Modalität – wozu muss man Grammatik können?

Der folgende Artikel stand auf der Homepage meiner früheren Schule (FMG); diese ist jetzt verändert worden – ich habe meinen Artikel gerettet, weil er mir gefällt, auch wenn es in NRW längst keine ASchO (Allgemeine Schulordnung) mehr gibt, sondern ein neues Schulgesetz. Die grüne Markierung stammt von meiner Suche, wobei eben das Suchwort markiert worden ist.

Modalität und Ersatzprobe:

Wozu muss man Grammatik lernen?


Manche Leute meinen, man müsse Grammatik lernen, damit man richtig spricht und schreibt. Aber eigentlich erwarten wir, dass alle Schüler, die zu uns kommen, einigermaßen richtig die deutsche Sprache beherrschen. [Böse Zungen sagen zwar, für manche sei Deutsch die erste Fremdsprache, aber das wollen wir jetzt überhören.] Andere meinen, man brauche Grammatikkenntnisse, um in Zweifelsfällen die Bedeutung schwieriger Texte sicher zu ermitteln; das ist eine nicht unbegründete Auffassung. Ich möchte an einigen Beispielen zeigen, dass man Grammatikkenntnisse sogar im Leben verwenden kann.

Das möchte ich an der Modalität vorführen. Nun höre ich schon einige besorgte Eltern fragen: Um Gottes willen, das ist doch sicher nichts Unanständiges? Nein, ist es nicht; das ist nur ein schwieriges Wort für etwas, was wir täglich praktizieren: Dass jemand bei dem, was er sagt, auch noch deutlich macht, wie er das einschätzt, das nennen wir Modalität. Schon in den bisherigen 12 Zeilen finden Sie den Konjunktiv I („man müsse Grammatik lernen“), das Modalwort „einigermaßen“ und mehrere Modalverben (müssen, wollen, können).

Und wieso braucht man so etwas im richtigen Leben? Darauf gibt es mindestens zwei Antworten: 1. Man sollte schon mitkriegen, wie ein anderer etwas einschätzt: ob er es bedauert oder begrüßt, dass der Chef krank ist; ob er uns gern oder ungern etwas ausleiht – das zu bemerken ist wichtig. 2. Alle Gesetze, Vorschriften und Erlasse wimmeln von Ausdrücken der Modalität, mit denen uns gesagt wird, was wir zu tun und zu lassen haben. Wer sich da nicht auskennt, ist immer der Dumme; man kann ihm ein X für ein U vormachen.

Im Grammatikunterricht führt man die Ersatzprobe ein, um die Bedeutung einer Äußerung zu ermitteln. Man fragt also: Durch welche Wendung kann die fragliche Stelle ersetzt werden, ohne dass ihre Bedeutung sich ändert?

(1) Du brauchst heute den Spinat nicht zu essen.

Was heißt „brauchst (nicht)“? Was meint die Mutter?

(2) Ich verlange nicht, dass du heute den Spinat isst.

Obgleich die Infinitivwendung in einen dass-Satz umgeformt worden ist, ist die Bedeutung der Äußerung (1) die gleiche wie die von (2); wir haben das in der Ersatzprobe [Umformung von (1) in (2)] festgestellt. Der Lehrer ist zufrieden.

Der kluge Sohn hört freilich auch den Tonfall der Mutter; je nach dem Klang ihrer Stimme weiß er, ob die Äußerung wirklich auf einem Anfall mütterlicher Einsicht beruht oder eine stille Drohung darstellt:

(3) Wenn du den Spinat heute nicht isst, gibt es auch keine Süßigkeiten.

Um das herauszuhören, muss man natürlich nicht nur Deutsch, sondern vor allem seine Mutter und deren Tonfall kennen.

An einigen Bestimmungen der Allgemeinen Schulordnung des Landes NRW (ASchO) möchte ich zeigen, dass das Verständnis von Modalität lebenswichtig sein kann. Nehmen wir den Schluss von § 21 (1): „In einer Woche sollen nicht mehr als zwei Arbeiten, an einem Tag darf nur eine Arbeit geschrieben werden, soweit die Ausbildungs- und Prüfungsordnung nichts anderes bestimmt.“ Wie unterscheiden sich hier „sollen“ und „(nicht) dürfen“? Dass man in einer Kalenderwoche nur zwei Klassenarbeiten schreibt, ist für jüngere Schüler (Sek. I) ein gutes Recht; „sollen“ stellt also keinen Tipp für Lehrer dar, sondern eine ziemlich streng bindende Vorschrift. Aus diesem Grund hängt im Lehrerzimmer ein Plan, in dem die Klassenarbeiten eingetragen werden, sodass man für jede Klasse sehen kann, ob eine Woche schon „voll“ ist oder ob man noch seine Arbeit unterbringen kann. In der Sek. II ist das nicht zu machen, weil wegen der Freiheit der Kurswahl die Schüler sich so unglücklich über die Kurse verteilen, dass sie manchmal drei Klausuren in einer Woche schreiben müssen, wenn sie vor den Ferien damit fertig werden wollen. – Das Modalverb „sollen“ lässt hier also Ausnahmen zu, „dürfen“ aber nicht: An einem Tag darf nur eine Arbeit oder Klausur geschrieben werden; jeder Lehrer weiß, dass er gegen diese Vorschrift nicht verstoßen darf. Täte er es, würde die Arbeit sofort kassiert.

Als zweites Beispiel soll uns § 9 (1) dienen: „Ist ein Schüler durch Krankheit oder aus anderen nicht vorhersehbaren zwingenden Gründen verhindert, die Schule zu besuchen, so benachrichtigen die Erziehungsberechtigten die Schule spätestens am zweiten Unterrichtstag.“ Was hier wie die Beschreibung eines Vorgangs aussieht („so benachrichtigen die Erziehungsberechtigten…“), ist in Wahrheit eine Vorschrift: Sie haben zu benachrichtigen, sie müssen es tun; sonst gilt das Fehlen als nicht entschuldigt.

Woher weiß man nun, was die einzelnen Wendungen wirklich bedeuten? Oft reicht da die Kenntnis der deutschen Sprache, verbunden mit gesundem Menschenverstand, nicht aus; man muss wissen, wie diese Wendung von Richtern in Prozessen ausgelegt worden ist – wie sie im Zusammenhang anderer Gesetze und Erlasse (Grundgesetz, Schulmitwirkungsgesetz, Schulverwaltungsgesetz, Allgemeine Dienstordnung für Lehrer…) zu verstehen ist. Nur wer dieses Regelwerk und seine richterliche Auslegung kennt, kann die ASchO richtig verstehen – also die richtige Ersatzprobe vornehmen.

Das kann ein normaler Mensch nicht; deshalb kauft er sich einen Kommentar, den Juristen verfasst haben. Ein Jurist ist also jemand, der für Vorschriften und Erlasse die richtige Ersatzprobe kennt (oder herausfinden kann); und ein guter Jurist ist wohl jemand, der anderen seine Ersatzprobe als die einzig richtige „verkaufen“ kann.