erörtern, argumentieren – praktische Tipps (J. Soentgen)

Ich möchte hier auf ein flüssig geschriebenes Buch hinweisen, das zu lesen eine Freude ist:
Jens Soentgen: Selbstdenken! 20 Praktiken der Philosophie. Peter Hammer Verlag, 2003 (inzwischen auch als Taschenbuch)

Der Untertitel von den Praktiken zeigt an, dass es nicht um abstruse philosophische Theorien geht, sondern um das Handwerkszeug geistigen Arbeitens – primär des Erörterns (provozieren; aus Indizien Schlüsse ziehen; Beispiele bringen; Gedankenexeprimente machen; kombinieren usw.), aber auch einiger Vorarbeiten dazu (hinsehen; sammeln; warten).

Wenn man nach der ersten Begeisterung einmal schaut, was von Soentgens Buch „Selbstdenken!“ als Leitfaden fürs Argumentieren übrig bleibt, muss man einige Abstriche machen:

1. Als Mittel eines rein polemischen Streitens mit Gegnern, die einer rationalen Argumentation nicht fähig sind, möchte ich folgende Techniken festhalten:
provozieren
demontieren
parodieren
wiederholen
wie ein Orakel sprechen
große Gesten machen;
ich habe teilweise die Nomina in Verben umgewandelt, da im Verb bezeichnet wird, was man tut.

2. Wie man die übrigen einteilen soll, darüber könnte man streiten, weil es doch viele Überschneidungen und damit Doppelungen gibt:
a) reine Arbeitstechniken:
Autoritäten zitieren
präzisieren, definieren (nahe der b-Gruppe!)
im Bild sprechen
Gedankenexperimente machen (analog dem früheren Fabelerzählen)
umkehren (einen Anspruch auf den Sprecher selbst anwenden – in der Nähe der reinen Polemik)
kombinieren (viele Kombinationen durchspielen)
b) Methoden des Argumentierens, die der bewussten Kontrolle bedürfen bzw. ihr dienen:
* mit Fakten und Zitaten umgehen, Vergleiche und Kontraste einsetzen, Zusammenhänge herstellen
* aus Indizien Schlüsse ziehen
* hinsehen statt abschreiben
* Beispiele anführen, Gründe prüfen
* logisch denken, Logik prüfen
* nicht nur eine Ursache gelten lassen, mehrere suchen
* allgemein (also öfter): weiter als bisher umschrieben denken [N.T.]
c) Die Methode „warten“ ist eine Mahnung zur Geduld und kann als Warten auf den richtigen Einfall verstanden werden, aber auch als Mahnung zum Korrigieren und Überarbeiten eigener Entwürfe; die Methode „Material sammeln“ beschreibt die Vorarbeit des Argumentierens (das zweite meiner vier S: suchen, sammeln, sortieren, schreiben). Warten und Sammeln, das geschieht am Rande der Arbeitszeit.

3. Fazit:
Das Buch besticht mehr durch die lockere Schreibweise und die vielen Beispiele, als dass es eine systematische Anleitung zum kritischen Denken wäre. Es kann also den Geübten dazu anregen, die eigene Praxis zu überprüfen; dem Ungeübten kann es einige Tipps geben. Manche davon sind jedoch so allgemein, dass sie als trivial zu bezeichnen sind, etwa beim Umgang mit Indizien:
– „Es gibt meist mehrere Möglichkeiten, Indizien zu lesen.“ Klar, das steckt im Begriff der Indizien (index, nicht res!)!
– „Ein Indiz findet sich nur dann, wenn ein Beobachter danach sucht.“ Hier fehlt die Warnung, dass man beim Suchen manche Indizien erfindet – eine alte Erfahrung!
– „Gerade das Unscheinbare birgt oft interessante Indizien.“ Wenn das keine Weisheit ist!
Es gibt einige kleine Versehen, etwa dass ein Buch des Jahres 1702 nicht dem 18. Jahrhundert zugezählt wird; solche Versehen sind weiter nicht schlimm. Die Argumentation gegen Kants kategorischen Imperativ mit Gegenbeispielen ist platt und falsch, etwa die Idee, sein Geld zu sparen, statt auszugeben, oder der Hinweis auf die Tatsache, dass Kant nicht geheiratet hat. Solche Beispiele kommen für eine moralische Vorschrift überhaupt nicht in Frage; außerdem hat Kant nirgendwo gefordert, man solle nicht heiraten; sie können daher nicht Gegenbeispiele gegen den Kategorischen Imperativ sind – eine peinliche Panne.
Einen schwachen Scherz erlaubt der Autor sich, als er dem Prinzip des zureichenden Grundes das Prinzip des mehrfachen Grundes entgegensetzt – das gab’s 1. bereits bei Platon und verfehlt 2. die Pointe des kritisierten Prinzips, indem der Satzakzent willkürlich auf „einen“ (dann als Zahlwort statt als unbestimmter Artikel gelesen) statt auf „Grund“ gelegt wird (S. 211).
Auf den ersten Blick vermisse ich aus meinem Repertoire das Sortieren, also das Gliedern. Das philosophisch bedeutsame Unterscheiden kann man mehrfach angedeutet finden, auch wenn ihm kein eigenes Stichwort gewidmet ist.
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Interessant der Nachweis der Geschichte eines philosophisch-literarischen Motivs:
Umberto Ecos Gedanke, dass es unmöglich ist, die Welt ganz genau zu beschreiben, also eine Karte im Maßstab 1 : 1 anzulegen; denn ein von dieser Karte bedecktes Reich sei dadurch charakterisiert, dass es von der Karte bedeckt sei – ein Umstand, dem die Karte nicht Rechnung trage. „Das Reich wird im selben Moment, in dem man seine Karte erstellt, undarstellbar.“ (J. Soentgen, Selbstdenken!, 2003 S. 158).
Dieses Motiv stammt von Jorge L. Borges: Von der Strenge der Wissenschaft, in: Universalgeschichte der Niedertracht (S. 158 f.).
Mit Sicherheit habe Herrn Borges Lewis Carroll: Sylvie and Bruno concluded, als Vorlage gedient; dort gibt es einen Dialog zwischen Sylvie und dem deutschen Wissenschaftler „Mein Herr“; dieser „Mein Herr“ berichtet von einer Karte im Maßstab eins zu eins, die „wir“ zwar angefertigt, gegen deren Verwendung aber die Bauern protestiert hätten, weil sie das ganze Land bedecke und so das Sonnenlicht abhalte. „Deshalb benutzen wir jetzt das Land selbst, als seine eigene Karte, und ich versichere Dir, es funktioniert fast genauso gut!“ (Soentgen, S. 159)