt, die ihnen in mancherlei Hinsicht fremd und oft unverständlich ist und in die man sich hineinversetzen muss, um ihnen und ihren Problemen gerecht zu werden. Wie man das praktisch im Unterricht umsetzt, überlasse ich gern den jungen Kollegen

Ich nenne noch ein paar Beispiele aus der großen Literatur, wo in der Regel Fremde nach Europa kommen oder ein Europäer in die Fremde reist (Besprechung der Titel in meinem Blog norberto42:

Voltaire: Amabeds Briefe

Voltaire: Das Naturkind

U. Eco: Industrie und sexuelle Repression in einer norditalienischen Gesellschaft (in: Platon im Striptease-Lokal)

Stefan Themerson: Prof. Mmaa’s Vorlesung (dort auch Verweis auf Weckhrlin, Andersen u.a.), wo sogar die Termitensicht auf den Menschen präsentiert wird.

Ich habe den Perspektivenwechsel aber auch benutzt, um schnöde den Gebrauch des Konjunktivs II einzuüben (Kl. 7: Variationen zu „Wär ich ein Baum“ von Erich Kästner, s.)

https://norberto68.wordpress.com/2011/02/21/phantasie-war-ich-ein-baum-kastner/

https://norberto68.wordpress.com/2019/10/14/produktiv-schreiben-in-der-sek-i-erprobte-beispiele/

Zur Theorie des Fremverstehens siehe diese Artikel aus dem Hogrefe:

Fremdverstehen

[engl. understanding of others], [FSE, SOZ], das Konzept des Fremdverstehens hat maßgeblich Alfred Schütz (1974) in seiner theoretischen Betrachtung von Verstehensprozessen innerhalb alltäglicher Kommunikationssituationen herausgearbeitet (Kommunikation): Innerhalb dieser nimmt ein Kommunikant (ego) stets eine Deutung dessen vor, was ihm von einem anderen Kommunikanten (alter) mitgeteilt wird. Jeder der beiden Kommunikanten kommuniziert dabei auf der Basis des eigenen Wissenshintergrundes (Relevanzsystems), das semantisch-indexikal angelegt ist (Indexikalität): Die zu verstehende Mitteilung, die der eine Gesprächsbeteiligte kommuniziert, kann der andere Gesprächsbeteiligte nur verstehen, indem sie an das eigene Relevanzsystem adaptiert wird. Verstehen ist kognitionspsychol. betrachtet also die Übersetzung des zu Verstehenden in das eigene, semantisch-indexikale Relevanzsystem. Verstehen stellt damit immer das Verstehen von Fremdem dar, denn alles, was außerhalb unseres eigenen Relevanzsystems existiert, ist uns grundsätzlich fremd. Genau diese Tatsache wird jedoch in alltäglichen Kommunikationsprozessen bewusst ausgeblendet: Wie Alfred Schütz (1974) betont hat, wird nur mit der Reziprozität der Perspektiven, welche zwei idealisierende Unterstellungen umfasst, nämlich die Idealisierung der Vertauschbarkeit der Standpunkte und die Idealisierung der Kongruenz der Relevanzsysteme, Kommunikation praktisch möglich. Alfred Schütz hat in diesem Zusammenhang pointiert, dass Fremdverstehen somit stets eine Selbstauslegung bleibt, da wir eben nur mit unserem Relevanzsystem verstehen können. Verstehen ist damit immer nur als eine relative Annäherung an das Fremdzuverstehende aufgrund von Idealisierungen sowie Annahmen in Hinblick auf eine sozial geteilte Welt und von praktischen Aushandlungen sowie akzeptierten kommunikativen Basisregeln möglich. https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/fremdverstehen

Perspektivität, Perspektivismus

[engl. perspective, point of view; lat. perspicere hindurchschauen, deutlich sehen],[HIS, PHI],bez. die Abhängigkeit der Wahrnehmungen und der Urteile von der Position des wahrnehmenden bzw. urteilenden Individuums. Als Begriffe der Erkenntnistheorie gehen Perspektive, Standpunkt und Horizont auf Leibniz zurück. Er erläutert den Gedanken der Perspektive an einem Bsp., «wie eine und dieselbe Stadt, von versch. Seiten betrachtet, jew. ganz anders erscheint». Gustav Theodor Fechners Bsp. ist ein Kreis: «Wenn Jemand innerhalb eines Kreises steht, so liegt dessen konvexe Seite für ihn ganz verborgen; wenn er außerhalb steht, umgekehrt die konkave Seite unter der konvexen Decke. Beide Seiten gehören ebenso untrennbar zus., als die geistige und leibliche Seite des Menschen und diese lassen sich vergleichsweise auch als innere und äußere Seite fassen … Aber der Kreis ist nur ein Bild und es gilt die Frage nach der Sache.»

Im Unterschied zu Spinozas Zwei-Attribute-Lehre (Doppel-Aspekt-Lehre), nach welcher Geist und Materie zwei Seiten ein- und derselben Sache sind (una eademque res) postulierte Leibniz außerdem, dass psych. Vorgänge aus den Motiven und Zwecksetzungen, die körperlichen Vorgänge nach dem Kausalprinzip zu erklären sind. Diese Idee wurde als psychophysischer Parallelismus von Wundt genauer ausgeführt, wobei er keine metaphysische Lehre i. S. zweier Substanzen, Seele und Materie, meint, sondern zwei sich wechselseitig ergänzende Betrachtungsweisen einer lebendigen Einheit nach grundversch. Kategorien (Kategorienlehre) und Methoden.

Perspektive bedeutet, ein Objekt, eine Person, eine Idee von einem best. Standpunkt aus zu betrachten, und der Begriff impliziert, dass auch eine andere oder mehrere Perspektiven möglich sind. Der Begriff wird in der Ps. nicht nur hinsichtlich der visuellen Wahrnehmung (Perspektive) verwendet, sondern in der Persönlichkeits- und Sozialpsychologie, in der Kulturpsychologie, in Piagets genetischer Erkenntnistheorie (Entwicklung, Stufentheorie nach Piaget). Am häufigsten zu finden ist die Perspektive von Innen und Außen, von Erleben und Verhalten (das traditionelle Subjekt-Objekt-Problem, Perspektive der Ersten Person und der Dritten Person in der Theory of Mind). Ausdrücke wie Perspektive und Horizont sind charakteristisch für die von Husserl und Merleau-Ponty entworfene Phänomenologie (s. auch Graumann, 1960).

Perspektivität/Perspektivismus ist die erkenntnistheoret. Grundhaltung und die phil. Überzeugung, dass eine fundamentale Abhängigkeit der Erkenntnis von dem Standpunkt (Bezugssystem) und den Eigenschaften des betrachtenden Individuums besteht. Der perspektivistische Objektivismus setzt eine obj. Wirklichkeit voraus, die aufgrund der unterschiedlichen Standpunkte und Eigenschaften der Betrachter unterschiedlich aufgefasst wird, während der perspektivistische Subjektivismus eine Vielfalt der Wirklichkeiten behauptet (s. Nietzsche und Vaihinger). Der sprachphil. Perspektivismus Wittgensteins verweist auf sie sprachlichen Gepflogenheiten («Sprachspiele»), die das Bezugssystem mitbestimmen. Der Perspektivismus ist dem Pluralismus, Relativismus und auch dem Konstruktivismus verwandt, kann jedoch eine strengere Fassung erhalten, indem die Kategorien (Kategorienlehre) der Bezugssysteme und die indiv. Standpunkte def., die wechselseitige Ergänzung der Perspektive zu einem Gesamtbild verlangt und der zur Erfassung der vollen Wirklichkeit notwendige Perspektivwechsel (Perspektivenübernahme) betont werden. Die Unterscheidung von koexistierenden Bezugssystemen dient der wiss.theoret. Ordnung der komplizierten Bezüge. Die Einheit in der Vielfalt (unitas in multitudine, Leibniz) und unitas multiplex (William Stern) zu erfassen, legt multireferenzielles Denken, die Koordination von kategorial versch. Bezugssystemen und das entspr. multimeth. (Multi-Methodalität) Vorgehen nahe. https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/perspektivitaet-perspektivismus

Perspektivenübernahme

[engl. perspective adoption/taking], [EW], Fähigkeit, den Standpunkt einer anderen Person, der sich vom eigenen unterscheiden kann, bewusst einzunehmen, ohne den eigenen zu verlieren. Kognitive Voraussetzung für die Perspektivenübernahme ist die Fähigkeit zur Dezentrierung. Die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme bei Wahrnehmungsinhalten, wie sie im Drei-Berge-Versuch von Piaget gemessen wird, entwickelt sich i. d. R. im sechsten Lebensjahr; weniger komplexe Formen der Perspektivenübernahme – auch bzgl. Meinungen, Emotionen und Bedürfnissen – können aber schon bei 3- bis 4-jährigen Kindern beobachtet werden. Mit dem Auftreten der Perspektivenübernahme verschwindet der Egozentrismus des Kindes. https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/perspektivenuebernahme

Vgl. auch

https://de.wikipedia.org/wiki/Perspektivismus (Perspektivismus)

https://www.buecher-wiki.de/index.php/BuecherWiki/Erzaehlperspektive (Erzählperspektive)

Macken schriftlicher Darstellung – eine Parodie

Arthur Bimmel in Klammern

Ein Wort in „Strichen“ angeführt,
heißt, dass Beachtung ihm gebührt.

Man schreibt sie vor dem Worte drunten;
seht so: „Anführungsstriche unten!

Der eine schätzt „Anführungszeichen“,
der andere liebt zu unterstreichen!

Ihm hat zur eignen „Freudbereitung“
fast jedes dritte Wort Bedeutung:

Es wird, Gott weiß, aus was für Schlichen,
fast jedes Wort dick unterstrichen!

Ein drittes Beispiel: Artur Bimmel
hat einen wahren Klammernfimmel!

[Das heißt: er schreibt (es ist zum Jammern!)
fast jedes (dritte) Wort in Klammern!]

Er kann (wie wir es hier probieren)
mit Klammern gradezu jonglieren!

Er wird dereinst (ich will drauf wetten!)
in Klammern sich zur Ruhe betten,

[wenn er an Klammern-Spleen gestorben,
in Klammern sich den Tod erworben!

Dann erst hat er vor Klammern Ruh!
<Ausrufungszeichen! (Klammern zu!)>]

Eduard Müller-Binz (1899 – ?)

Was man von einem guten Schüler erwarten kann

Folgendes Blatt war mein Konzept bei einem Elternabend:

Was ich von einem guten Schüler erwarte: Prinzipien meiner Arbeit

1. Da ist ein Problem, das will ich lösen!

Beispiel: vor Weihnachten „Lebenslauf/Bewerbung“ geschrieben, Problem mit der Anordnung der Angaben im tabellarischen Lebenslauf exakt untereinander; eigentlich hatte nur Nadine die Lösung.

Ich habe die Entwürfe korrigiert und eine Berichtigung anheimgestellt, also nicht „aufgegeben“; am nächsten Tag hatte nur Martin seinen Entwurf überarbeitet, die anderen 18 nicht. Dabei hatten fast alle das Problem der exakten Anordnung gesehen, ebenso gesehen, dass es lösbar ist (Nadine), und ich hatte mehreren aufgeschrieben: „Frage mal Nadine!“

– Problem: Schule ist nicht der Ernstfall, aber die Gelegenheit zum folgenlosen Probieren.

2. Das prüfe ich selber nach!

Beispiel: 2. Klassenarbeit, Schreibweise „rethorisch“ als R-Fehler angestrichen. Ein Schüler kommt am nächsten Tag zu mir (immerhin!) und fragt: „Herr Tholen, wo ist denn da der Fehler?“

Besser wäre gewesen, er hätte selber nachgeschaut. Oder zu Deutsch: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Die Schule läuft darauf hinaus, dass die Schüler von mir und jedem einzelnen Lehrer unabhängig werden, also selbstständig werden. Das heißt natürlich: genau hinschauen, bereits beim Abschreiben der Aufgabenstellung, erst recht bei ihrem Verständnis (Beispiel: 2. Klassenarbeit!).

3. mit Methode arbeiten:

Das war das Prinzip, von dem die Gedichtlektüre geleitet sein sollte, als alles andere schiefging: Ich verstehe eine Äußerung, wenn ich bedenke, wer es sagt, zu wem er spricht, bei welcher Gelegenheit, in welchem Tonfall usw. Dieses Prinzip erlaubt selbstständiges und sachliches Arbeiten. Es ist der einzige Weg, der so etwas wie wissenschaftliches Arbeiten ermöglicht: unser Ziel!

Auch unsere Grammatik-Arbeit ist diesem Ziel zuzuordnen. Beispiel: Letzte Klassenarbeit, 2. Strophe:

Den Hauptsatz bilden eben die beiden letzten Verse: Was nun von Halm zu Halme wandelt,

Was nach den letzten Blumen greift,

Hat heimlich im Vorübergehen

Auch dein geliebtes Haupt gestreift.     → die Konjunktion „auch“

Oder eben die berühmte 5. Strophe: Erlosch auch hier ein Duft, ein Schimmer…

Das ist primär eine Frage! und keine Erinnerung!

Die Grammatik hat den Wert (und Sinn), dass man im Zweifelsfall sachlich, also methodisch selber prüfen kann, was denn nun wirklich in einer Äußerung gesagt (getan) wird. Oder jetzt: was wie erklärt wird.

4. Prinzip der Sachlichkeit: Ich vertrete meine Einsicht, wenn ich sie geprüft habe.

Beispiel: Bewerbung, Formulierung des ersten Satzes nach dem Betreff: „Hiermit bewerbe ich mich um eine Stelle als…“ Nach meinem Gefühl müsste es auch hier heißen: „… bewerbe ich mich um einen Ausbildungsplatz zum Heizungsmonteur.“ Entsprechend habe ich die Vorlagen korrigiert.

Tobias M. konnte mich am nächsten Tag darauf hinweisen, dass im von mir verteilten Muster aber die andere Formulierung steht; ich muss also auch die andere gelten lassen (Muster!), nicht ohne meine Bedenken gegen das Muster (zu oberflächlich von mir geprüft!) zu äußern.

– Wenn etwas geprüft ist, wird sachlich entschieden, auch gegen den Lehrer, auch gegen die Eltern, auch gegen das Kind – nein, nicht gegen jemand, sondern gegen eine Auffassung! Es gibt keinen Verlierer!

Meine Bitte an Sie:

1. Wir stellen uns den Problemen, die es gibt!

2. Lassen Sie „die Kinder“ selber Probleme lösen!

3. Ermuntern Sie Ihre Kinder zum sachlich begründeten Widerstand (auch gegen ihre Eltern)!

4. Lassen Sie sie langfristig regelmäßig arbeiten!

5. Glauben Sie mir bitte, dass ich den Schülern das zu vermitteln versuche, was nach meiner Einsicht (40 Jahre Textarbeit – Motto „präziser, bitte!“) wichtig und richtig ist, auch wenn andere Kollegen… Tn

Sprachpurismus als intellektuelle Selbstbefriedigung

Am 31. Juli 2023 stand in der SZ ein Artikel über einen Herrn Dogan, der sich als Sensivity Reader betätigt und anstößige Wörter in Texten aufspürt.. Diesen Artikel habe ich nicht gelesen, weil ich solche sprachpuristischen Bemühungen für verfehlt halte. Ich begründe meinen Standpunkt:

Heute, am 1. August 2023, war die Schlagzeile der SZ „Lehrlinge verzweifelt gesucht“; dagegen müsste Herr Dogan einwenden, man dürfe nicht von Lehrlingen sprechen, weil damit Mädchen ausgeschlossen würden – was objektiv Quatsch ist. Außerdem, und das ist entscheidend, gäbe es mit der sprachpuristisch korrigierten Schlagzeile „Auszubildende verzweifelt gesucht“ keinen einzigen Lehrling oder Azubi mehr!!! Und es gäbe in der Realität auch nicht mehr Respekt für Lehrlinge. Fazit: Der Sprachpurismus dient nur dem Gefühl des Herrn Dogan, er sei ein besserer Mensch und stehe auf der Seite des Fortschritts; und er dient dazu, auf diejenigen herabblicken zu dürfen, die von Lehrlingen sprechen.

Das kann man auch an den von Herrn Merz so genannten „kleinen Paschas“ sehen; das Problem ist nicht diese Bezeichnung, sondern das Benehmen mancher Jungen aus patriarchalisch gesinnten (Asylanten-)Familien gegen Frauen, etwa gegen Lehrerinnen; statt dass man überlegt, wie man diesen Burschen Respekt vor Frauen beibringt, beschimpft man Merz als Asylantenfeind – das ist einfach lächerlich, es geht an der Sache vorbei, indem das Problem aus der Realität in die Sprache und von den Burschen auf Merz verschoben wird. Damit haben Frau Hayali und die „progressiven“ Kabarettisten wieder eine Sau, die sie durchs Dorf treiben können, das ist alles; den Respekt für Frauen fördern sie so nicht.

Und das alles könnte man auch fürs Zigeunerschnitzel und den Negerkuss durchspielen – das sind einfach Wörter, bei denen man sich im normalen Sprachgebrauch nichts denkt (oder gedacht hat) und damit auch nichts Böses denkt, weil es einem um das pikante Fleisch und die Süßigkeit geht; erst durch die Sprachpuristen wird das Problem geschaffen [wird also diesen Wörtern eine negative Konnotation angehängt], welche aber die Lage der von ihnen vermeintlich geschützten Menschen nicht verbessern (Wohnung, Ausbildung, Bezahlung…).

In der guten alten Zeit vor 50 Jahren galt die für Linke marxistische Weisheit, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt; heute gilt für viele Linke die Auffassung, dass die Sprache das Bewusstsein und damit das Sein bestimmt. Da sich jedoch durch die gereinigte Sprache nicht das Sein der vermeintlich Geschützten, sondern nur das Bewusstsein der Schützer (Schutzmänner und -frauen) verbessert, ist die Sprachpuristerei so etwas wie eine intellektuelle Selbstbefriedigung.

P.S. Am 3. August kam im Abendprogramm des MDR eine Reportage über eine Frau aus dem Harz, die seit über zehn Jahren sich im Rumänien um verwahrloste und hungernde Romakinder kümmert, dafür Geld- und Sachspenden im Harz sammelt und diese unter die Roma bringt. Diese Frau spricht natürlich auch von Roma, aber sie tut auch etwas für die Roma (und hat sogar eine kleine Schule für Analpheten gegründet) – das ist ein Unterschied.

Wie ungenau man von „genau“ spricht

Heute fiel mir in der SZ wieder auf, wie nachlässig mit der Partikel „genau“ umgegangen wird, die es laut Duden dekliniert nur in der Form „wir wissen nichts Genaues“ gibt.

Inzwischen hat man sich angewöhnt, davon zu sprechen, dass die genaue Zahl der Toten nicht bekannt ist – dabei gibt es keine genaue Zahl, sondern nur eine Anzahl, die man entweder kennt oder nicht genau weiß. Ebenso gibt es keine genaue Ursache eines Unglücks, sondern nur eine (oder mehrere) Ursachen, die man entweder kennt oder nicht genau benennen kann. Daraus ergibt sich, dass „genau“ mit einem Wissen verbunden ist oder im Verhältnis zu einer Vorschrift o.Ä. steht, die man genau (also wörtlich) befolgen kann oder eben nicht genau.

Inzwischen (10/23) hat sich herausgestellt, dass Hanna Zimmermann im heute-journal um 21.45 oft mit der Floskel „genau“ oder „ja, ganz genau“ ihren Beitrag einleitet, wenn sie vom Hauptredakteur angekündigt wird; das ist, mit Verlaub gesagt, völlig sinnfrei und von mir auch schon mehrfach moniert worden. Die SZ hatte kürzlich einen Artikel zu diesem jugendsprachlichen Unsinn, ebenso wie die ZEIT (2021-7). Ich denke, in den Nachrichten sollte richtig gesprochen werden, genau!

Verhältnis Autor – Werk

In seiner Autobiografie „Mein Leben“ (1999) erzählt Reich-Ranicki von einer Begegnung mit Anna Seghers in Warschau; sie habe erklärt, sie habe sich in der Komposition von „Das siebte Kreuz“ an Manzonis Werk „Die Verlobten“ orientiert, was Reich-Ranicki für völligen Unsinn hält: „Diese bescheidene, sympathische Person, die jetzt in breiter Mainzer Mundart gemächlich über ihre Figuren schwatzte, diese würdige und liebenswerte Frau hat den Roman ‚Das siebte Kreuz‘ überhaupt nicht verstanden. Sie hat keine Ahnung von der Rafinesse der hier angewandten Mittel, von der Virtuosität der Komposition.“ (S. 342)

Kurz darauf, nach einer Anekdote über Richard Strauss verallgemeinert er diese Einsicht: „Was habe ich aus dem Gespräch mit Anna Seghers gelernt? Daß die meisten Schrtiftsteller von der Literatur nicht mehr verstehen als die Vögel von der Ornithologie. Und daß sie am wenigsten ihre eigenen Werke zu beurteilen imstande sind. Denn in der Regel wissen sie zwar, was sie ungefähr zeigen und verdeutlichen, erreichen und bewirken wollten. Dieses Wissen trübt ihren Blick auf das, was sie geleistet und geschaffen haben. Der Kritiker soll prüfen – so gründlich und so sorgfältig wie möglich -, was der Autor geschrieben hat. Was der Autor sonst über sein Werk zu sagen hat, sollten wir nicht ignorieren, indes auch nicht sonderlich ernst nehmen.“ (S. 342 f.)

Das ist eine Maxime, die man einerseits ernsthaft würdigen soll; anderseits zeigt sie aber auch, von welchem Selbstbewusstsein Reich-Ranicki als Kritiker erfüllt war.

Dunja Hayali und die kleinen Paschas

Im heute-jornal vom 18. Juni 2023 regte Dunja Hayali sich über Merz‘ Ausdruck „kleine Paschas“ auf. Das ist typisch: Sie sollte sich lieber darüber aufregen, dass bestimmte Jungen sich wirklich wie kleine Paschas gegenüber Frauen aufführen; dafür müsste Frau Hayali einfach in eine Gesamtschule gehen und sich den Unterricht anschauen (noch besser: selber zu unterrichten versuchen), dann sähe sie, wie das ist. Als ob man mit schöner Sprache die sachlichen Probleme lösen könnte – man darf sie ja nicht mal klar benennen. Also doch: Sprachpolizei!
Ähnliche sprachliche Schönfärberei am Ende der Sendung: die Olympiade der Behinderten als Inklusion feiern – das ist eine Perversion der Tatsache, dass sie gerade von der normalen Olympiade ausgeschlossen sind. Frau Hayali ist eine kluge Frau – wie kann sie nur so dummes Zeug reden? [Offenbar vernebeln schöne Ideen (eine Ideologie) den Verstand.]

Musil gehört in den Deutschunterricht der Sek II!

Schon oft habe ich in Musils „Nachlass zu Lebzeiten“ (1936) gestöbert; einige der „Bilder“ gehörten bei mir zum festen Bestand des Unterrichts in Kl.13 (Reihe: Parabeln [Exkurs: Parabeln in Kl. 13 bieten den Vorteil, dass die Schüler nicht irgendwelches auswendig gelernte Zeug reproduzieren dürfen, sondern am kurzen unbekannten Text zeigen müssen, ob sie wirklich lesen können!]), etwa „Das Fliegenpapier“, „Die Affeninsel“, „Hasenkatastrophe“, dazu die „Kleine Lebensreise“ (1925, https://norberto42.wordpress.com/2014/08/06/robert-musil-kleine-lebensreise-text/).

Heute habe ich, nachdem ich den „Nachlass“ 1963 gekauft hatte, ihn endlich ganz zu Ende gelesen und bin begeistert. Da gibt es noch eine Reihe kleiner Prosastücke, die man unbedingt in der Sek II lesen kann (und die tausendmal besser sind als „modernes“ seichtes Zeug wie die Produkte von B. Schlink und Konsorten). Ich nenne beispielhaft „Schwarze Magie“ (über Kunst und Kitsch), „Denkmale“ (brillant!), „Wer hat dich, du schöner Wald…?“ (als Kontrast zu Eichendorff), „Der Riese Agoag“ und „Ein Mensch ohne Charakter“ (vielleicht etwas zu lang für die Schule?). Das alles sind Texte voller Klarheit und Bosheit – und wenn man sie nicht Schülern vorsetzen will, sollte man sie unbedingt selber lesen! Man muss aber einige Wörter und Namen nachschlagen, die man nicht kennt; die größten Schwierigkeiten hatte ich mit der Überschrift „Triedere“, die sich schließlich als Imperativ eines neu gebildeten Verbs „triederen“ erwies, das Musil von „Trieder“ (Anfang des 20. Jh. eine Bezeichnung des Prismenfernglases) abgeleitet hatte, erwies.

Text: https://www.projekt-gutenberg.org/musil/nachlass/chap001.html

Deutscher Aufsatz

Robert Gernhardt

Deutscher Aufsatz


«Geld macht nicht glücklich, doch Armut macht weise» –
Stimmt dieser Spruch? Wie ist er begründbar?

Lüge das Blaue vom Himmer herunter.
Betrachte es gut. Beschreibe die Farbe.


Ein Fussballer verdient im Monat
mehr als der Papst – Ist dies zu vertreten?

Nenne die Mannschaft, in welcher der Papst spielt.
Wäg ihre Stärken und Schwächen ab.


Pflicht oder Neigung – wem soll der Mensch folgen?
Geh von persönlichen Beispielen aus.

Fülle nicht mehr als zweihundert Seiten
und nicht unter zehn. Zehn Seiten sind Pflicht.

(P.S. Ich habe das Aufsatzthema jeweils kursiv geschrieben, anders als im Original, damit man es klarer erkennt. Diese kleine Satire greift wirklich den Deutschunterricht, den wir Alten erlitten haben, treffend an.)

Einige Prinzipien guten Unterrichtens (M. Wagenschein)

Konsequenzen (aus Wagenscheins Pädagogik) für die Schule:
1. Gründliches sich-Einlassen ist wichtiger als effizientes Vorwärtskommen.
Das bedingt, dass man sich beschränkt. In vielen neueren Lehrplänen ist die Freiheit in der Stoffauswahl gross und der Begriff „exemplarisch“ wird explizit erwähnt. Man muss also nur den Mut haben, etwas wegzulassen, und man muss sorgfältig auswählen, gründlich vorbereiten und kritisch reflektieren.
2. Fragen stellen, die zum Nachdenken anregen, ist wichtiger als Erklären.
Man muss Geduld haben, die Kinder selber denken zu lassen. Durch  die erweiterten Lehr- und Lernformen ist das vorgespurt, aber es geht nicht um eine formale methodische Arbeitsweise, sondern man muss sich der Grundhaltung bewusst sein, im Sinne von Maria Montessori: hilf mir, es selbst zu tun.
3. Das Formulieren in eigenen Worten – im Gespräch und im Heft – ist wichtiger als gute Lehrervorträge und ausgearbeitete Kopien.
Man muss sich die Zeit nehmen, die Kinder selber formulieren zu lassen. Ein schön gestaltetes Heft mit eigenen Texten und Zeichnungen ist etwas sehr Wertvolles. Es schafft eine emotionale Beziehung zum Thema. Selbständige Hefteinträge sind auch ein wichtiges Element im Lernprozess, sie sind die Phase des Verarbeitens. Peter Buck hat darauf hingewiesen, dass zum Einatmen (d.h. zum Aufnehmen von Neuem) auch das Ausatmen gehört (d.h. das Verarbeiten), in Bucks Worten: „dass die Aufnahme der Weltzusammenhänge einen schöpferischen, künstlerischen Ausdruck der Wiedergabe unabdingbar braucht“.
4. Sorgfältig ausgewählte Phänomene – spannend, rätselhaft, ästhetisch – sind wichtiger als CD-Roms und Videos.
Ich weise hier auf Wagenschein wichtigen Vortrag „Rettet die Phänomene“ hin. „Der unmittelbare Umgang mit den Phänomenen ist der Zugang zur Physik. … Apparaturen, Fachsprache, Mathematisierung, Modellvorstellungen sollten nicht eher auftreten, als bis sie von einem beunruhigenden, problematischen Phänomen gefordert werden.“

(Ueli Aeschlimann: Ist Martin Wagenscheins Pädagogik noch aktuell? http://martin-wagenschein.de/1/1-3/Referat%20Liestal03.pdf)

Es gibt natürlich noch mehr Prinzipien guten Unterrichtens, aber die stehen jetzt nicht zur Diskussion. Und neben Martin Wagenschein sollte man auch Horst Rumpf nicht vergessen.